Anschlag von Halle - Die Faszinationskraft des Fanatikers

Warum werden aus radikalen Verlierern Helden des Bösen? Man muss keine Angst vor Leuten haben, die Ego-Shooter spielen, aber Angst vor ihrer Desorientierung. Wie Globalisierung und Digitalisierung mit dem rechtsextremen Anschlag von Halle zusammenhängen

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Aus Computerspielen kann zwar ernst werden, das passiert aber sehr selten / Foto: Jürgen Hermann Krause
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Autoreninfo

Norbert Bolz ist emeritierter Professor für Medienwissenschaften. Er ist Autor zahlreicher Bücher; zuletzt erschien von ihm „Das richtige Leben“ (Verlag Wilhelm Fink, 2013). Im Jahr 2011 wurde Bolz mit dem Tractatus-Preis für philosophische Essayistik ausgezeichnet

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Terror und Spiel – diese Begriffe haben mehr miteinander gemein, als man denken könnte. Wie jeder Krimi, jeder Horrorfilm zeigt, fasziniert uns der Schrecken, wenn er gespielt und das heißt eben immer auch: heruntergespielt wird.

Es gibt heute wohl kaum mehr ernst zu nehmende Psychologen und Medienwissenschaftler, die die simple These vertreten, dass Jugendliche und junge Männer durch Gewaltspiele im Internet verwahrlosen und sich brutalisieren. Man muss keine Angst vor Leuten haben, die Ego-Shooter spielen. Trotzdem ist der Spott über Innenminister Horst Seehofer, der nach dem rechtsterroristischen Attentat von Halle die Gamer-Szene genauer beobachten wollte, unbegründet. Der 27-jährige Täter, sagte dessen Vater, sei zuletzt „nur online“ gewesen.

Eintauchen in sogenannte „Secondary Worlds“

Die Computerspiele leisten heute das, was früher die Mythen geleistet haben. Sie bieten eine wohltätige Begrenzung des Lebenshorizonts. Wie die Fantasie, die Religion und der Wahnsinn bietet auch das Computerspiel einen geschlossenen Sinnbereich. Erzählung und Roman haben den Mythos in die moderne Gegenwart transportiert. Die faszinierendsten Geschichten sind in Filme umgesetzt worden. Und heute bieten erfolgreiche Filme den Fantasiehintergrund für Computerspiele.

John R. R. Tolkien, Großmeister des Fantasy-Genres und Begründer einer eigenen Mythologie, die weltweit die Massen fasziniert, hat in diesem Zusammenhang von „Secondary Worlds“ gesprochen. Gemeint sind sorgfältig ausgearbeitete Fantasiewelten, die ihre eigene strenge Logik und Gesetzmäßigkeit haben. Gegen die graue Faktizität der alltäglichen Welt zeigen sie dem Spieler den Spielraum des Möglichen.

Wenn aus Spiel ernst wird

So weit, so gut. Entscheidend ist aber, dass es keinen Übergang vom Spiel zur Wirklichkeit gibt, sondern immer nur einen Sprung: Ich erwache aus dem Traum, der Vorhang geht auf, das Ritual wird vollzogen, das Spiel beginnt. Was aber, wenn die virtuelle Parallelwelt nun plötzlich doch in die Wirklichkeit einbricht? Das Computerspiel gibt dem radikalen Verlierer die Möglichkeit, seine Allmachtsfantasien auszuagieren. Aber plötzlich schießt der Ego-Shooter wirklich um sich. Widerlegt das nicht die gerade formulierte These, man müsse sich vor Leuten, die Ego-Shooter spielen, nicht fürchten?

Wir müssen hier tiefer loten und genauer sagen: Der Ego-Shooter wird zum Rollenvorbild des Haters, der sich nicht mehr damit begnügt, seine Wutausbrüche im Internet zu posten. Und im Dark­net findet er die nötigen Waffen. Der Hater wird dann zum Terroristen. So war es nun in Halle.

Der sehr prägnante Begriff „radikaler Verlierer“ stammt von Hans Magnus Enzensberger und war schon vor 15 Jahren nicht nur auf die islamistischen Gotteskrieger gemünzt. Jeder Hater ist ein radikaler Verlierer im Sinne Enzensbergers. Er „sondert sich ab, wird unsichtbar, hütet sein Phantasma, sammelt seine Energie und wartet auf seine Stunde“. Weil er sein Leben als Schrecken ohne Ende erfährt, sucht er sein Heil in einem Ende mit Schrecken und läuft Amok. Im Zeitalter der sozialen Medien kann dieser Terror dann sogar live übertragen werden – und der radikale Verlierer ist es selbst, der die Tat filmt. Auch dies geschah in Halle.

Terror wird zum Horror

So wird der Verlierer berühmt. Ein Niemand bekommt weltweite Publizität. Wenn dann auch noch ein schwachsinniges Manifest auftaucht, in dem der Amok­läufer seine Untat „begründet“, wird deutlich, dass die Gewalt ohne Grund ist. Und genau das macht den Terror zum Horror. In den Massenmedien erscheint der radikale Verlierer dann als Monster, aber in den sozialen Medien wird er zum Star. Die radikalen Verlierer können im Netz die Helden des Bösen werden. Sollte man deshalb ihre Namen nicht mehr nennen? Anders Breivik.

Für die Globalisierungsverlierer ist das Internet eine Frustrationsmaschine, die sie ständig mit Material versorgt, das ihre Wut und ihren Hass nährt. Aber es ist eben auch das Medium der Selbstorganisation aller radikalen Verlierer. In Internetforen bilden sie ihre Echokammern, in denen das geschieht, was Soziologen Abweichungsverstärkung nennen. Zu Deutsch: Man radikalisiert sich in Eigenwelten hinein. Das gilt übrigens nicht nur für die Aktivisten des Darknet. Auch wer nicht kämpfen oder kommunizieren möchte, kann es sich in einem Informationskokon gemütlich machen. Ob es sich nun um Dschihadisten oder um Neonazis handelt: Diese Leute sind nicht mehr dialogfähig.

Immun gegen Kritik

Der Fanatismus, vor dem die Weltgesellschaft erschrickt, ist aber ihr eigenes Produkt. Der immer häufigere Fall des europäischen Gotteskriegers, der zum Islam konvertiert, macht deutlich, wie sich im Fundamentalismus der moderne Individualismus gegen sich selbst kehrt. In seiner freien Glaubenswahl wählt das Individuum eine Religion, die ihm die Last der Freiheit und Individualität nimmt.

Die Faszinationskraft des Fanatikers rührt zum einen daher, dass er immun ist gegen Kritik; er hat die Heilsgewissheit gegen die allgemeine Ungewissheit. Der Fanatiker ist erlöst von der Komplexität, denn er hat die Kraft, viele Dinge nicht zu sehen. Der Fanatismus ist also die Willensstärke der Schwachen und die Lebenssicherheit der Unsicheren; dahinter steht letztlich das Begehren nach einem Befehl. Zum andern fasziniert der Fanatiker durch seine Opferbereitschaft. So wird der Glaube zur Waffe. Dem entspricht dann eine durchaus triviale Psychodynamik des terroristischen Aktes: Selbstmord ist nämlich die narzisstische Flucht vor der Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit.

Die Terroristen, Selbstmordattentäter und Amokläufer konfrontieren uns mit der harten, der gewaltförmigen Form des Wahnsinns. Es gibt aber auch eine sanfte Form des Wahnsinns, die unsere Gesellschaft langfristig ebenfalls umgestalten könnte. Wir müssen hier wieder auf die Logik der sozialen Netzwerke zurückkommen. Während die Verrückten früher isoliert waren, hat heute jeder Wahn seine Webseite. Geistesgestörte Geistesverwandte finden sich im Netz, um ihre Gleichgesinntheit zu pflegen. Eine solche virtuelle Gemeinschaft ist nicht lokal beschränkt, sondern organisiert sich weltweit nach Vorurteilen und Vorlieben. Was allein zählt, ist Gleichgesinntheit. Paradox formuliert: Wir haben es mit globalen Sekten zu tun.

Digitalisierung macht Angst epidemisch

Ein Wahn ist für viele Menschen deshalb so attraktiv, weil er die gesellschaftliche Komplexität platt schlägt und ein geschlossenes System der Welt­erklärung bietet. Während aber der harte Wahnsinn des Terrors als Angriff auf die Weltgesellschaft gewertet wird, ist der sanfte Wahnsinn gesellschaftsfähig geworden. Man denke nur an die gepflegte Hysterie in allen Umweltfragen, an die Überempfindlichkeit der Schneeflockengeneration und an den parareligiösen Greta-Kult.

Dass bei den Veganern Essen zur Religion geworden ist oder dass man den Frauen der westlichen Welt nahelegt, weniger Kinder zu bekommen, um den „ökologischen Fußabdruck“ zu vermindern, erstaunt heute kaum mehr jemanden.

Auch für diesen sanften Wahnsinn sind die Prozesse der Globalisierung und Digitalisierung ausschlaggebend. Während die Globalisierung einen Lebenshintergrund allgemeiner Verunsicherung erzeugt, macht die Digitalisierung die Angst epidemisch, denn die Informationsflut steigert die Stimmungsschwankungen der Menschen ins Extreme. Angst ist fast immer ein Kaskadeneffekt. Man fürchtet sich vor etwas, weil die anderen sich davor fürchten und weil die Medien uns dramatische Beispiele des Bedrohlichen vor Augen führen. Und daraus kann man Politik machen. Denn wer Angst hat, lässt sich in seinem Verhalten leicht vorausberechnen und kontrollieren. Greta wünscht sich ja, dass wir in Panik geraten. Panik ist aber ein Nervenzusammenbruch und eine moralische Kapitulation.

Die Kirche hat ein Orientierungsvakuum hinterlassen

Die Informationskaskaden der sozialen Netzwerke reduzieren für den Einzelnen die Kosten der Informationsverarbeitung und des Entscheidens. Heute ist nicht mehr die Information knapp, sondern die Orientierung.

Im Internet suchen wir nicht primär nach Informationen, sondern nach Führern, denen wir vertrauen können. Politische Fanatiker brauchen heute nicht mehr als eine führende Idee, eine Kommunikationsplattform und das Bedürfnis der Zugehörigkeit.

Von dem Orientierungsvakuum, das der Niedergang der christlichen Kirchen erzeugt hat, profitieren vor allem diejenigen Organisationen, die den unverändert starken religiösen Impuls in ein neues Glaubensschema umleiten können. Wir erinnern uns an die RAF, denken heute aber auch an Fridays for Future oder Extinction Rebellion oder die selbst ernannten Retter von Flora und Fauna. Sie alle entfesseln mit dem Gesetz des Herzens den Furor des Eigendünkels.

Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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