Berliner Abgeordnetenhauswahl - Chaos mit Ansage

Das Chaos in Berliner Wahllokalen verdeutlicht einmal mehr das Versagen der Berliner Verwaltung. Die Landeswahlleiterin schließt personelle Konsequenzen nicht aus, schiebt den Schwarzen Peter allerdings den Bezirken zu. Eine umfassende Aufklärung muss schnell auf die Tagesordnung der neuen Landesregierung.

Landeswahlleiterin Petra Michaelis bei einer Pressekonferenz anlässlich der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am Vortag / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Lange Schlangen vor den Wahllokalen, in einigen noch mehrere Stunden nach der offiziellen Schließung, fehlende oder falschen Bezirken zugeordnete Stimmzettel. Das liest sich wie aus einem Bericht von OSZE-Wahlbeobachtern über Vorgänge bei Wahlen in Ländern mit unzureichend gefestigten demokratischen Strukturen. Doch abgespielt hat sich das am Sonntag in Berlin, der deutschen Hauptstadt.

Die ersten Reaktionen der für die Durchführung der Wahlen verantwortlichen Stellen folgen einem altbekannten Muster. Man wisse nicht, warum das passieren konnte, und außerdem sei die Herausforderung für einen reibungslosen Ablauf diesmal besonders hoch gewesen. Das ist zweifellos richtig. Für Verzögerungen in den Wahllokalen sorgten mehrere Faktoren: die Corona-bedingten Hygieneregeln und die Komplexität dieser Wahlen. Denn die Berliner waren aufgefordert, gleich sechs Kreuze zu machen, je zwei für die Erst- und Zweitstimmen bei den Wahlen zum Bundestag und dem Abgeordnetenhaus, eines für die Bezirksparlamente und ein weiteres für oder gegen den Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne.

Risiken sind bekannt

Dazu kam noch ein zeitlich stattfindendes Großereignis. Der Berlin-Marathon erschwerte in der Innenstadt nicht nur den Wählern den Weg zum Wahllokal, sondern auch Transportfahrzeugen, etwa für Stimmzettel. Und Warnungen vor möglichen Engpässen bei der Abwicklung der Wahl hatte es bereits zuvor gegeben. Wenige Tage vor dem Urnengang hatten sich mehrere hundert Wahlhelfer abgemeldet, meistens unter Verweis auf eine Erkrankung. Doch diese „Wahlgrippe“ hat eine Vorgeschichte.

Im Frühjahr hatten sich ungewöhnlich viele Freiwillige gemeldet. Viele davon, weil sie durch den Einsatz als Wahlhelfer in den Genuss einer schnellen Corona-Schutzimpfung gekommen waren, ohne zu einer Priorisierungsgruppe zu gehören. Doch nach erfolgter Impfung und der späteren Öffnung der Impfkampagne für alle nahm die Lust am freiwilligen Dienst für die Demokratie rapide ab. Da man sich nach erfolgter Anmeldung als Wahlhelfer nicht einfach wieder abmelden konnte, war die kurzfristig auftretende „Wahlgrippe“ die naheliegende Lösung für sanktionsfreien Rückzug.

Hektisches Kontaktieren von „Reservisten“

Noch am Wochenende schalteten die Berliner Wahlämter daher Hotlines, um kurzfristig dringend benötigte Wahlhelfer zu rekrutieren, und hektisch wurden die registrierten „Reservisten“ kontaktiert. Ob und welche Rolle diese Engpässe bei der Durchführung der Wahl gespielt haben, ist derzeit unklar, für entsprechende Anfragen war am Montag beim Büro der Landeswahlleiterin Petra Michaelis niemand zu erreichen. Doch alle Risiken für eine reibungslose Wahlabwicklung waren bereits lange vor der Wahl bekannt.

Dass am Sonntag einiges schief gegangen ist, räumte aber auch die Behördenchefin ein und schloss mögliche personelle Konsequenzen nicht aus. Am Montag schoben sie und ihr Geschäftsstellenleiter Geert Baasen den Schwarzen Peter allerdings den Bezirken zu. Es hätte genügend Stimmzettel gegeben, aber „wo sie gelegen haben und wie sie verteilt wurden, das kann ich Ihnen nicht sagen“, das sei Sache der Bezirkswahlämter, sagte Michaelis bei einer Pressekonferenz. Und Baasen ergänzte, man habe keine Kenntnis, wann genau die Wahlzettel an die einzelnen Wahllokale verteilt worden seien. Auch der Bundeswahlleiter is not amused über die Berliner Pannen und forderte noch in der Wahlnacht einen detaillierten Bericht an.

Pannen tangieren das Wahlrecht

Umfassende Aufklärung fordern auch alle Berliner Parteien, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im nächsten Abgeordnetenhaus ist nicht auszuschließen. Zumal es ja nicht nur um ärgerliche, mit ein paar Unannehmlichkeiten verbundene Verwaltungspannen geht. Sondern um die Grundsätze einer freien, geheimen, unbeeinflussten, demokratischen Wahl. Dazu gehört, dass am Wahltag vor Schließung der Wahllokale keine Prognosen oder gar Hochrechnungen aufgrund von Nachwahlbefragungen oder Teilauszählungen veröffentlicht werden dürfen.

Doch genau das war an diesem Berliner Wahlsonntag nicht mehr gewährleistet, denn viele in der Schlange stehenden Wähler nutzten nach Augenzeugenberichten die Wartezeit, um sich über die ersten Prognosen und Hochrechnungen auf ihrem Smartphone zu informieren, was die dann gefällte Wahlentscheidung möglicherweise beeinflusste. Auch ist derzeit nicht sicher verifizierbar, ob tatsächlich garantiert werden konnte, dass nur Menschen, die sich spätestens um Punkt 18 Uhr in der Schlange befanden, noch wählen durften.

Trotz dieser eindeutigen Verstöße kann dennoch wohl nicht die Rede davon sein, dass es durch diese Unregelmäßigkeiten zu nennenswerten Verzerrungen der Wahlergebnisse gekommen sein könnte. Stoff für Wahlanfechtungen könnten sie dennoch sein. Aber vor allem ist der teilweise chaotische Berliner Wahlsonntag ein erneutes Armutszeugnis für die Berliner Verwaltung, deren umfassende Reorganisation eine der wichtigsten Aufgaben der künftigen Landesregierung sein sollte – egal, welche Parteien sie stellen werden.

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