Anschlag von Hanau - „Eine Kollektivierung des Amoklaufs“

Wie lässt sich rechtsextremistisch motivierte Radikalisierung früher erkennen? In rund 80 Prozent der Fälle hat das Umfeld vorher etwas mitbekommen, sagt Nils Böckler vom Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement. Gründe für das Schweigen gebe es viele. Eine wichtig Regel sei: Prävention statt Denunziation.

Ermittlungen nach dem Attentat in Hanau / dpa
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Nils Böckler forscht zu Extremismus und Radikalisierung und arbeitet am Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt. Ein Spezialgebiet sind die Radikalisierungsprozesse terroristischer Einzeltäter und autonomer Zellen.

Nach der Terrorserie des NSU, nach den tödlichen Attentaten von München, Halle und nach dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke hat nun ein deutscher mutmaßlicher Täter im hessischen Hanau insgesamt 10 Menschen und sich selbst umgebracht. In hinterlassenen Schriftstücken und Videos finden sich für diese Tat viele rassistische Motive. Womit haben wir es hier zu tun, Herr Böckler?
Wir haben es derzeit mit einer verdichteten Sequenz rechtsextremer Attentate zu tun. Man merkt einmal mehr, dass sich die Extremismen gegenseitig aufschaukeln. Wir hatten eine islamistische Welle. Nun stehen wir vor einer erhöhten Anzahl rechtsextremer Attentate, bei denen sich die Täter weltweit als Teil einer Anti-Jihad-Bewegung inszenieren.

In dem von dem mutmaßlichen Hanauer Täter hinterlassenen Schriftstück ist nicht explizit von Anti-Jihad die Rede. Sein Text handelt vielmehr von Fantasien, ganze Völker „vernichten“ zu wollen, weil deren Existenz ein „grundsätzlicher Fehler“ sei.
Ja, tatsächlich gibt es Thesen, die es in den gesellschaftlichen Diskurs geschafft haben: etwa die Idee, es gebe den Plan einer Umvolkung oder einen schleichenden Bevölkerungsaustausch. Man sieht im Schriftstück des mutmaßlichen Täters, dass er einzelne Themen und paranoide Propaganda-Logiken aufgreift und daraus offenbar eine Art Patchwork-Ideologie strickt, die sich mit wahnhaften Ideen mischen.

Der ehemalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen sagte einmal, er sei nicht in die CDU eingetreten, damit 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen. Inwiefern schüren solche Äußerungen extremistische Weltbilder von künftigen Tätern?
Rechtsextreme Terroristen wollen sich als Soldaten des Volkes sehen. Derzeit haben wir es mit einem aufgeheiztem gesellschaftlichen Klima zu tun, in dem sich Rechtsextremisten als Vollstrecker eines Volkswillens wähnen, den sie in der Mitte der Gesellschaft verorten. Meistens sehen wir, dass solche gesellschaftlichen Dynamiken in Wechselwirkung treten mit persönlichen Missständen: Plötzlich gibt es Schuldige für mein Leiden. Plötzlich macht mein Leben wieder Sinn. Wenn dann noch extremistische Propaganda suggeriert, es sei notwendig, Gewalttaten als Form der Verteidigung auszuführen, ist dies hoch problematisch.

Das heißt, den Taten gehen eindeutig die Worte voraus.
Wir müssen vor allem aufhören, eine Polarisierung der Gesellschaft voranzutreiben. Pauschal gegen bestimmte Menschengruppen zu wettern, ist der Nährboden, auf dem auch Extremismen keimen können.

Nils Böckler / privat

Inwiefern unterscheiden Sie Taten von vermeintlich einzeln handelnden Personen wie bei den Anschlägen von München, Halle oder nun Hanau von gemeinsam geplanten und gemeinsam umgesetzten Morden wie jene des NSU?
Was wir insbesondere bei der Analyse des Attentats am Münchner Olympia-Einkaufszentrum sehen: Wir kommen mit unseren alten kategorialen Einschätzungen nicht mehr weiter. Wir beobachten eine Annäherung von Phänomenen. Auf der einen Seite gibt es eine Individualisierung des Terrors. In extremistischen Netzwerken ist diese Strategie im Grund seit langem ausgegeben worden: Handelt in kleinen autonomen Zellen oder noch besser als Einzeltäter, weil ihr möglichst lange unter dem Radar der Sicherheitsbehörden fliegen könnt! Aus der Erforschung der Biografien von Amoktätern sehen wir aber auf der anderen Seite: Wir haben es auch mit einer Kollektivierung des Amoklaufs zu tun.

Können Sie das näher beschreiben?
Das bedeutet zum Beispiel, dass sich Täter aufeinander beziehen. Das war schon bei vielen Schulattentätern zu beobachten. Für sie gibt es ganze Fangruppen im Internet. Insbesondere erwachsene Amokläufer versuchen für ihre Taten das Label „Terror“ einzunehmen.

Was versprechen sich solche Täter davon?
Sie wollen Botschafts-Verbrechen begehen, um damit auch ein Stück weit berühmt zu werden und um ihre Grandiositätsfantasien stillen zu können. Das funktioniert gut, wenn sie das Terror-Label bekommen. Denn Gesellschaften reagieren darauf in ganz bestimmter Weise und müssen dies auch. Das sieht man etwa daran, dass nun etwa der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernimmt. Gesellschaften reagieren anders auf Terroristen, als auf wahnhafte Einzeltäter. Darum versuchen solche Leute mit Selbstdarstellungen über solche Manifeste oder Videos die Interpretation ihrer Taten zu lenken und so auch ihre Botschaft in die Welt zu bringen.

Inwiefern ist die Beschreibung „lonesome wolf“ zutreffend?
Der Begriff kann falsche Assoziationen wecken. Denn was wir aus der Forschung erkennen ist, dass auch Einzeltäter längst nicht so isoliert sind, wie man annehmen könnte. Insbesondere über soziale Netzwerke sind sie sehr stark mit anderen Menschen verbunden. Sie sind quasi gemeinsam einsam. Darüber hinaus romantisiert der Begriff die Taten meines Erachtens zu sehr – die White Supremacy Bewegung aus den USA hat sich wohl aus diesem Grund auch selbst diesen Begriff für die Strategie des Terrors durch allein handelnde Individuen ausgedacht.

Sind diese Menschen im realen Leben überhaupt einsam? Sie haben Schulkameraden, Arbeitskollegen, Kommilitonen und nicht zuletzt ihre Familie. Warum versagt hier das Umfeld?
Direkt nach einer Tat sollte man immer vorsichtig sein mit Schuldzuschreibungen. Was wir aber aus der Forschung sehen: Gerade bei den terroristischen Einzeltätern und bei Amokläufern fallen dem Umfeld sehr, sehr viele seltsame Verhaltensweisen auf. In etwa 80 Prozent der Fälle hat das soziale Umfeld etwas mitbekommen. Jemand fixierte sich immer mehr auf eine bestimmte Ideologie oder Gewalt legitimierende Weltanschauungen. Jemand hat sich immer mehr mit anderen Attentätern identifiziert und als Vorbilder glorifiziert. Oder jemand machte sogar Andeutungen, so eine Tat vielleicht auch mal zu begehen.

Aber das sind doch mehr als deutliche Anzeichen. Warum wurde das Umfeld dann nicht aktiv?
Wir wissen etwa aus der Forschung zu Schulattentätern, dass Mitschüler und Familien sich selber sagen: Wer bin ich, dass ich das so klar einschätzen kann? Oder man denkt sich: Das kann doch nicht sein. Das passiert doch nicht in meinem Umfeld. Oder es spielen so Mythen eine Rolle wie: Hunde, die bellen, beißen nicht. Und nicht zuletzt: Man möchte jemandem nicht den Boden unter den Füßen wegziehen, indem ich problematische Verhaltensweise melde, nur weil da gerade offenbar jemand Aufmerksamkeit braucht. Da kommen ganz viele Gedanken zusammen, warum so etwas nicht weitergegeben wird. Dabei liegt gerade hier ein große Präventionschance.

Wie könnte die aussehen?
Aus den USA kennen wir das sogenannte „Threat-Management“. Aber auch wir in Deutschland haben spätestens seit dem Schulattentat von Erfurt immer mehr Krisenteams an Schulen etabliert. Mittlerweile gibt es solche Bedrohungs-Management-Teams auch in anderen gesellschaftlichen Institutionen, in Behörden und Unternehmen, selbst in Gefängnissen. Aus- und fortgebildete Präventionsakteure sind hier in der Lage, sogenannte Marker einer Radikalisierung wissensbasiert zu erkennen.

Was meinen Sie mit wissensbasiert?
Dass sie es verstehen, einen Radikalisierungsprozess und dazugehörige Verhaltensmuster aufzuschlüsseln, aber auf wissenschaftlich belegter Grundlage. Das große Problem ist nämlich derzeit, dass vermeintlich jeder weiß, was Radikalisierung bedeutet, weil wir bestimmte Marker aus den Medien kennen. Dazu gehört zum Beispiel beim Thema Islamismus der verweigerte Handschlag mit einer Frau. Das alleine sagt aber eben noch nichts aus.

Was sollte man denn tun?
Es ist vor allem wichtig, verhältnismäßige Strategien zu entwickeln, um auf problematische Verhaltenstendenzen zu reagieren. Bei einem Jugendlichen, der rechtsextremistische Propaganda auf Firmenrechnern verteilt, können wir definitiv nicht sagen: Das könnte mal ein rechtsextremer Terrorist werden. Aber wir wissen, dass sich die terroristische Gewalt immer aus vielen Entwicklungsschritten ergibt. Bei jedem Schritt kann und sollte man intervenieren, auch wenn nicht absehbar ist, wo die Entwicklung hingeht.

Sie meinen, man sollte mit einer solchen Person das Gespräch suchen?
Ja, und auch Grenzen ziehen. Darauf hinweisen, dass es sich etwa um einen strafrechtlich relevanten Bereich handelt. Und so gibt es für jede Phase unterschiedliche Interventionstechniken. Am Anfang, wenn sich jemand in einer Krise befindet, geht es um Unterstützung. Wenn sich jemand abgehängt fühlt, darum, ihm die Hand zu reichen. Sollte es aber dahin gehen, dass jemand Gewalt, auch öffentlich, als Option ansieht, er andere diskriminiert oder gar Waffen herumzeigt, geht es um klare Grenzziehung und no tolerance. Wir müssen dann die weitere Entwicklung im Auge behalten: Verlieren wir einen solchen Menschen immer mehr oder kommt er zu uns zurück? Aber es muss immer klar sein: Es geht um Prävention, nicht um Denunziation.

Weil die Gefahr besteht, Menschen ohne Grund zu stigmatisieren?
Genau darum geht es, das zu verstehen. Man muss das Verhalten nehmen als das, was es ist. Also nicht vom Ende eines solchen Prozesses auszugehen, nicht sofort zu denken, eine Person könnte ein potenzieller Attentäter oder Terrorist sein. Denn auch aus solcher vorschnellen Stigmatisierung sind schon schlimme Dinge entstanden. Es geht darum, klar zu kommunizieren: Wir fragen uns, warum du dich immer weiter zurückziehst. Wir akzeptieren hier kein diskriminierendes Verhalten, etc. Sie verhindern, dass sie jemanden stigmatisieren, wenn sie ihn ausschließlich auf sein nicht akzeptables Verhalten verpflichten. Dafür brauchen wir aber sehr gut ausgebildete, interdisziplinäre Bedrohungsmanagementteams je nach Institution.

Aber können sich Privatpersonen besser schützen, indem sie erkennen, und vorbeugen?
Es geht darum, ein Netzwerk aufzubauen aus Unterstützern, wenn Sie einen Krisenfall im Umfeld wahrnehmen. Dazu können auch Sicherheitsbehörden gehören, aber auch Beratungsstellen, Opferhilfen, De-Radikalisierungsstellen. Wenn ich nicht weiß, ob es sich um eine Radikalisierung handelt, sollte ich Stellen aufsuchen, die mich unterstützen. Einige kann man niedrigschwellig anrufen oder eine Mail schreiben. In Gesellschaft und Politik sollte für die Möglichkeit diese Präventionsakteure einzubinden, sensibilisiert werden.

Was könnte von politischer Seite geändert werden?
Politiker und auch Medien neigen teilweise dazu, mit der Pathologie eines Täters seine Tat vollständig zu erklären. Psychiatrisch auffälliger Wahn? Ok, wir können als funktionierende Gesellschaft weitermachen. Es ist aber eben so, dass Täter, egal, ob sie eine Wahnerkrankung haben oder ob sie sich in Netzwerken radikalisiert haben, auf vielfältige Weise mit ihrem Umfeld interagieren. Sie eignen sich extremistische Ideologien an, nehmen auf gesellschaftliche Diskurse Bezug und integrieren sie in ihre Tatrechtfertigungen. Auf der anderen Seite machen sie aber auch immer wieder auf ihre Radikalsierung aufmerksam. Man spricht in der Forschung von „Leaking“, also quasi vom Durchtropfenlassen von Tatintentionen. Dafür zu sensibilisieren, muss viel stärker ins Bewusstsein des Gesellschaft rücken.

Warum „leaken“ solche Täter vorher? Sind das Hilfeschreie?
Dahinter können sehr verschiedene psychologische Dynamiken stehen. Bei den einen ist es ein Hilfeschrei. Das kennen wir auch aus dem Bereich von Suizidankündigungen. Bei anderen geht es darum, vom eigenen Radikalisierungsprozess zu profitieren, indem sie Kollegen oder Freunden Einblick in ihre Gewaltfantasien geben.

Was gibt ihnen das?
Sie können eine derart aufgebaute Identität nur selbst erfahren, wenn sie sie gespiegelt bekommen. Das heißt, solche Menschen wollen nicht erst mit ihrer Tat ins Bewusstsein von anderen geraten. Sie möchten schon vorher partizipieren. „Jetzt machst du dich noch lustig über mich. Könnte sein, dass du vielleicht bald nicht mehr lachst“, wäre so ein Gedanke, den ein künftiger Täter dann hat oder ihn sogar äußert. Das kann ihm eine gewisse, wenn auch nur vorübergehende Befriedigung geben. Es geht auch um ein Austesten von Grenzen. Es gibt auch in einigen Fällen Chatpartner, die einen solchen Menschen bestätigen oder anfeuern. Von so einer Community und deren Anerkennung macht sich ein späterer Täter dann aber auch abhängig. Das kann soweit gehen, dass Menschen, die sich dann immer weiter unter Druck setzen, weitere Schritte auf dem Weg zur Gewalttat zu gehen.

Einen bestimmten Täter-Typus gibt es dann wohl kaum?
Es gibt zumindest bei keinem Täter einen glatten Durchlauf hin zu seiner Tat. Jeder Täter hat Erfahrungen hinter sich, die nie im luftleeren Raum stattfanden. Es gibt immer Möglichkeiten zu erkennen und auch einzugreifen. Darum ist es ja so wichtig, aus früheren Taten zu lernen und Möglichkeiten der Früherkennung zu verbessern.

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