Annalena Baerbocks Buch - Giffey und das „Freiwild“

Die Berliner SPD-Spitzenkandidatin äußert sich über den Plagiatsverdacht gegen Annalena Baerbock. Dabei macht sie Täterinnen zu Opfern. Das Fremdschämen geht weiter.

Nein, das ist kein Buch in ihrer Hand ... Foto: dpa | Wolfgang Kumm
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Von Jochen Zenthöfer erscheint in diesen Tagen das Buch Plagiate in der Wissenschaft - Wie „VroniPlag Wiki“ Betrug in Doktorarbeiten aufdeckt, transcript Verlag, Bielefeld, 188 Seiten, ISBN: 978-3-8376-6258-0, 19.50 Euro. Zenthöfer berichtet seit acht Jahren als Sachbuchrezensent in der FAZ. über Plagiate in Doktorarbeiten – nicht nur bei Politikern.

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Immerhin, sie ist bei Plagiatsvorwürfen Expertin aus eigener Tatherrschaft. Doch die Äußerungen von Franziska Giffey zur momentanen Debatte um Annalena Baerbocks Buch „Jetzt!“ sind irritierend. Die frühere Bundesfamilienministerin fragt sich, wie mit jenen umgegangen werde, die ihr Leben, ihre Kraft, ihre Nerven, ihre ganze Arbeit für ein politisches Amt zur Verfügung stellten: „Wenn jemand, der sich politisch engagiert, Freiwild ist für jede Form des Angriffs, der Diffamierung und der rücksichtslosen Hetze, ist das eine Gefahr für die Demokratie.“ Das ist Giffeys direkte Reaktion auf die Feststellung der „Bild am Sonntag“, dass Abschreiben, ohne die Quelle zu nennen, ein Plagiat sei.

Giffey argumentiert hier kaum anders als die ertappten Plagiatssünder aus der tschechischen oder russischen Politik. Sie zeigt damit, dass sie – wie ihre osteuropäischen Kollegen – bis heute nicht verstanden hat, was eine akademische Auseinandersetzung ausmacht. Egal, ob Baerbocks Werk nun ein Sachbuch (so Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner) oder gerade kein Sachbuch (so Baerbock) ist, es wurde der Öffentlichkeit als Debattenbeitrag vorgelegt. Kritische Stimmen sollen in dieser Debatte dann aber nicht stattfinden. Das darf nicht sein – wir sind nicht in Russland.

Für Giffey und Baerbock („Niemand schreibt ein Buch allein“ – Professor Tonio Walter dazu bei Twitter: „Äh – doch. Das tun ganz viele. Und ohne abzuschreiben.“) sind Bücher nur Mittel zum Zweck des politischen Aufstiegs. „In ihrem Buch erklärt sie, was sie persönlich als Politikerin antreibt“, heißt es vom Ullstein Verlag, und wenn das stimmt, wird Baerbock von genauso wenig Substanz angetrieben wie Giffey. Das ist kein voreingenommener Befund wie bei selbstgerechten Claqueuren, die auch dann schreien würden, hätte die Kanzlerkandidatin etwas Außerordentliches abgeliefert. 

Andere können es doch auch

Dass Politiker etwas Außerordentliches abliefern können, wenn sie zur Feder greifen, zeigen nicht nur Robert Habeck, Thomas de Maizière („Regieren: Innenansichten der Politik“) und Sahra Wagenknecht. Zumindest die beiden Letztgenannten haben nie den Anspruch erhoben, das Kanzleramt zu erobern. Baerbock schon. Sie begreift ein Buch aber nicht als intellektuelle Grundlegung. Das Werk war eingeplant als eines von vielen Highlights in einem von Spindoktoren orchestrierten Wahlkampf, positioniert zwischen Stahlwerksbesuch in Eisenhüttenstadt und Interview mit „Brigitte“-Redakteurinnen. Dass das Buch gelesen wird, damit scheinen die Grünen nicht gerechnet zu haben. In ihrem Dunstkreis diskutiert man mehr über Staffeln einer Serie als über Kapitel eines Buches. 

Doch Giffey verlangt mit ihrem Zitat noch mehr: Plagiatsdebatten darf es nicht geben, wenn die Täterin eine Politikerin ist. Allerdings gilt das nur für hauptberuflich tätige (und entsprechend finanziell entschädigte) Politikerinnen, denn Giffey spricht ja von Personen, die „ihre ganze Arbeit“ für ein politisches Amt zur Verfügung stellen. Von den Hunderttausenden, die sich ehrenamtlich in Ortsbeiräten, Stadträten und Bezirksverordnetenversammlungen engagieren, spricht Giffey nicht. 

Und was meint Giffey mit „jeder Form des Angriffs, der Diffamierung und der rücksichtslosen Hetze“? Ist die Plagiatsdokumentation auf der Wissenschaftsplattform „VroniPlag Wiki“ schon eine Form eines solchen Angriffs? Ist diese Arbeit dann ein Angriff auf die Demokratie? Sollte das ehrenamtlich arbeitende „VroniPlag Wiki“ oder sollten andere Personen, die mit Plagiatsanalysen ihr Geld verdienen, in den Berliner Verfassungsschutzbericht aufgenommen werden? Das könnte Giffey demnächst anregen, wenn sie Regierende Bürgermeisterin von Berlin oder Senatorin (für Inneres, für Wissenschaft) wird. Auch die Berliner Hochschulen müssten dann ihre Plagiatsuntersuchungen einstellen, wenn hauptamtliche Politiker betroffen sind. Der Berliner CDU-Politiker Frank Steffel hat übrigens seinen Doktorgrad von der Freien Universität im Herbst 2020 rechtskräftig verloren und übt sich seitdem in deutlich mehr Demut als Giffey.

Drohende Bildungsimplosion

Und natürlich muss Giffey bei ihrer Betrachtung der Baerbock‘schen Plagiate auch das junge-Frauen-Argument anbringen: „Offensichtlich empfinden es einige Leute immer noch als Affront, wenn sich junge Frauen um politische Spitzenämter bewerben“. Zunächst: Ja, das stimmt, und das ist ein großes Problem. Es braucht in der Tat mehr Frauen in politischen Spitzenämtern. Aber Menschen dürfen es auch als Affront empfinden, wenn sich Politiker plagiierte und fehlerhafte Texte zunutze machen wollen, um in politische Spitzenämter zu gelangen. Egal, ob m/w/d. Egal, ob Guttenberg, Giffey oder Baerbock.

Es war die SPD, die in den Siebzigerjahren die Bildungsexpansion vorangetrieben und neue Hochschulen etwa in Nordrhein-Westfalen oder Hessen gegründet hatte. Dort wurden in den vergangenen Jahrzehnten Zehntausende von Frauen promoviert, die fantastische Doktorarbeiten vorgelegt haben. Für all diese Frauen ist es ein Schlag ins Gesicht, wenn Giffey, die selbst nicht zu wissen scheint, was eine wissenschaftliche Arbeit verlangt, nun ein Sonderrecht für hauptberufliche Politiker und ein Kritikverbot für deren Bücher fordert. Das wäre eine sozialdemokratische Bildungsimplosion. 
 

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