„Anne Will“ über niedrige Löhne und Altersarmut - „Die Löhne gehen an der sozialen Realität vorbei“

Bei „Anne Will“ ging es um den Niedriglohnsektor, unzureichende Renten und die Post-Agenda-2010-Konzepte der SPD. Doch die Politiker hatten dazu offenbar nur wenig zu sagen. Dafür sorgten zwei Gäste aus dem „echten Leben“ für frischen Wind

„Niedriger Lohn, magere Renten – was ist uns Arbeit wert?“, fragte Anne Will ihre Gäste / Screenshot ARD Mediathek
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Vier Millionen Menschen sind im Niedriglohnsektor tätig und verdienen weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns, fast jeder fünfte Rentner lebt in Altersarmut, immer mehr Menschen in urbanen Räumen können sich trotz Vollbeschäftigung keine Wohnung leisten – dass das kein Zustand ist, müsste in einer sozialen Marktwirtschaft Minimalkonsens sein. Was also ist schief gelaufen? Unter dem Titel „Niedriger Lohn, magere Renten – was ist uns Arbeit wert?“ diskutierte Anne Will in ihrer Sendung ebenjenen Zustand und eingeladen waren Politiker, genau, der SPD, der Grünen und der CDU, also jener Parteien, die den Zustand mitzuverantworten haben. Zur Runde gehörten Malu Dreyer (SPD), Mike Mohring (CDU), Talkshow-Stammgast Katrin-Göring-Eckardt (Grüne), Reinhold von Eben-Worlée, Präsident des Verbandes „Die Familienunternehmer“ und Quoten-Agenda-2010-Befürworter des Abends. Zu ihnen gesellte sich die Reinigungskraft Petra Vogel aus Bochum.

Eine leibhaftige „Stimme von unten“ also, und nicht bloß eine abstrakte Phrase in den Profilierungsreden sozialdemokratischer und grüner Politiker. Sie war zwar keine Friseurin, um deren Belange sich die SPD während ihres traditionelles „Linksschwenks“ kurz vor wichtigen Wahlen so besorgt zeigt. Doch immerhin gehört Vogel, Mitglied der Gewerkschaft IG Bau, zur eigentlichen Kernklientel linker Parteien.

Jede Menge Konzept-Dropping

Eine Bereicherung war Vogels Anwesenheit allemal, zumal sie mit ihrer „street credibility“ einen konkreten Kontrapunkt zum Konzept-Dropping der Parteienvertreter setzte. Im Jahr 2023 wird sie nach knapp 40 Beitragsjahren in Rente gehen und wohl auf die Grundsicherung angewiesen sein. Sie verdient bloß 1.200 Euro im Monat netto (warum wurde eigentlich nur ihr Gehalt offengelegt?). Wenn ihre Waschmaschine kaputt gehe, sagte sie, könne sie sich keine neue kaufen. Zudem sei sie auf die Solidarität anderer angewiesen, wie etwa ihrem Vermieter, der seit acht Jahren die Miete nicht erhöht habe.

Die Parteienvertreter diskutierten daraufhin ihre Konzepte: Grundrente, höherer Mindestlohn, Baukindergeld, Bürgergeld, Wohngeld, Mietpreisbremse, Grundsicherung. Die SPD fordert eine Grundrente ohne Bedürfttigkeitsprüfung und einen Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde, die CDU ist für eine Bedürftigkeitsprüfung. Im Grunde waren alle drei Politiker bemüht, sich ein bisschen selbstkritisch zu zeigen, so wie es sich eben schickt. Wirklich Verantwortung übernehmen wollte jedoch keiner. Katrin-Göring Eckardt etwa „räumte ein“, dass es ein Fehler der Agenda-Reformen war, zunächst (für 13 Jahre) keinen Mindestlohn eingeführt zu haben – nur um dann den anderen Parteien vorzuwerfen, den grünen Konzepten und somit einer besseren Gesellschaft im Weg gestanden zu haben. Heraus kamen bei dem Herumgeeiere so tiefschürfende Erkenntnisse wie: „Wir brauchen eine Mietpreisbremse, die funktioniert“ (Göring-Eckardt). Potzblitz!

Löhne gehen an der sozialen Realität vorbei

Egal, ob nun die SPD oder die CDU das bessere Konzept für eine Grundrente hat, es scheint alles nicht zu helfen. Natürlich wollte jeder Petra Vogel gefallen, die zumindest in dieser Gesprächsrunde eine gewisse moralische Diskurshoheit hatte. Doch die Reinigungskraft, die 2004 aus Wut über die rot-grüne Agenda-Politik der Linkspartei beigetreten ist, ließ sich nicht umgarnen. Auf die Frage, ob sie glaube, eine Grundrente bekommen zu müssen, antwortete sie mit ja, doch diese werde nicht reichen. Sie warf den Parteien vor, wirkungslos herumzudoktern, dabei müsse das gesamte Rentensystem verändert werden: „Es müssen Beamte, es müssen Abgeordnete und es müssen auch Selbständige mit in die Kassen einzahlen“, sagte sie.

Eine weitere Stimme aus dem „echten Leben“ kam aus den Zuschauern im Studio. Guido Fahrendholz, der, wie er sagte, die ganze Zeit auf seinem Sitz nervös hin und her gerutscht war und innerlich sichtlich kochte, als er den Anwesenden endlich seine Meinung geigen durfte. Fahrendholz arbeitet als Koordinator einer Notunterkunft in Berlin. Dorthin kämen Menschen mit Niedriglohnjobs, die von der Wirtschaft als Kollateralschaden in Kauf genommen würden: „Wie eben Reinigungskräfte, wo die Menschen mit Löhnen auskommen müssen, die an einer sozialen Realität vor allem in urbanen Ballungsräumen völlig vorbeigehen.“

Rentner verlieren Selbstachtung

Anne Will fragte ihn, ob es wirklich vorkomme, dass Menschen trotz Vollzeitbeschäftigung zu ihm kommen, weil sie sich die Miete nicht leisten können – was ihre Redaktion als „echt hart“ empfunden habe. Ja, lautete Antwort. Viele könnten sich die Energiekosten nicht mehr leisten, eine andere Wohnung in der gleichen Gegend zu bezahlbaren Preisen zu finden, sei kaum möglich. „Dann beginnt die Tortur zu den Sozialämtern, zum Grundsicherungsamt und so weiter", so Fahrendholz. Doch Vermieter seien nicht bereit, ihre Wohnungen an Menschen mit Sozialleistungen zu vermieten. Auch immer mehr Rentner könnten sich die Miete nicht mehr leisten, fuhr Fahrendholz wütend fort: „Es ist für mich eine Frechheit. Bei einem Rentner wird sich die finanzielle Situation nicht mehr nach oben bewegen. Warum werden diese Menschen ständig mit neuen Anträgen, mit Forderungen, die wie Drohungen ankommen, drangsaliert und gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt immer wieder einzufordern?“ So verlören ältere Menschen ihre Selbstachtung und hörten schließlich auf, das Geld zu beantragen.

Dass Fahrendholz so wütend war, lag auch an Reinhold von Eben-Worlée, dem Präsidenten des Verbands der Familienunternehmer, den Anne Will mit einem polemischen Statement zitierte. Die Sozialstaatspläne der SPD seien „naive Mischung aus sozialpolitischem Wünsch-dir-was und kompletter Ignoranz der Finanzierungsfrage“ und gingen zulasten der Wettbewerbsfähigkeit. In der Sendung stand Eben-Worlée zu seinen Worten. Lösungen für das Problem des Niedriglohnsektors hatte er jedoch auch nicht parat. Und so entstand durchaus der Eindruck, dass man auf der Arbeitgeberseite der Wettbewerbsfähigkeit einen solch hohen Rang einräumt, dass man dafür bereit ist, Verarmung und soziale Spannungen in Kauf zu nehmen. Dass diese Spannungen vorhanden sind, dass sie sogar kurz vorm Zerreißen sind, das zu zeigen war ein Verdienst von Petra Vogel. Und dieser Sendung. 

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