Wie Berlins Senat den Infektionsschutz aushebelt - Virus, welches Virus?

In Berlin strömen Tausende Menschen bei schönem Wetter in die Parks. Weil der Senat seine Verordnung zur Eindämmung der Coronakrise immer mehr gelockert hat, kann die Polizei kaum noch kontrollieren. Es wächst die Angst vor dem 1. Mai und einem zweiten Lockdown.

Weil sich die Regeln in Berlin ständig ändern, weiß kaum einer, was erlaubt ist / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

So erreichen Sie Antje Hildebrandt:

Anzeige

Berlin, wolkenloser Himmel, 21 Grad. Die halbe Stadt, so scheint es, hat sich einen Platz an der Sonne im Treptower Park gesucht. Warnungen vor einem Virus oder Forderungen nach dem Mindestabstand verhallen hier ungehört.   

„Wir sind jung, von uns ist keiner infiziert“, sagt ein Mittzwanziger mit Basecap, der mit zwei Dutzend Leuten eine Party feiert. Sein Kumpel Joao wird heute 29. Eine gute Gelegenheit, mal wieder alle Freunde zusammenzutrommeln. Weinflaschen kreisen, Drum & Bass dröhnt aus einer Boombox, Männer und Frauen liegen sich in den Armen. Es ist ein Bild wie aus einer längst vergangenen Zeit. War das nicht irgendwas? 

Verstöße gegen die Kontaktsperre werden nicht mehr kontrolliert  

In Berlin gilt der Treptower Park als das Mekka der Party-People und Sonnenanbeter. Aber auch Familien mit Kindern flanieren dicht an dicht am Ufer der Spree vorbei an Ausflugsschiffen, die „Sanssouci“ heißen oder „Belvedere“. 

Die Schiffe dürfen derzeit nicht fahren. Wie sollte man an Bord den Sicherheitsabstand einhalten? Aber um den schert sich sowieso kaum einer, nicht hier, aber auch nicht an den übrigen Hot Spots hin der Stadt. Warum sollte man auch? Mit Strafanzeigen der Polizei wegen des Verstoßes gegen die Kontaktsperre muss in Berlin keiner mehr rechnen. „So etwas kann kaum kontrolliert werden“, sagt der Pressesprecher der Polizeigewerkschaft Berlin, Benjamin Jendro.  

Schlupflöcher vom Shutdown  

Jendro ist frustriert. Anders als Bayern oder Baden-Württemberg hatte Berlin den Shutdown nie konsequent verhängt. In einer Verordnung zur Eindämmung des Corona-Virus hatte der Senat den Bürgern ein Schlupfloch gelassen. 

Im Kreise ihrer Angehörigen durften sie sich auch draußen frei bewegen, als der Rest der Republik schon Stubenarrest hatte, mit „haushaltsfremden Personen“ höchstens zu zweit. Voraussetzung war, dass man sich ausweisen konnte. Wer zu dritt nebeneinander auf der Parkbank saß, musste mit einem Bußgeld zwischen 25 und 500 Euro rechnen. Bis zu 350 Beamte waren nur dafür abgestellt.   

%paywall%

Polizei spricht von einem „schlechten Aprilscherz“ 

Weil Linke und Grüne solche Regeln als unzulässigen Eingriff in die Grundrechte werteten, fiel die Ausweispflicht Anfang April weg. Die Polizei stellte das vor eine unlösbare Aufgabe. „Sie kann doch nicht jeden nach Hause begleiten, um zu kontrollieren, ob er gegen das Kontaktverbot verstoßen hat“, sagt Jendro.  

Von einem „schlechten Aprilscherz“ des Senats sprach der Landesvorsitzende der Polizeigewerkschaft, Bodo Pfalzgraf: „Langwierige Identitätsfeststellungen und Rätselaufgaben von Verweigerern passen nicht in eine Krisensituation, in der Ansteckungswege schnell zurückverfolgt werden müssen.“

Sonnenbaden mit Segen des Senats 

Bislang liegt Berlin zwar mit 5.459 registrierten Infizierten und 112 Toten bundesweit im Durchschnitt. Und offiziell hat Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) zwar gerade davor gewarnt, die Pandemie auf die leichte Schulter zu nehmen. „Es ist keinesfalls eine Situation da, wo man sagen kann: Allgemeine Entwarnung." Trotzdem hat der Senat die Verordnung schon zum vierten Mal gelockert. Familien dürfen jetzt ganz offiziell und ohne zeitliche Beschränkung auf Decken im Park verweilen. Auch „Zusammenkünfte im privaten oder familiären Bereich von bis zu 20 Personen“ sind ausnahmsweise erlaubt, „sofern diese aus zwingenden Gründen erforderlich sind.“ Aber was heißt in Berlin schon „zwingend“? 

Bei der Polizeigewerkschaft kommt man aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Kaum jemand weiß noch, was erlaubt ist oder nicht. Und diese Unsicherheit nutzen Menschen aus, die den Zweck der Ausgangsbeschränkungen nicht verstanden haben – oder die einfach darauf pfeifen.

Geburtstagsparty im Treptower Park  

Im Treptower Park, auf der Grenze zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, ist ihr Anteil offenbar überproportional hoch. „Wer bleibt denn bei dem schönen Wetter freiwillig zu Hause?“, fragt Manuel, 25, aus dem italienischen Salerno. Er ist vor einem Jahr als Tourist in einem Hostel in Berlin „hängengeblieben“. Heute arbeitet er dort als Rezeptionist. 

Jetzt ist das Hostel geschlossen, und Manuel hat endlich Zeit, um das zu tun, wofür er eigentlich nach Berlin gekommen ist – feiern. „Ich bin auf Kurzarbeit.“ Er steht mit Joao und den anderen Geburtstagsgästen im Park und zieht an seinem Zigarillo.

„Polizisten machen auch nur ihren Job“ 

Er sagt, er möge sich lieber nicht vorstellen, wie es ihm ginge, wenn er jetzt in Italien zu Hause versauern müsse. Klar, mache er sich Sorgen um seine 90-jährige Oma und seinen Bruder, der seinen Kopf jeden Tag als Polizist herhalten müsse. Aber Italien ist weit weg – und das Virus scheinbar auch. Für Manuel ist Berlin nicht nur die „Hauptstadt der Jungen“, sondern auch „Corona-freie Zone“. 

Manuel sagt, er sei von der Polizei schon wer-weiß-wieviele-Male aus Parks verwiesen worden, weil er dort mit seinen Freunden abgehangen habe. Stress, nein, Stress habe es nie gegeben. „Das sind alles coole Jungs. Die haben gesagt, es täte ihnen Leid. Sie machten doch auch nur ihren Job.“ 

Die Angst vor dem 1. Mai   

Aus Sicht der Polizeigewerkschaft stellt sich das freilich anders dar. „Wenn der Senat keine klaren Anweisungen gibt, wird sich die Polizei auf keine Spielchen einlassen“, sagt Benjamin Jendro. Mit Schrecken erinnert er sich noch an den Vorfall auf dem Boxhagener Platz, genannt „Boxi“. 150 Leute hatten sich in der Grünanlage getroffen. Lautsprecherdurchsagen der Polizei wurden ignoriert. „Am Ende mussten wir den Platz räumen und absperren“, sagt Jendro. Er galt danach als „Tatort“. 

Mit Sorge sehen die Polizisten jetzt dem 1. Mai entgegen – dem Tag, an dem Berlin schon traditionell zum Schauplatz für Krawalle und gewalttätige Ausschreitungen wird. Hat der Senat mit der Öffnungsklausel für kleine Zusammenkünfte jetzt nicht auch noch ein Schlupfloch für die übliche Randale geschaffen? Jendro mag den Teufel lieber noch nicht an die Wand malen. „Am 1. Mai werden dann wahrscheinlich an jeder Straßenecke 20 Leute stehen und darauf beharren, dass die Versammlung zwingend sei“, prophezeit er. 

Kein Beitrag zur Eindämmung des Infektionsrisikos 

Noch mehr Sorge bereitet ihm die Frage, was passiert, wenn die Berliner in vierzehn Tagen die Quittung dafür bekommen, dass sie die Warnungen der Virologen in den Wind geschlagen und das Bad in der Menge genommen haben – mit freundlicher Unterstützung des Senats. Jendro sagt: „Auch wenn in einem Park 500 Leute liegen und fünf Meter Abstand zwischen den Decken halten, befinden sich immer noch 500 Leute auf engstem Raum.“ Einen Beitrag zur Eindämmung des Infektionsrisikos leisteten sie damit nicht. 

Im Gegenteil. Der Epidemiologe und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach rechnet damit, dass die Infektionsrate in den nächsten Wochen wegen solcher Verstöße wieder steigt. „Wir könnten sogar in ein exponentielles Wachstum zurückkommen“, sagt er Cicero. Die Politik dürfe jetzt „keine gemischten Signale“ geben. Sie müsse kommunizieren, dass Deutschland bislang einfach Glück gehabt hätte und dieses Glück nicht leichtfertig wieder verspielen dürfe. Ein zweiter Lockdown wäre sonst die unausweichliche Konsequenz.  

Für die Polizeigewerkschaft wäre das der Albtraum. Benjamin Jendro sagt, er möge sich nicht vorstellen, wie die Bürger dann auf Zurechtweisungen der Polizei reagierten.

Anzeige