Das war's. Das große Demokratieexperiment der CDU. Die Partei hat sich für ein tapferes „Weiter so“ entschieden. Annegret Kramp-Karrenbauer ist kein Neuanfang, sondern die Fortsetzung des Alten mit anderen Mitteln. Mit ihr bleibt auch Angela Merkel Kanzlerin. Damit, fürchte ich, hat die CDU eine strategische Entscheidung gegen ihre eigenen Interessen gefällt, eine Entscheidung gegen ihre Selbsterhaltung. Denn sie hat gegen ihre Zukunft im Osten gestimmt und für die Grünen als künftige Koalitionspartner. Denen liefert sie sich nun auf Gedeih und Verderb aus. Bei den Landtagswahlen nächsten Herbst in Brandenburg, Sachsen und Thüringen dürfte die AfD kräftig zulegen. Die Spaltung des Landes wird zementiert.
Merkels letzter großer Sieg
Man kann die Wahl Kramp-Karrenbauers als letzten großen Sieg Merkels sehen, dieser vom Wesen her extrem unpolitischen Kanzlerin, die nur Machtimpulsen gehorcht, nicht in historischen Dimensionen denkt und bedenkenlos kulturelle Identitäten zerstört, weil sie selbst keine hat. Friedrich Merz und Jens Spahn hätten ihre Herrschaft gefährdet, durch ihre schlichte Präsenz auf Merkels Bilanz hingewiesen und so dringend nahegelegt, dass sie endlich geht und die Bühne frei macht für einen Kurswechsel. Nun darf sie bleiben. Sollten die Folgen ihres Handelns je zu offensichtlich werden, kann sie sich immer noch aus der Affäre ziehen, zumal vordergründig nicht ja nicht mehr sie, sondern ihre Nachfolgerin die Verantwortung trägt. Deshalb war Kramp-Karrenbauer ihre Wunschkandidatin.
Der Freitag in Hamburg war kein guter Tag für die CDU und ein noch schlechterer für das Land. Mit dieser Einschätzung bin ich vermutlich in der Minderheit. Doch angesichts der Elogen, die nun auf Merkel gesungen werden, wage ich den Einwurf, dass die Spaltung des Landes unmittelbar auf sie zurückgeht. Der feine Unterschied: Viele Ostdeutsche merken es, die meisten Westdeutschen nicht.
Flüchtlingskrise spaltet das Land in zwei Lager
Das Land zerfällt in zwei Lager, die die Ereignisse seit dem Spätsommer 2015 diametral unterschiedlich bewerten. Die Merkelfreunde beharren auf der Notwendigkeit der Grenzöffnung. Die Opposition verunsichere die Menschen, hetze gegen Zuwanderer und skandalisiere Einzelfälle, um der Kanzlerin Versagen zu unterstellen. Merkels Gegner dagegen kritisieren die Rechtsbrüche, den Verlust der Alltagssicherheit, die Schönfärberei, Denktabus und Nonchalance gegenüber eigenen Opfern.
Viele jedoch sehnen sich nach einem deutlich nüchternerem Vorgehen. Statt das zu beherzigen, wischt die Merkel-Regierung jede Kritik beiseite, polemisiert gegen Skeptiker und wertet sie moralisch ab. Unterstützt wird sie darin durch die vermeintlich Aufgeklärten, die sich der Techniken bedienen, die sie bei Populisten anprangern: Wer ihre angeblich höherwertige Position anzuzweifeln wagt, denkt nicht bloß anders, er denkt gleich falsch, selbstsüchtig, unmenschlich oder faschistisch. Hinter dieser Art Arroganz wohnt nicht nur die Angst um die eigene Deutungshoheit, sondern auch der Dünkel, die „einfachen Leute in der Ex-DDR“ seien zu borniert, um die „richtige Position“ überhaupt zu erkennen. Die Verachtung der „Eliten“ für „das Volk“ ist in Deutschland tief verwurzelt. Sie entstand nicht erst in DDR.
Merkel teilt das Erleben vieler ihrer Gegner
Trotzdem sollten wir nicht vergessen, wo Angela Merkel sozialisiert wurde. Sie teilt das Erleben vieler, die heute ihre größten Gegner sind. Menschen im Osten machten 1989 sehr andere Erfahrungen als die im Westen: Sie wechselten nicht nur das wirtschaftliche und politische System, sie setzen sich einschneidenden existentiellen Umbrüchen aus, die alles durcheinanderwirbelten, was ihnen bis dahin Orientierung, Ordnung und Kontinuität gewährt hatte. Ohne den Ort zu wechseln, fanden sie sich in einem fremden Land wieder, mit Regeln, die sie nicht kannten, die andere gemacht hatten und die das allermeiste, woran sie sich bis dahin gehalten hatten, auf den Kopf stellten. Das war nicht bloß eine Befreiung, sondern oft auch Verlust, Entrechtung und Fremdbestimmung: Eine individuelle wie kollektive, fundamentale Verunsicherung. Einerseits löste das bei vielen „konservative Reflexe“ aus, den dringenden Wunsch nach stabilen Verhältnissen, andererseits steigerte es nicht unbedingt ihr Vertrauen in vollmundige Bekundungen der politischen Führung.
Angela Merkel wiederum war, als die Mauer fiel, 33 Jahre alt, blendend ins System integriert, nie Teil der Opposition gewesen und besaß beste Aussichten, als vertrauenswürdiger, linientreuer West-Reisekader Karriere zu machen. Unabhängig davon, ob Merkel das Ende der DDR als Trauma oder Chance sah, warum soll eine, die zig schmerzhafte Anpassungsleistungen erbracht hat, sich wie ein Chamäleon immer wieder gewandelt und neu erfunden hat, Mitgefühl für andere entwickeln, die weniger geschmeidig sind, unterwegs hängenbleiben und bis heute an den alten Zeiten kleben? Sie hat die, die 30 Jahre danach noch immer „privat geht vor Katastrophe“ sagen oder von Grilletta und Broiler sprechen, Lichtjahre hinter sich gelassen. Genau darum wird sie von ihnen als Verräterin gesehen, als eine, die selbst immer wieder ihre alten Verbindungen gekappt hat.
Westliche Wohlstandsgeschöpfe
Zugleich dürfte die gelernte Ostdeutsche Merkel denen, die mit prall gefüllten Regalen voller duftenden Shampoos groß geworden sind, sich nie in der Schule oder beim FDJ klein machen mussten, aber von Freiheit und Rechtsstaat faseln, auch nicht sonderlich viel Respekt entgegen bringen. Denn die meisten dieser Wohlstandsgeschöpfe halten sich für schlau, weil sie schon mal in New York waren, aber wissen nicht, wo Eisenhüttenstadt liegt. Sie sind in ihrer oberflächlichen Weltläufigkeit erbarmungslos naiv und letztlich so leicht zu lenken wie andere, zumal sie keinen Schimmer haben, wie demokratischer Zentralismus funktioniert. Nicht viel anders ist es bei den Intellektuellen, die Wasserträger der Macht, die sich im Westen ähnlich eilfertig korrumpieren wie im Osten. Füttert man ihre Eitelkeit richtig an, tanzen sie kritiklos nach der Pfeife.
Merkel ist ein Kind der DDR. Sie ist ein Machtmensch, der die Technik des Tiefstapelns perfektioniert hat, weil er weiß, dass nichts eigene Ambitionen besser kaschiert als offensives Mittelmaß. Sie simuliert Harmlosigkeit und wappnet sich mit offensiver Bescheidenheit. Damit hat sie nicht nur unter Schafen beste Chancen auf fette Beute.
Was die postmodernen Technokraten übersehen
Weder ihrer Entourage noch den Claqueuren fällt das auf, oder es stört sie nicht, weil sie ähnlich wertfrei denken. Doch die postmodernen Technokraten übersehen, dass Leute, die in einem totalitären System sozialisiert sind, ein feineres Frühwarnsystem für Heuchelei entwickeln als andere. Die kennen die Weise, den Text und die Verfasser vom heimlichen Wein und öffentlichem Wasser.
Schnöde Fakten sind nach wie vor die bedrohlichsten Bestien auf moralischem Terrain. Selbst wenn Westler sich das nicht vorstellen mögen, viele im Osten fühlten sich nach 1989 nicht nur befreit, sondern auch kolonisiert. Wenn die Regierung einer ehemals ostdeutschen Kanzlerin laufend Dinge treibt, die an dies Trauma rühren, nutzen Selbstgerechtigkeit und Arroganz wenig. Dafür sind die Narben zu frisch, sitzt das Trauma zu tief, ist die Scham, sich damals gegenüber den „Besserwessis“ entwürdigt und geduckt zu haben, zu groß. Die Ostler ticken anders, weil ihr „Zusammenbruch“ nicht 73 Jahre zurückliegt, sondern keine 30, und einige ihn noch persönlich miterleben durften, inklusive Arbeitslosigkeit und explodierender Mieten. In Merkel sehen sie einen Wendehals wie aus dem Lehrbuch.
„Merkels Mädchen“
Der Riss quer durchs Land verläuft zwischen Unten und Oben und Ost und West, aber zumindest den zwischen Ost und West hätte die Kanzlerin absehen müssen. Sie verleugnet ihn bis heute, im Zweifelsfall aus purer Verachtung, und genau darum fürchte ich, dass sich die CDU sich am Freitag in Hamburg keinen Gefallen getan hat, als sie für „Merkels Mädchen“ stimmte.
Dafür kann Annegret Kramp-Karrenbauer nichts. Sie meint es im Zweifelsfall gut. Wer weiß, vielleicht überrascht sie uns ja alle. Aber dieser letzte Sieg der Kanzlerin ist weit toxischer als er auf den ersten Blick scheint, und auch wenn die Elogen auf Merkel das zu übertünchen suchen, das eigentlich Dramatische ist, dass die knappe Mehrheit der CDU es nicht einmal mehr merkt. Man kann dem Land und Annegret Kramp-Karrenbauer nur wünschen, dass sie es tut.