Anschlag in Halle - Verkapselungen und Entladungen

Nicht nur der rechtsterroristische Anschlag von Halle zeigt: Deutschland steht vor einem heißen Herbst. Gegen Extremismus jedweder Art helfen aber keine Sonntagsreden, sondern kühler Kopf und entschlossenes Handeln. Aber ausgerechnet daran mangelt es

Sachsen-Anhalt, Halle: Ein Mann mit einer Israel-Flagge vor der Synagoge / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Berlin, Limburg, Halle an der Saale: Zweimal ging es glimpflich aus, einmal ganz und gar nicht. In Halle wurden zwei Menschen ermordet, weil sie zufällig in die Schusslinie eines Mannes gerieten, der ausgezogen war, um Menschen zu töten. Am gestrigen Mittwoch fuhr der Täter – ein Rechtsextremist aus Sachsen-Anhalt – zur Hallenser Synagoge. Er wird gewusst haben, dass die örtliche jüdische Gemeinde, rund 50 Menschen, dort gerade das Jom-Kippur-Fest feierte. Wäre sein Versuch, in die Synagoge einzudringen, erfolgreich gewesen, hätte er ein Blutbad anrichten können. Was geht in solchen kranken Hirnen vor? Wie gedeiht ein derart schlimmer Hass? Und warum wächst an vielen Stellen der Eindruck, in Deutschland blühten wieder die Extreme, gehe wieder einmal die Mitte verloren?

Der Extremist von Halle filmte seine Taten mit einer Kamera, die auf seinem Kopf angebracht war. So hielt es auch der Attentäter im neuseeländischen Christchurch, der im März dieses Jahres rund 50 Menschen in zwei Moscheen ermordete. Auch das Video aus Halle fand man im Internet. Der Täter rief antisemitische Verwünschungen aus. An seinem Motiv besteht kein Zweifel. Der Hass auf Juden trieb den Mann. Ihnen unterstellte der Neonazi, für die „Massenmigration“ verantwortlich zu sein. Mir fehlt, offen gestanden, die Phantasie, wie ein erwachsener, ein in Deutschland aufgewachsener Mensch im Jahr 2019 zur wahnhaften Überzeugung von der jüdischen Weltverschwörung gelangen und sich in diese so fest verkapseln kann, dass er zum Töten bereit ist. Wenn diese Bereitschaft dann zwei unbeteiligte Menschen das Leben kostet, steigert sich die Fassungslosigkeit zur abgrundtiefen Trauer.

Die Lage der deutschen Juden ist doppelt prekär

Wie die Hallenser hatten auch die Berliner Juden Glück im Unglück. Die Tür zur Synagoge in Halle widerstand den Gewehrsalven des Attentäters, und in der Hauptstadt konnte in der vergangenen Woche ein Mann überwältigt werden, der mit einem gezückten Messer in eine Synagoge vordringen wollte. Er soll aus Syrien stammen und Israel verflucht haben. Auch im muslimischen Kulturkreis gibt es Menschen, die allen Juden den Tod wünschen. In manchen arabischen Ländern gehört der Antisemitismus zur Staatsräson. Wenn einheimischer auf importierten Judenhass trifft, wird die Lage der Juden, der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens, doppelt prekär. Ist es da ein Wunder, dass manche von ihnen auf gepackten Koffern sitzen und viele schon Alija gemacht haben, ausgewandert sind nach Israel? Deutschland ist für Juden kein sicheres Pflaster mehr. Angriffe auf Synagogen sind ein Tabubruch der schlimmsten Art.

Kann man den Fall von Limburg mit diesen beiden Manifestationen von Israel- und Judenhass überhaupt vergleichen? Im hessischen Städtchen stahl am Montag ein 2015 nach Deutschland gekommener, hier bereits straffällig gewordener Syrer einen Lkw und steuerte ihn in mehrere Autos. Den Tod von deren Insassen dürfe er billigend in Kauf genommen haben. Dass dann nur acht Verletzte zu beklagen waren, mag den Umständen geschuldet, mag pures Glück gewesen sein. Der Anschlagsversuch soll von Anrufungen Allahs begleitet gewesen sein. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen versuchten Mordes.

Betroffenheit zu demonstrieren reicht nicht

Limburg, Berlin, Halle – kann man das also vergleichen? Ja, denn es gibt ein verbindendes Drittes: die zunehmende Verrohung in den Köpfen. Und, als deren Folge, eine schwindende Sicherheit auf Deutschlands Straßen, in Deutschlands Städten. Sollten sich die Vor- und Zwischenfälle und Anschläge weiter häufen, wäre es um unsere Republik bald geschehen. Eine permanente Ungewissheit, ob man heil nach Hause zurückkehrt, übersteht keine Demokratie. Darum genügt es nicht, wie nun nach dem rechtsterroristischen Attentat von Halle, Symbole in die Welt zu blasen, Betroffenheit zu demonstrieren und Hashtags zu kreieren: #wirstehenzusammen. Wohlfeil sind solche Routinen, solange Justiz, Politik und Medien viel zu oft das Falsche tolerieren und die Juden im Regen stehen lassen.

Der Berliner Täter etwa wurde rasch freigelassen, was den Zentralrat der Juden zurecht empörte: „Ausgerechnet in Berlin, wo der Senat vor ziemlich genau einem Jahr eine Antisemitismus-Beauftragte der Generalstaatsanwaltschaft berufen hat, wird so fahrlässig mit einem Anschlagversuch auf eine Synagoge umgegangen.“ In Limburg wird ein mehrfacher Mordversuch medial bagatellisiert und die Frage nach der Motivlage des Attentäters wegpsychologisiert. Und der Doppelmord von Halle: wird er dazu beitragen, den Rechtsterrorismus unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters als neues Phänomen und nachhaltige Bedrohung ernst zu nehmen? Als ernste Anfrage an Politik und Gesellschaft, wie wir den Verkapselungen und Entladungen des Hasses entgegen treten?

Deutschland steht vor einem Herbst der Extreme. Es wäre gut, wenn wir Politiker hätten, die nicht nur in Sonntagsreden wissen, wie auf Extremismus jedweder Art zu reagieren ist: mit kühlem Kopf und harter Hand.

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