Ausrichtung der SPD - Schmerzfrei geht es nicht

Andrea Nahles ist zur SPD-Vorsitzenden gewählt worden und kann jetzt loslegen mit der großen Aufgabe: der Erneuerung der Partei. Wie die gelingen kann, beschreibt der frühere SPD-Innenminister Otto Schily in der aktuellen Cicero-Ausgabe

Erschienen in Ausgabe
„Die SPD muss sich jetzt auffrischen, um nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken“ / picture alliance
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Otto Schily ist Politiker und Jurist. Er war Anwalt verschiedener RAF-Terroristen und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Grünen. 1989 wechselte er zur SPD. Von 1998 bis 2005 war er Innenminister der rot-grünen Bundesregierung. Foto: Antje Berghäuser

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Die Sozialdemokratie steckt europaweit in einer Existenzkrise. In Frankreich, Spanien, Holland, Griechenland und Italien sind die sozialdemokratischen Parteien deutlich geschwächt, in einigen Ländern sind sie sogar auf marginale Größen herabgesunken. Auch die SPD muss sich eingestehen, dass die Wahlergebnisse des vergangenen Jahres auf ein äußerst bedrohliches Niveau gesunken sind. Sicherlich ist die SPD immer noch die mitgliederstärkste Partei in Deutschland. Sie kann sich sogar über einen erstaunlichen Mitgliederzuwachs freuen. In sieben Bundesländern ist sie die führende Regierungspartei und in vielen Gemeinden und Städten, besonders in den Großstädten, kommunalpolitisch sehr erfolgreich. Nach einigem Hin und Her und nach ziemlich selbstquälerischen Debatten schickt sie sich nun an, in einer Neuauflage der Großen Koalition ihre Regierungsarbeit fortzusetzen.

Es muss die SPD aber tief beunruhigen, dass sie in einigen Bundesländern nicht einmal mehr die zweitstärkste Partei ist. Dass sie im Bundestrend auf Werte abgerutscht ist, die sie nur noch um wenige Punkte von der AfD, den Grünen oder den Linken trennen. Der SPD stellt sich also die dringliche Frage, wie sie beim Wahlvolk wieder mehr Zuspruch erreichen kann. Die Antwort kann nur heißen: Die Partei bedarf einer grundlegenden programmatischen und personellen Erneuerung. Ob sie sich dazu aufraffen kann, bleibt einstweilen unklar. Wenn die Erneuerung im Wesentlichen in einer schärferen Abgrenzung gegenüber CDU und CSU bestehen soll, ist diese im Rahmen einer Regierungszusammenarbeit erfahrungsgemäß schwieriger. Unmöglich bleibt ein Erneuerungsprozess nicht, wenn er in einer langfristigen Orientierung inhaltlich bestimmt wird.

Eigentum schafft Freiheitsraum und soziale Sicherheit

Wenn sich die SPD trotz Großer Koalition einen Raum für eine selbstkritische Überprüfung ihrer Positionen und zugleich für die Entwicklung neuer Perspektiven schafft, wäre ein wesentlicher Teil der Erneuerung bereits erreicht. Schmerzfrei kann ein solcher Erneuerungsprozess freilich nicht sein, denn er verlangt auch die Bereitschaft, sich einzugestehen, dass bestimmte politische Vorhaben, die man selbst zu verantworten hat, verunglückt sind und nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt haben. Bekanntermaßen ist die von Gerhard Schröder mutig durchgesetzte Agenda 2010 aus der Einsicht entstanden, dass die bisherige Politik ungeachtet eines enormen Finanzaufwands nicht zu den angestrebten wirtschaftlichen und sozialen Ergebnissen geführt hatte.

Käme eine solche Selbstprüfung in Gang, könnte die SPD wieder ein eigenständiges Profil gewinnen – nachdem sie sich in den vergangenen Jahren partiell zu sehr an die Grünen oder an die Linke angelehnt, aber sich auch auf falsche Kompromisse mit der Union eingelassen hat. Zudem gibt es ein Grundgefühl in der Gesellschaft, dass der SPD eigentlich nie etwas anderes einfalle als neue Gesetze und neue Steuern.

Als Allererstes müsste sich die SPD die Frage stellen, ob ihr Politikangebot noch einen Erwartungshorizont bietet, der vor allem für junge Menschen attraktiv ist. Will die SPD wieder einen größeren Teil der Gesellschaft erreichen, dann muss sie sich darauf besinnen, dass Eigentum für den einzelnen Menschen einen Freiheitsraum schafft und ihm zugleich soziale Sicherheit bietet. Wo sind aber die Initiativen der SPD, die niedrigen Zinsen auch für Wohneigentumsbildung für mittlere und untere Einkommensschichten zu nutzen? Warum macht sich die SPD nicht den Vorschlag zahlreicher bedeutender Firmen zu eigen, die Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmensvermögen steuerlich zu fördern? Es ist schließlich sinnvoller, Menschen zu beeignen anstatt mittels einer Vermögenssteuer erfolgreiche mittelständische Unternehmer zugunsten des Staates zu enteignen.

Neuorientierung in der desaströsen Energiewende

Die SPD könnte die Menschen auch damit überraschen, dass sie nicht nur widerstrebend geringe Steuererleichterungen akzeptiert, sondern proaktiv deutliche Steuerentlastungen für kleine und mittlere Einkommen sowie für den Mittelstand herbeiführt, selbstverständlich ohne dass damit die notwendigen Aufwendungen des Staates etwa für die Sicherheit oder die Infrastruktur eingeschränkt würden. Noch größer wäre die Überraschung, wenn die SPD ein durchdachtes Programm entwickeln könnte, wie überhöhte Staatsausgaben vermieden und überflüssige staatliche Einrichtungen abgeschafft werden könnten.

An großen Themen für die notwendige Selbstprüfung fehlt es auch darüber hinaus nicht. Dazu gehört eine Neubestimmung der Migrationspolitik, die so ausgestaltet werden muss, dass das Freiwilligkeitsprinzip der Hilfeleistung für Schutzsuchende einerseits und die Flexibilität der Aufenthaltsgestattung für Arbeitskräfte andererseits gewährleistet sind. Vorauszugehen hätte einer solchen Neubestimmung eine transparente, kritische Bestandsaufnahme der bisherigen Migrationspolitik.

Mindestens ebenso wichtig sind eine Neuorientierung der Energiepolitik und eine ehrliche Bilanz der zuallererst von Angela Merkel verschuldeten desaströsen Energiewende. Die Energiewende ist allein beim EEG mit einem aberwitzigen finanziellen Aufwand in einem Volumen von nahezu 800 Milliarden Euro verbunden, sie schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland, weil die Industrie hierzulande inzwischen mit den höchsten Stromkosten in Europa belastet wird. Sie ist auch deshalb wirtschaftlich unsinnig, weil ungeachtet des sündhaft teuren und hoch subventionierten Ausbaus von Wind- und Fotovoltaikanlagen gleichwohl die Stromerzeugungskapazität konventioneller Kraftwerke aufrechterhalten bleiben muss, um die Stabilität des Stromnetzes zu garantieren. Sie leistet so gut wie keinen Beitrag zur Minderung des CO2-Ausstoßes, sie zerstört mit dem weitflächigen Ausbau von Windkraftanlagen traditionelle Kulturlandschaften und führt zu Verheerungen in der Tierwelt.

Die Energiewende widerspricht zudem allen sozialen Grundsätzen, sie ist eine verantwortungslose Umverteilung in riesigen Größenordnungen von unten nach oben, das heißt, die Rentnerin in Gelsenkirchen und der Arbeitslose in Magdeburg müssen mit ihren hohen Stromkosten das Solardach eines Anwalts in Starnberg zahlen oder die Rendite aufbringen, die ein Grundstückseigentümer in Nordfriesland für die Aufstellung eines Windrads erhält. Mit einer gründlichen Aufarbeitung der Fehler der merkelschen Energiewende könnte die SPD wieder wirtschaftliche, soziale und ökologische Kompetenz gleichermaßen beweisen.

Für die Bildungspolitik reicht ein schmaler Etat nicht aus

Es wäre viel gewonnen, wenn die SPD ihre politischen Vorstellungen insgesamt wieder stärker auf die Förderung von Eigenverantwortung und Eigeninitiative ausrichten würde. Ein lohnendes Feld dafür wäre beispielsweise die Gesundheitspolitik. Es ist sehr zu bedauern, dass die SPD den Solidargemeinschaften kein Gehör schenkt, die sehr erfolgreich ein gemeinschaftliches und eigenverantwortliches Modell zur Absicherung im Krankheitsfall praktizieren. Die Solidargemeinschaften sind horizontal organisiert und nicht hierarchisch, wie die gesetzlichen Krankenkassen, und sie bieten eine sehr flexible Versorgung, die durch den Dialog innerhalb der Gemeinschaften sowohl in medizinischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht ständig optimiert wird. Da die Solidargemeinschaften anders als die privaten Krankenkassen in die Krankheitskosten nicht zusätzlich die Dividenden der privaten Versicherungsunternehmen einrechnen müssen, können sie mit sehr moderaten Mitgliedsbeiträgen auskommen.

Die wichtigste Aufgabe aber, der sich die SPD in Zukunft verstärkt widmen sollte, ist die Bildungspolitik. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, reicht ein relativ schmaler Etat nicht aus. Anstatt mit bis zu 30 Milliarden Euro jahraus, jahrein eine verfehlte Energiewende zu subventionieren, sollten diese Beträge in ein wirklich ambitioniertes Bildungsprogramm investiert werden mit einer anspruchsvollen Ausstattung der Schulen und Hochschulen sowie großzügigen Gehältern für die Lehrkräfte. Ein solches inhaltlich und finanziell weitgespanntes Bildungsprogramm sollte sich die Entwicklung der Jugendlichen zu freiheitlichem und kreativem Denken zum Ziel setzen. Ein Denken, das sie zum souveränen Umgang mit moderner Technik befähigt, sie dieser Technik aber nicht unterwirft.

Bietet die SPD unter all den nur unvollständig genannten Gesichtspunkten wieder ein interessantes und dialogoffenes Forum, wird sie zugleich Vertrauen für die aus diesen Diskussionsprozessen hervorgehenden politischen Entscheidungen und neuen Zuspruch bei den Wahlen gewinnen. Es entstünde sogar wieder eine neue sozialliberale Machtperspektive. Die SPD ist und bleibt seit mehr als 150 Jahren die verlässlichste Stütze der Demokratie in Deutschland. Dass sie sich auffrischt und ihre Krise überwindet, sollte unser aller Wunsch und unsere Hoffnung sein, nicht zuletzt im Blick auf die zunehmende Gefahr des Rechtsextremismus in Europa.

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.







 

 

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