„Anne Will“ zur Corona-Krise - Herr Laschet hat ein Problem

In der ARD-Talkshow „Anne Will“ wurden die Gefahren einer zweiten Infektionswelle diskutiert. Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock inszenierte ihre Betroffenheit, Christian Lindner gab den notorischen Optimisten. Armin Laschet aber stolperte über offen eingestandene Ahnungslosigkeit.

Viel komplexes Nichtwissen / Screenshot ARD
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Wie redet man mit dem Rücken zur Wand? Fällt man zurück ins Zerknirschte oder gibt man dem Affen Zucker? Übt man Selbstkritik oder bläst zur Attacke? Die gestrige Ausgabe der ARD-Talkshow „Anne Will“ bot reichlich Anschauungsmaterial. Im stabilen Abwärtstrend befinden sich seit der Corona-Krise die Grünen, deren Farbe Annalena Baerbock hochhielt. Christian Lindner steht mit dem Rücken zur Wand, seit seine FDP in Umfragen auf die Fünf-Prozent-Marke zu fallen droht.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet sieht sich als Pionier der Lockerungsmaßnahmen von einer Bevölkerungsmehrheit getragen, bezieht aber Prügel von der Kanzlerin. Er war mitgemeint, als Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vor „falscher Sicherheit“ warnte: „Das ist eine Langstrecke, bei der uns nicht zu früh die Kraft und die Luft ausgehen dürfen.“ Laschet atmete im Fernsehstudio tatsächlich schwer und seufzte viel. Er präsentierte eine Rolle, die es bisher nicht gab: die des entschlossenen Fatalisten.

Baerbocks böser Blick

Die grüne Ko-Vorsitzende hingegen widerstand der Versuchung zum Themenpotpourri, der sie in einem Meinungsartikel gemeinsam mit ihrem Kollegen Robert Habeck gerade erlegen war. „Die Klimakrise“, stand zu lesen, „ist mittel- und langfristig für Europa eines der größten Risiken, aber gegen sie wird es nie einen Impfstoff geben. (…) Die deutsche und europäische Wirtschaft kann sich durch Klimaschutz neu erfinden und ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern.“ 

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Bei „Anne Will“ griff Baerbock in ein nicht minder klassisches grünes Regal und verband Betroffenheit mit Schuldzuweisung. „Total richtig“ sei ein Vorgehen Schritt für Schritt, auf „total dünnem Eis“ befinde sich Deutschland noch immer, virologisch betrachtet, weshalb sie „total schockiert“ sei vom schlafmützigen Vorgehen der Schulen, die besser hätten vorbereitet sein müssen auf den Tag ihrer Wiederöffnung. Sprach's mit bösem Blick in Laschets Richtung. Der daraufhin nicht zum ersten und erst recht nicht zum letzten Mal seufzte. Er hatte es nicht leicht, und er machte es sich schwer.

Irritation ersetzt nicht Information

Für die Schulen seien deren Träger zuständig, versetzte Laschet, also die Städte und Kommunen – Privatschulen schafften es nicht nachhaltig in des Ministerpräsidenten Bewusstsein. Ihn habe es in der Tat „verwundert“, wie gering die hygienischen und administrativen Vorbereitungen der Schulen gediehen waren. Der über sein Land verwunderte Ministerpräsident ist eine paradoxe Erscheinung. Für Laschet als den Chef der Exekutive sollte es Mittel und Wege geben, Verwunderung in Wissen zu verwandeln.

Irritation ersetzt nicht Information. Um den Wahrnehmungsschock abzumildern, stellte er der rot-grünen Vorgängerregierung spornstreichs ein Versagenszertifikat aus. Man dürfe nicht vergessen, dass in den zurückliegenden Jahren „die Gesundheitsämter in den Kommunen ausgeblutet“ worden seien. Die Grünen, heißt das, beschweren sich über Missstände, die sie selbst zu verantworten haben. Den Hinweis auf die Zustände im grün regierten Baden-Württemberg und im rot-grün-dunkelrot verwalteten Berlin verkniff er sich.

Mit Optimismus aus der Defensive

Was man wissen kann, wissen sollte, wissen müsste: Diese dreifache Frage bildete den geheimen Refrain der Talkshow. Die titelgebende „Sorge vor zweiter Infektionswelle“ konnte freilich im Bezirk des Wissens nicht dingfest gemacht werden. Schließlich, so Laschet, änderten die Experten und Wissenschaftler „alle paar Tage die Meinung“. Die Kriterien für einen grundlegenden Erfolg im Kampf wider das Coronavirus wechselten rasch. Da müsse die Politik „angemessen“ handeln, um eine „millionenfache Arbeitslosigkeit“ zu verhindern.

Christian Lindner, dessen FDP in Düsseldorf gemeinsam mit Laschet regiert, sekundierte schnittig: „Wer sich Sorgen macht um seine wirtschaftliche Existenz, nimmt Schaden an der Seele.“ Sofern Hygienekonzepte umgesetzt werden, „können wir uns in den Bereichen Handel, Gastronomie, Produktion sehr viel mehr zutrauen.“ Man müsse die „Risiken für die Zukunft abwägen“. Lindners Position mit der Wand im Rücken war damit klar definiert. Er will dem Optimismus eine Gasse weisen. Und so selbst aus der Defensive kommen.

Lauterbach machte einen kompetenten Eindruck

Abwägen: ausdrücklich bekannten sich auch Laschet und Baerbock dazu – und in beiden Fällen meint das scheinkluge Wort die Priorisierung der eigenen Ansichten und das Herunterdimmen der Risiken. Wer abwägt, will der Gegenseite die argumentative Butter vom Brot nehmen und die eigene Moral dagegen setzen. „Man muss abwägen“ (Laschet), damit man „Prioritäten setzen“ kann (Baerbock), nämlich die eigenen. Abwägen freilich lassen sich nur Meinungen und Ansichten, nicht „faktische Punkte“.

Diesen Begriff brachte Karl Lauterbach (SPD) ein, der im Abendrot seiner politischen Karriere schon an einer Anschlusskarriere als Twitter-Populist gearbeitet hatte, nun aber die Wonnen der Seriosität erlebt. Der Bundestagsabgeordnete und Mediziner hält die Debatte um Lockerungen für „tödlich“. Die große Nachlässigkeit bereite den Boden für eine zweite Infektionswelle im Herbst, an deren Ende Deutschland ökonomisch und gesundheitlich schlimmer geschädigt wäre, als wenn man nun zwei oder drei weitere Wochen die drakonischen Maßnahmen fortgesetzt hätte. Karl Lauterbach machte einen durchaus kompetenten Eindruck.

Zwischen Abwarten und Verwunderung

Umso mehr ließ ein bedrückendes Zahlenspiel aufhorchen. Bisher hätten sich erst zwei Prozent der Deutschen mit dem Virus infiziert, „98 Prozent stehen davor“. Also erwartet Lauterbach, der das von der Kanzlerin überstrapazierte Zauberwort „Impfstoff“ nicht in den Mund nahm, ein Ende der Pandemie offenbar erst dann, wenn die gesamte Bevölkerung sich angesteckt hat. Was wäre das anderes als die schlecht beleumundete „Herdenimmunität“?

Gerade Laschet, Lauterbachs großer Antipode, dürfte bei diesem Gedankengang nicht verwundernd abseits stehen. Laschet hatte gleich zu Beginn, leise, nuschelnd, seufzend, ausgesprochen, was ihn zum entschlossenen Fatalisten qualifiziert. „Warten wir's doch ab“: So lautete Laschets Antwort auf Lauterbachs berechtigten Einwand, man könne noch gar nicht wissen, ob die nordrhein-westfälischen Schulöffnungen wirklich „gut gelaufen“ (Laschet) seien. Zwischen Abwarten und Verwunderung findet keine Regierung dauerhaft Tritt. Herr Laschet hat ein Problem.

Humor auf Nebenschauplätzen

Bei soviel komplexem Nichtwissen, mag sich die Redaktion von „Anne Will“ gedacht haben, ist es Zeit für ein Späßchen. Man darf nicht alles bierernst nehmen, erst recht nicht in Corona-Zeiten. Und so wurde dem zahlenden Publikum ein Einspieler präsentiert mit den Plänen der DFL für die Erste und Zweite Fußballbundesliga, die im Mai mit Geisterspielen die Saison fortsetzen will.

Allen Ernstes erklärte die Stimme aus dem Off, das sei der „Plan der FußballerInnen“, die „ProfikickerInnen“ sprächen sich dafür aus. Dummerweise organisiert die DFL die beiden höchsten Ligen im Herrenfußball. Wirklich nur Männer spielen in der Ersten und Zweiten Bundesliga, in allen Vereinen, bei allen Partien, ausschließlich. Das sind wirklich faktische Punkte. Aber schön, dass man sich bei „Anne Will“ auf Nebenschauplätzen den Humor bewahrt hat.

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