Arzneimittel-Lieferengpässe - Es gibt enge und weite Pässe

In Deutschland werden die Arzneimittel knapp. Vor allem Antibiotika für Kinder sind kaum noch zu bekommen. Gesundheitsminister Lauterbach versprach bereits im Dezember über eine Erhöhung der Preise im Generika-Bereich Abhilfe. Das ist publikumswirksam, aber kontraproduktiv. Und viel passiert ist seither ohnehin nicht.

Lauterbach gibt in der Weihnachtszeit mit seiner Fiebersaft-Initiative den St. Nikolaus / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).

So erreichen Sie Matthias Schrappe:

Anzeige

Seit Jahren verschärft sich ein Problem in der Arzneimittelversorgung, das in Deutschland – international der wichtigste Pharma-Referenzmarkt – bis vor kurzem kaum ein Rolle spielte: Wichtige Arzneimittel sind nicht mehr verfügbar. Doch der Schein trügt, das Problem begann nicht beim Fiebersaft für wadenwickelaverse Kleinkinder. Sondern in den Tropen, ungefähr vor zehn Jahren, als es zu einem Monopol für das Malariamittel Pyrimethamin gekommen war und der Monopolist den Preis dieses alten, patentfreien Medikamentes von einem Tag auf den anderen um den Faktor 50 vervielfachte.

Wie ein Tropfen Öl auf dem Wasser zog dieser Fall seine Kreise, bis dann ein zweiter Tropfen aufschlug, nämlich die hochpreisigen Medikamente, besonders aus der Krebsmedizin. Die extremen Kosten standen oft in krassem Gegensatz zum marginalen Nutzen für die Verlängerung der Lebenszeit, spielten aber als Projektion für Patienten und Ärzte eine enorme Rolle („man kann noch etwas tun“). Doch damit nicht genug (darum geht es heute), der dritte Tropfen entstammt wieder dem Markt der „alten Moleküle“ (Pharma-Sprech), patentfrei, hohe Verschreibungshäufigkeit, wichtig in der Breitenversorgung. Das Krebsmittel Tamoxifen zur Behandlung von Brustkrebs ist eines der bekanntesten Beispiele, plötzlich war es nicht mehr zu haben – und Alternativpräparate waren ebenfalls Mangelware.

Um diese Entwicklung verstehen zu können, muss man sich den Pharma-Markt etwas genauer anschauen. Erstens gibt es nicht „den“ Pharma-Markt, sondern es handelt sich um eine unüberschaubare Anzahl von Einzelmärkten, sozusagen für jede Krankheit (jede Indikation) einen Markt. Natürlich können Medikamente auf mehreren Märkten präsent sein, aber Angebot und Nachfrage spielen ihr Spiel separat auf dem Feld jeder einzelnen Diagnose. Es ist also nicht nur von Ökonomie die Rede, sondern von sehr viel, unübersehbar viel davon. Zusätzlich muss man noch das innovationsnahe Segment abgrenzen von „den Märkten“ der patentfreien Präparate. Diese nämlich, auch als Generika bezeichnet, bilden sozusagen die „Holzklasse“ des Pharmageschäftes, charakterisiert durch Monopolisierung und Globalisierung. Deren internationale, oligopole Herstellungs- und Vertriebsstrukturen sind der nationalen Regulation oft nur schwer zugänglich.

Erstmals ist die Breite der Versorgung betroffen

Das alles ist ein Klassiker für die unsichtbare Hand des Marktes, könnte man folgern. Stimmt sicherlich, hier ist sehr viel Koordination und Abstimmung vonnöten, allerdings kommt es durch den ungeheuren Segmentierungsgrad vielerorts zu unübersehbaren Fehlentwicklungen. Die Preisbildung stottert sozusagen, z.B. wenn die Indikation eines Medikamentes um eine andere Indikation erweitert wird und seinen Preis dahin „mitnimmt“ (oder einen anderen Preis „annimmt“). Eine besondere Rolle spielen die innovativen Medikamenten, die 20 Jahre Patentschutz und somit alle Freiheit vor Konkurrenz- und Nachahmerprodukten genießen, von transparenter Preisbildung hier keine Spur.

Man kann die Geschichte der „drei Tropfen“ also so erzählen: Es begann mit Medikamenten, die ganz in der Ferne bei Erkrankungen eine Rolle spielen, für die es keinen zahlungsbereiten Markt gibt (z.B. Tropenkrankheiten, deren Häufigkeit man gewiss nicht unterschätzen darf …). Relevant für die Industrieländer wurden die „Lieferengpässe“ allerdings bei den extrem hochpreisigen Innovationen, wenngleich auch hier meist für seltene Erkrankungen. Zwar begann man gesundheitspolitisch auch bei uns, sich um diese „Orphan diseases“ zu kümmern, aber es betraf nicht die Breite der Versorgung. Dies war beim dritten Tropfen anders, denn der Mangel an Fiebersaft bringt die Globalisierungseffekte ganz nahe an uns heran, das Problem ist uns jetzt sehr gegenwärtig und bringt wirkliche Unruhe – gerade in der Kindermedizin, deren schwieriger Zustand durch die Corona-Jahre nur allzu deutlich sichtbar geworden ist.

Es geht letztlich um den Generika-Bereich

Und damit sind wir beim Eckpunktepapier des Bundesgesundheitsministeriums, denn es bleibt ja die Frage, welche der drei „Kreise“ Karl Lauterbach nun eigentlich adressieren möchte. Die Behandlung der Tropenkrankheiten (obwohl dies wirklich notwendig wäre) sicherlich nicht. Die Behandlung der Spinalen Muskelatrophie durch Zolgensma (Therapiekosten: zwei Millionen Euro), also der innovationsnahe Bereich, ebensowenig. Es geht letztlich „nur“ um den patentfreien Bereich, den Generika-Bereich, Ibuprofen und die Fiebersäfte also. Und hier muss man wirklich fragen, ob der amtierende Bundesgesundheitsminister, ein Sozialdemokrat, die Steuerungswirkung der Marktkräfte wirklich richtig einschätzt.

Es haben sich in diesem Bereich internationale Monopole gebildet, oft bleibt nur ein einziger Hersteller auf der Welt. Diese Hersteller sollen durch die Preiserhöhung von 1,17€ auf 1,79€ plötzlich in glänzende Laune versetzt werden und ihre Fabriken wieder anschieben? Man muss sich doch die Frage stellten, was die Hersteller eigentlich davon abhalten sollte, auf eine nochmalige Erhöhung der Preise z.B. um das Doppelte zu warten? Der Kaiser stünde schnell ohne Kleider da. Und noch viel mehr: Es soll ein Beirat beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gebildet werden, der Lieferengpässe diagnostiziert – ein hoch attraktives Unterfangen, für die Pharmaindustrie nämlich, denn dann reicht es ja, ein bisschen Lieferengpass zu simulieren, dann kommt man nämlich von den Rabattbeträgen frei und erhält mehr Geld. Und wenn der Beirat (auftragsgemäß, so steht es in den Eckpunkten) auch noch die Kriterien „für einen sich abzeichnenden Versorgungsengpass“ bekanntgeben sollte, dann kann man sich als Anbieter ganz bequem schon ganz langfristig darauf einstellen.

Evidenzbasierte Medizin beerdigt

Nein, im Hintergrund wird eine andere Schlacht geschlagen. Auf den ersten Blick sieht es ja wirklich so aus, als ob das ganze Theater nur mit den Fiebersäften zu tun hätte. Weit gefehlt, was wirklich zählt, ist das in Deutschland mit dem Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) im Jahr 2011 etablierte Verfahren der Nutzenbewertung und Preisfestlegung von Medikamenten. Der damalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler, FDP, führte mit dem AMNOG ein Instrument ein, das nach der Erfahrung der letzten Jahre wie ein Ruf aus einer untergegangenen Welt klingt, nämlich ein Versuch, rationale Prozesse in die Steuerung im Gesundheitswesen zu integrieren. Der Kern bestand und besteht darin, neue Medikamente auf das Verhältnis ihres Nutzens für die Patienten und der entsprechenden Kosten zu beurteilen. Erst wenn die neuen Medikamente über die bisherige Standardtherapie hinausgehende Vorteile zeigen können, werden sie vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) in den Erstattungskatalog aufgenommen und können die Erstattung zusätzlicher Kosten reklamieren. In diesem GBA waren alle „Player“ des Gesundheitssystems vertreten und mussten sich eben einigen, alle waren eingebunden. Die Einigung hatte als Basis die Analyse des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), die sich ganz transparent an den Kriterien der evidenzbasierten Medizin orientierte. Dieser Prozess, diese Einrichtung war und ist vielen interessierten Gruppen, u.a. der Pharmaindustrie, ein Dorn im Auge.

Da klingelt es ganz laut im Ohr: Gerade der jetzige Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat bei der Etablierung der Corona-Maßnahmen und deren Evaluation ja dafür gesorgt, dass dieser Mechanismus, nämlich die unabhängige, wissenschaftsbasierte Evaluation durch Experten und unter Beteiligung der Kräfte vor Ort (also Krankenhäuser, Kassenärzte, soziale Dienste, Pflege etc.), unterblieb. Das IQWiG wurde nie gefragt, kein einziges Mal, und der GBA wurde mit Nebenaspekten beschäftigt. Eine Verbindung? Sicherlich – die „Fiebersaft“-Initiative von Lauterbach schwächt das ganze System unserer rationalen Abwägung von Kosten und Nutzen und öffnet damit wieder die Tür für Ansichten, Meinungen, halt Eminenz statt Evidenz. Aber publikumswirksam fügt sich diese Initiative in den Versuch ein, im Bereich Kindermedizin zu punkten, so wie schon mit der zynischen Empfehlung geschehen, über die Verschiebung von Personal von der Versorgung Erwachsener die Kindermedizin zu „retten“. Sollen doch die „Alten“ sehen, wo sie bleiben, einen Versorgungsengpass schütten wir mit dem anderen zu.

Enge Pässe sind wohlfeil, aber das Schlagen weiter Pässe, da sollte man doch etwas mehr nachdenken. So wie es geplant ist, wird man dem Markt hinterherlaufen (der Markt wird immer schneller sein). Es drängt sich also die Frage auf, warum ein Sozialdemokrat nicht auf die Idee kommt, ähnlich wie in der Luftfahrt oder im Energiebereich eine marktkonforme Lösung in der Richtung zu entwickeln, dass z.B. der Staat begrenzt in die Generika-Produktionskapazitäten einsteigt. Denn in diesem Fall wäre der Anreiz, gezielt Lieferengpässe anzusteuern, nicht mehr gegeben, der staatlich kontrollierte Marktteilnehmer würde die Angebotsblockade nicht mittragen. Aber das wären wirklich lange, weite Pässe. Es würde sehr wahrscheinlich sogar reichen, sie nur anzukündigen.

(Dieser Artikel erschien zuerst am 22. Dezember 2023 auf Cicero Online.)

Anzeige