Anschlag von Hanau - Wie umgehen mit dem Phänomen „einsamer Wolf“?

Auch Hanau zeigt: Um sich zu radikalisieren, reicht bereits ein Internetzugang. Anschläge von „einsamen Wölfen“ werden auch durch mehr Personal in den Sicherheitsbehörden kaum verhindert werden. Wie man mit dieser Form des Terrors umgehen könnte, zeigt das Beispiel Norwegen.

Kerzen und Blumen vor dem Tatort am Heumarkt in Hanau / dpa
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Autoreninfo

Dr. Florian Hartleb ist Politikwissenschaftler. Er lebt seit fünf Jahren in Tallinn, Estland, und ist als Politikberater und -experte zu den Themen Flüchtlinge und Digitalisierung tätig. Im Oktober 2018 erschien sein Buch „Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter“ bei Hoffmann und Campe. Im Februar 2020 wurde das Buch aktualisiert und in englischer Fassung vom Springer-Verlag veröffentlicht. 

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Nicht schon wieder, denken sich nicht nur Experten, Politiker und Journalisten, sondern auch viele Bürger. Schon wieder mordet ein Einzelner, verursacht Angst und Schrecken. Und es war einer von uns. Der Terrorismus war „hausgemacht“, wie erst vor wenigen Monaten, am 9. Oktober in Halle. Der 27-jährige Stephan Balliet versuchte, am helllichten Tag in Halle in eine Synagoge einzudringen, und ermordete nach dem Scheitern willkürlich zwei Menschen. Nun sorgte ein 43-jähriger Bankkaufmann, Tobias R., für ein Fanal. Er ermordete zehn Menschen, darunter seine Mutter, verletzte weitere Menschen schwer und richtete dann sich selbst.

Seine Tat war akribisch vorbereitet, von langer Hand geplant. Dafür sprechen ein 24-seitiges Manifest, das er hinterließ, sowie ein Youtube-Video. Der Täter wollte seine kruden Verschwörungstheorien verbreiten, wandte sich in seinem Manifest an das „gesamte deutsche Volk“. Sein Youtube-Video richtet sich hingegen an „alle Amerikaner“. Seine Botschaft ist eindeutig. Der Täter fühlt sich verfolgt, spricht davon, dass er von einem Geheimdienst überwacht werde. Und am liebsten will er die ganze Welt „eliminieren“, von Marokko über Türkei bis hin zu Kambodscha. Am Ende soll auch das eigene Volk „daran glauben“.

Gehörige Portion Narzissmus

Deutlich wird hier, was diesen Einzeltäter ausmacht. Er schneidert sich eine persönliche Kränkungsideologie zurecht, die persönliche Frustrationen mit politischen Motiven verbindet. Wie der Täter von Halle lebte er bei seiner Mutter, hasste aber Frauen. Er spricht von einem geplatzten Date, widmet dem Thema ein ganzes Kapitel. Persönlich war der Täter offenbar wie viele seiner „Vorgänger“ gestört. Eine gehörige Portion Narzissmus schwingt mit, wenn der Täter auf seine eigene Website verweist. Doch wäre es bei all diesen Auffälligkeiten falsch, diese Taten zu „entpolitisieren“. Eine neue Art der Beklemmung hält in den westlichen Gesellschaften Einzug. 

Terror durch Einzelne, ohne dass eine Organisation dahinter die Strippen zieht – dieses Phänomen, umschrieben mit der Metapher des „einsamen Wolfes“, meinten wir lange nur aus anderen Weltregionen zu kennen, aus Afghanistan, dem Irak oder dem Israel-Konflikt, wo radikale Palästinenser gezielte Messerattacken verüben. Doch ob wir es wahr haben wollen oder nicht: Akte des Terrors sind mitten unter uns.

Das Jahrhundert des Individualterrorismus

Das 21. Jahrhundert ist zwar schon jetzt das Jahrhundert des Individualterrorismus. Es braucht eben keine Terrororganisation mehr. Ein Computer mit Internetzugang reicht zur Radikalisierung aus. Seit dem 22. Juli 2011 ist dieser Tätertypus der Weltöffentlichkeit bekannt. Nach jahrelanger Planung ermordete der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik 77 Menschen, darunter viele Jugendliche. Fünf Jahre später, am Tag genau, versetzte der 18-jährige Deutsch-Iraner die Stadt München in einem Ausnahmezustand. Bereits 2011 sagte der damalige US-Präsident Barack Obama nach dem Fall Breivik, die „einsamen Wölfe“ seien die größte Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten. Das gilt auch hierzulande, auch wenn das nicht so offen eingeräumt wird.

Terrorismus spiegelt in extremer Ausformung wider, wie es um das gesellschaftliche Stimmungsbild und um etwaige Schieflagen bestellt ist. Leider fallen die Reaktionen auf solche Taten immer reflexhaft aus. Das gilt auch für die Gegenseite, die versucht, der AfD den Mord in die Schuhe zu schieben. So äußert sich bereits die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer demensprechend. Sie instrumentalisiert die Tat, spricht in unglücklicher Wortwahl davon, den Beleg zu haben, „eine Brandmauer gegen die AfD“ zu halten.

Mehr Offenheit, mehr Demokratie

Die Sicherheitsbehörden sind sich mittlerweile dieser Gefahr bewusst. Massiv soll personell aufgestockt werden. Helfen wird das wenig, da die einsamen Wölfe unbeschriebene Blätter für die Sicherheitsbehörden sind. Ein Stephan Balliet war ebenso wenig polizeilich bekannt wie ein Breivik. Allein mit Repression zu antworten, reicht ohnehin nicht aus. Nach Breiviks Taten lautete das Mantra in Norwegen „mehr Offenheit, mehr Demokratie” – das Gegenteil von dem, was er erreichen wollte. Nach Christchurch war die Reaktion eine ähnliche. Und es ist auch die Gesellschaft an sich angesprochen.

Verschwörungstheorien grassieren, eine Bewegung wie die Reichsbürger, die ähnlich wie der Täter an dunkle Mächte und die Überwachung durch einen von den USA gesteuerten Geheimdienst glauben, hat massiv Zulauf erhalten. Von daher sind auch die „einsamen Wölfe“ Kinder ihrer Zeit und Seismographen unserer Zeit. Beruhigend ist das alles nicht, auch wenn die Politik beschwichtigen muss. Vielleicht helfen Rezepte aus anderen Ländern, wie die eben angesprochene norwegische Reaktion auf Breivik. Vielleicht sollte man hierzulande ähnlich reagieren. 

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