Der 1. Mai in Kreuzberg - „Wie das Baumblütenfest, bloß ohne Baumblüte“

Weil die „Revolutionäre 1. Mai-Demo“ in diesem Jahr in Berlin ausfiel, hatten Linksextreme spontane Randale angekündigt. Die Polizei machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Tausende Schaulustige waren die Verlierer – im doppelten Sinne.

Harte Kante: Die Polizei verhinderte, dass Linksextreme in Kreuzberg randalierten / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

So erreichen Sie Antje Hildebrandt:

Anzeige

„Ja, wo laufen sie denn?“ Ratlos steht eine Gruppe Mittzwanziger aus Brandenburg vor einem Hähnchen-Imbiss  in Berlin-Kreuzberg und reckt die Hälse. In ihren Gesichtern spiegelt sich Enttäuschung. Keine Punks. Nur Polizei. Und Schaulustige, viele Schaulustige. 

Es ist der 1. Mai, der erste 1. Mai ohne MyFest und ohne Revolutionäre 1.Mai-Demo. So hat es der Senat entschieden. Keine Randale, kein Viren-Geschleuder, keine Ausnahme vom Corona-Ausnahmezustand. Aber Berlin wäre nicht Berlin, wenn es sich daran halten würde. 

Linksautonome gegen Bullen 

Im Internet hatten Linksautome angekündigt, sie ließen sich das Recht zu demonstrieren von der Coronakratie nicht nehmen: „Für grenzenlose Solidarität  gegen Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat.“ Im Bezirk Kreuzberg 36, dort, wo sonst jedes Jahr das 1. Myfest gefeiert wird, werde auch in diesem Jahr Party gemacht – mit Böllern, Feuerwerk und spontanen Aufmärschen kleiner Gruppen. „Wenn es Absperrungen der Polizei gibt, versuchen wir diese zu umgehen, zu umfließen oder darum herum zu wuseln.“ 

Um 18 Uhr sollte sie losgehen, die Partie „Linksautonome gegen Bullen“. Doch jetzt ist es schon 18.30 Uhr, ein Polizeihubschrauber klebt wie eine dicke Hummel am Himmel über Kreuzberg. Tausende Schaulustige säumen die Bürgersteige. Jugendliche Party-People, rauschebärtige Alt-Kreuzberger, viele Fotografen. Aber wo bleiben die Hauptdarsteller?

„Voll langweilig hier“ 

Die Polizei ist schon da. Es sind beinahe so viele Beamte wie in früheren Jahren, als am 1. Mai noch Steine flogen oder Autos abgefackelt wurden. Sage und schreibe 5.000 sind es in der ganzen Stadt. Sie kontrollieren Eingänge zu Parks und beliebten Treffpunkten der linksextremen Szene, die dieses absurde Theater aus ihrer Zentrale in einem besetzten Haus in der Rigaer Straße in Friedrichshain choreographiert.  

Und jetzt hat sich eine Hundertschaft breitbeinig am Görlitzer Bahnhof postiert, um den Zugang zur „O“ zu versperren, wie die Oranienstraße im Volksmund heißt. Von den Randalierern aber fehlt jede Spur. Und die Jugendlichen aus Brandenburg werden langsam ungeduldig. „Voll langweilig hier“, murrt einer und holt sich noch eine Flasche Bier. „Es ist wie das Baumblütenfest, bloß ohne Baumblüte.“

Schaulustige schauten in die Röhre / Antje Hildebrandt 

 

Figuren wie aus einem Seyfried-Comic  

Geisterspiele, so nennt man im Fußball Spiele, die zwar vor leeren Rängen stattfinden, aber per Kamera in die Wohnzimmer übertragen werden. Beim 1. Mai in Berlin ist es umgekehrt. Besucher sind da, aber eine Mannschaft fehlt. Oder haben sich die Linksextremen unter die Schaulustigen gemischt und warten bloß auf den richtigen Moment, um den Polizisten in den Rücken zu fallen? 

Der einzige Mann, der so aussieht, wie sich Zugereiste einen Punk vorstellen, trägt DocMartens, Dreiviertelhose und das feuerrot gefärbte Resthaar einmal quer über den Kopf gekämmt. Er sieht aus wie eine jener Figuren, die Gerhard Seyfried, der Lieblingskarikaturist der Hausbesetzer und Liegeradfahrer, in seinen Berlin-Comis ein Denkmal gesetzt hat. Und er redet auch so. „Ich weiß auch nicht, was hier heute noch passiert“, nuschelt er. Aber wer, wenn nicht er, könnte das vielleicht wissen? Der Mann guckt einen an, als hätte man ihn dabei ertappt, wie er unauffällig „Fuck the Police!“ an eine Hauswand gesprüht hat. Er lächelt gequält. „Könnten wir bitte das Thema wechseln?“ 

Warten auf den Höhepunkt  

Lautes Tatü-Tata zieht die Aufmerksamkeit der Schaulustigen an. Ein Rettungswagen biegt mit Blaulicht um die Ecke. Normalerweise interessiert das in Kreuzberg keinen. Aber in diesem absurden Theater, in dem alle auf die Hauptfigur warten, wird jede Banalität zum Höhepunkt.Der Böller, den irgendjemand plötzlich von der Hochbrücke des Görlitzer Bahnhofs geworfen hat. Die beiden schwarzgekleideten Männer, die  „Nazischweine!“ brüllen, weil zwei Polizisten ihnen die Arme auf den Rücken drehen, als sie versuchen, durch den Riegel aus Beamten in Richtung Wiener Straße zu brechen. 

Oder Bulut und Ekrem, zwei spindeldürre Jungs, denen die Hosenböden in den Kniekehlen hängen. „Die haben uns unsere Party geklaut“, rufen sie und schauen dabei auf die Polizisten, die noch immer breitbeinig auf der Oranienburger Straße stehen.Die Anwesenheit der vielen Kameras ermutigt sie, diesen Satz mehrmals zu wiederholen und jedesmal ein bisschen mehr auszuschmücken. Sie fuchteln dabei mit den Armen wie zwei Rapper. „Könnt Ihr das bitte nochmal machen?“, fragt ein Kameramann. Die Not ist groß an diesem Tag. Er braucht Bilder. Welche, ist irgendwann egal. 

Keine besonderen Vorkommnisse 

Ein paar Straßen weiter posiert Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) in Anzug und Krawatte vor einer Kamera der „Abendschau“. Die „Abendschau“ ist die Tagesschau des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb). Eine Pflichtveranstaltung für alle, die wissen wollen, was man Tag passiert ist. An diesem 1. Mai ist der Nachrichtengehalt überschaubar.

27 Versammlungen mit bis zu 20 Teilnehmern waren genehmigt worden. Keine besonderen Vorkommnisse – nur vereinzelte Angriffe auf Beamte. Brenzlig war es nur am frühen Nachmittag in Mitte geworden, als die Polizei eine nicht-angemeldete Demo am Rosa-Luxemburg-Platz auflösen und Teilnehmer wegtragen musste. Ein Kamerateam der satirischen heute-show (ZDF) wurde dabei von schwarz gekleideten Demonstranten krankenhausreif geschlagen

„Der 1. Mai darf nicht zum Ischgl Berlins werden“ 

„Erstaunlich viele Leute in Kreuzberg, einiges an Chaos, aber auch noch Luft nach oben“, diese Bilanz zogen die Veranstalter in diesem Jahr auf dem linksextremen Internetportal Indymedia. So richtig zufrieden klangen sie nicht. Aber dazu gab es ja auch keinen Grund. Viel Lärm um nichts? „Der 1. Mai darf nicht das Ischgl Berlins werden“, hatte Berlins Innensenator Andreas Geisel vorher in einem Interview mit dem Spiegel gesagt. Jetzt muss er eingestehen, dass er sich mehr über die „geballte Unvernunft“ der Schaulustigen als über die Linksextremen ärgert. Kaum einer hielt den Sicherheitsabstand ein, und falls Masken getragen wurden, fielen viele nach dem ersten Bier. Geisel fehlen die Worte. Er schnappt hörbar nach Luft.

Man ahnt, was er lieber nicht laut aussprechen will. Ein ganz schön hoher Preis für so ein Geisterspiel. 

Anzeige