Anti-Corona-Demo in Berlin - Wut-Bürger und Alt-Hippies

In Berlin kam es an diesem Samstag zu einer großen Protestkundgebung gegen die Corona-Restriktionen. Das Publikum war zwar bunt gemischt, aber vereint im Zorn auf die Regierung. Masken- und Abstandspflicht wurden ignoriert, die Polizei brach die Veranstaltung schließlich ab. Eindrücke eines bizarren Nachmittags.

Corona-Demo in Berlin am 1. August / Alexander Marguier
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Wenn mich jemand mit dem Wissensstand von vor einem halben Jahr auf diese Veranstaltung geschickt hätte, wäre ich völlig ratlos gewesen, was das alles sein soll: Eine große Bühne mit fetter Soundanlage auf halber Strecke zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor. Die Straße des 17. Juni ist gut gefüllt, es herrscht eher Volksfeststimmung als Protestatmosphäre. Das Publikum ist bunt gemischt, auch viele ältere Leute sind dabei; Ehepaare, ganze Familien. Einige halten das Grundgesetz in die Luft, ein anderer ein Plakat mit der Aufschrift „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“ Drei fröhliche Frauen mittleren Alters posieren mit dem Spruch „Selberdenker zeigen Gesicht, Sklaven tragen Masken“.

Aber vor einem halben Jahr dachten die meisten Menschen beim Wort „Corona“ ja auch an eine mexikanische Biermarke und nicht an eine Epidemie. So schnell ändern sich die Zeiten und damit auch die Anlässe für Demonstrationen. Was ich heute Nachmittag gesehen habe, das war also die Kundgebung einer Vereinigung namens „Querdenken-711“, die ihren Ursprung in Stuttgart hat und vom IT-Unternehmer Michael Ballweg ins Leben gerufen wurde. Ihm und seinen Anhängern geht es um die Corona-Restriktionen der Bundesregierung, die als schwerwiegender Eingriff in die bürgerlichen Freiheitsrechte gesehen werden. Das zumindest dürfte wohl der größte gemeinsame Nenner sein, auf den sich alle Teilnehmer einigen könnten. Das Spektrum reichte meiner (selbstverständlich subjektiven) Einschätzung nach von leidenschaftlichen Merkel-Hassern über freakige Verschwörungstheoretiker bis hin zu völlig normalen Bürgern, die sich aufrichtig um ihre Freiheiten und ihren Wohlstand sorgen. Deswegen das bunte Publikum. Würden die meisten von ihnen keine Plakate tragen, könnte man sie sich auch als Besucher eines Helene-Fischer-Konzerts vorstellen.

Veranstalter erinnern an die DDR

Eines Helene-Fischer-Konzerts allerdings in der guten alten Vor-Corona-Zeit, denn Masken tragen und Abstand halten, das findet nicht statt und wird später auch der Anlass für die Polizei sein, die ganze Veranstaltung aufzulösen. Wobei, auch das sei hier angemerkt, es in den vergangenen Wochen Großveranstaltungen in der Hauptstadt gegeben hat, bei denen die Hygieneauflagen weit weniger konsequent durchgesetzt wurden. Wahrscheinlich lernt die Verwaltung einfach dazu, aus Sicht der „Querdenken-711“-Anhänger misst der Staat allerdings mit zweierlei Maß. Auf den Staat und seine Institutionen ist hier ohnehin keiner gut zu sprechen, soviel ist sicher. „Wir sind das Volk!“, rufen die Demonstranten immer wieder, und sie tun das als klare Referenz an die Proteste in der DDR von 1989. Nur, dass es damals eben gegen ein kommunistisches Regime ging und nicht um eine demokratisch gewählte Regierung.

Wie viele Leute am Samstagnachmittag zur Demo mit dem Arbeitstitel „Die Pandemie ist vorbei“ gekommen sind, kann ich nicht sagen. Nur soviel: Es dürften weit mehr gewesen sein als die laut Polizeiangaben 15.000 Teilnehmer. Und weit weniger als die 1,3 Millionen, von denen die Veranstalter auf der Bühne immer wieder begeistert sprachen. Es waren jedenfalls viele, und sie waren dichtgedrängt. Ob auch Rechtsextreme darunter waren, weiß ich nicht; ich meine, am Bühnenrand den rechten Aktivisten Jürgen Elsässer erkannt zu haben, aber vielleicht täusche ich mich. Fakt ist jedenfalls, dass alles ausgesprochen friedlich abging und die Organisatoren immer wieder dazu aufriefen, auf keinen Fall handgreiflich zu werden. Als das Publikum von der Bühne aus aufgefordert wurde, alle Linken oder Rechten mögen bitte mal kurz die Hand heben, blieben sämtliche Arme unten. Wie gesagt: Ich gebe hier nur wieder, was ich gesehen habe.

Applaus für Nana aus Ghana

Den Anfang machte ein farbiger Moderator, der sich „Nana aus Ghana“ nannte und durchaus mitreißend in die Menge skandierte, Berlin setze heute „ein Zeichen in die Welt“, während bei lauter Techno-Musik Loveparade-Atmosphäre aufkam. Dass hier tatsächlich eine Epidemie und deren Eindämmungsmaßnahmen den Anlass für diese Art Partyprotest waren, erschien in diesem Moment geradezu surreal. „Frieden!“ rief „Nana aus Ghana“ den Leuten von der Bühne herab immer wieder zu, die Menge antwortete lauthals mit „Freiheit!“ Sogar die Polizei wird vom Publikum mit Applaus bedacht.

Dann kommt der Organisator Michael Ballweg auf die Bühne und wird mit frenetischem Applaus begrüßt. Vom Band werden die behördlichen Auflagen abgespult: Maskenpflicht, Abstand halten. Das wiederum quittieren die Demonstranten mit lauten Buhrufen und Pfiffen. Ballweg spricht davon, es hätten sich womöglich Provokateure unter die Menge gemischt, um die Veranstaltung durch Gewaltaktionen zu diskreditieren. Dann ruft er in sein Mikrofon: „Achtung, Achtung, das Freiheitsvirus hat Berlin erreicht!“ Jubel. „Eigenverantwortung, Liebe, Frieden, Wahrheit“, skandiert Ballweg, um dann unvermittelt eine „Herzensminute“ genannte Kurz-Meditation einzulegen, damit sein Publikum „mit der Hand auf dem Herzen Liebe senden“ kann. Tatsächlich verstummen daraufhin fast alle für 30 oder 40 Sekunden.

Dann geht es weiter, der Moderator ruft, die Regierung habe ein „System der Kontrolle und der Angst“ etabliert. Zu welchen Zweck dieses vermeintliche System dienen soll, bleibt zwar einigermaßen unklar, aber es geht immer wieder um Entmündigung und Unterjochung. Als über Band ein Statement von Karl Lauterbach eingespielt wird, in dem der SPD-Politiker (und Mediziner) die Einschränkungen wegen Corona aufzählt, brandet ein Pfeifkonzert auf. Sodann verkündet der Moderator, „es gibt keine Pandemie!“ und fordert „die sofortige Beendigung der Corona-Maßnahmen“ sowie die „Abdankung der Bundesregierung“. Sein Publikum reagiert mit frenetischem Jubel und „Merkel muß weg!“-Sprechchören.

Wut auf die Regierung

Es folgen noch einige Auftritte von anderen „Querdenken“-Aktivisten, die sich lauthals über die Impfkampagnen von Bill Gates, Lügen verbreitende Mainstream-Medien, über das politische System, über den Niedergang der Wirtschaft als Folge der Corona-Maßnahmen oder die Steuerlast echauffieren. Der Begriff Wut-Bürger trifft die Sache wahrscheinlich ganz gut, die Teilnehmer selbst würden sich wahrscheinlich anders definieren. Mein Eindruck: Da hat sich bei vielen Leuten ganz schön was aufgestaut, zumal etliche von ihnen nicht so aussehen wie typische Kundgebungsteilnehmer. Und immer wieder wird von der Bühne aus an die friedlichen Demonstrationen von 1989 erinnert oder an den Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953, nach dem auch die Straße benannt ist, auf der die Kundgebung an diesem 1. August 2020 stattfindet.

Gegen 16 Uhr wird zum ersten Mal von den Veranstaltern mitgeteilt, dass die Veranstaltung von der Polizei wegen Verstoßes gegen die Hygieneauflagen abgebrochen werden würde. Einer der Moderatoren fordert die Menschen zu „ friedlichem Widerstand“ auf und dazu, jetzt sollten sich alle auf den Boden setzen. Die meisten tun dies auch, während ein als „Pressesprecher“ von „Querdenken-7111“ angekündigter Mann mit dem Aussehen eines Alt-Hippies für Beruhigung sorgt, indem er mit schwäbischem Akzent singt: „In mir brennt das Feuer der Liebe!“ Eine insgesamt außerordentlich bizarre Vorstellung.

Gegen 17 Uhr ist dann offenbar endgültig Schluss, als behelmte Polizisten in Richtung der Bühne drängen. Einer der Veranstalter ruft in die Menge, die Leute sollten in kleinen Gruppen an allen möglichen Orten in Berlin weiterdemonstrierten, gern auch vor dem nahegelegenen Kanzleramt. Ob sie das taten, weiß ich nicht, weil ich nachhause gegangen bin, um das hier aufzuschreiben. Eines kann ich jedenfalls mit Sicherheit sagen: Es war die seltsamste Demonstration, die ich je erlebt habe. Und ich war schon bei einigen Demos dabei.

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