Angstgesellschaft - Vorsicht, Panikmache!

Glaubt man den Medien, dann prägt die Angst das Lebensgefühl der Deutschen. Dabei lasse sich diese Angst statistisch nicht belegen, schreiben die Soziologen Christiane Lübke und Jan Delhey. Ein verhängnisvolles Dilemma, denn schon Berichte über eine „Angstgesellschaft“ schadeten der Demokratie

Entsteht die Angst vor Überfremdung durch Zuwanderung – oder durch die Berichterstattung über sie? / picture alliance
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Christiane Lübke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen. Die promovierte Sozialwissenschaftlerin forscht dort am Lehrstuhl für empirische Sozialstrukturanalyse zu Themen der sozialen Ungleichheit und die Folgen von Migration auf die individuellen Lebenschancen im weiteren Lebensverlauf. 

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Jan Delhay ist Professor für Makrosoziologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seine Schwerpunkte sind die Wohlfahrtsforschung und die Europasoziologie. 

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In schöner Regelmäßigkeit wird in den Medien über die Sorgen und Ängste der Deutschen berichtet. Dabei wird das Bild einer Gesellschaft gezeichnet, in der diffuse Ängste und spezifische Sorgen den Alltag der Menschen bestimmen. Ob es um Wohlstand, Arbeitsplatzsicherheit und persönliche Beziehungen geht oder um Zuwanderung, Klimawandel oder den Weltfrieden: Stets scheint es so, als hätten sich die Menschen nie mehr gefürchtet als heute, als wäre Angst das alles bestimmende Lebensgefühl moderner Gesellschaften. Und das nicht nur für Geringverdiener und untere Schichten, sondern bis weit in die Mittelschicht hinein.

Wir leben also, so die weitverbreitete Meinung, in einer Angstgesellschaft. Doch so geläufig und eingängig diese Diagnose ist, so wenig hält sie einer genauen Überprüfung stand. Tatsächlich, und das mag viele verwundern, steht sie wissenschaftlich auf dünnem Eis. Denn die populären Gegenwartsdiagnosen der Angst argumentieren eher anekdotisch als empirisch. Sie beachten nur unzureichend die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, und wo sie es tun, verzichten sie großzügig auf Kontextualisierung und längere Zeitreihen. Berücksichtigt man diese, sieht die Sache weit weniger dramatisch aus: Nach unserem Dafürhalten ist die Rede von der Angstgesellschaft mehr Panikmache denn zutreffende Gesellschaftsbeschreibung.

Ängste folgen Konjunkturen

Die soziologische Umfrageforschung hat eine lange Tradition, Aspekte des negativen subjektiven Wohlbefindens – darunter auch Sorgen und Ängste – anhand standardisierter Indikatoren zu messen. Diese Daten reichen teilweise bis in die 1980er Jahren zurück und erlauben verlässliche Aussagen über langfristige Trends. Wenn man sich diese Zahlen anschaut, sieht man, dass sich die Menschen in Deutschland natürlich von Zeit zu Zeit Sorgen machen. Das bestreiten wir auch nicht. Aber: Es gibt über einen längeren Zeitraum betrachtet keine generelle Zunahme von Sorgen und Ängsten – schon gar nicht bei vielen persönlichen, d.h. auf das eigene Leben bezogenen Sorgen.

Vielmehr folgen Sorgen und Ängste gewissen Konjunkturen, sie steigen mal an und nehmen auch wieder ab. Sehr schön sieht man das an den wirtschaftlichen Sorgen, beispielsweise der Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes. Diese Angst hatte sich als Reaktion auf die Hartz-Reformen und parallel zur zwischenzeitlich gestiegenen Arbeitslosigkeit tatsächlich über mehrere Jahre erhöht, ist aber nun seit längerem wieder rückläufig und derzeit auf einem historischen Tiefstand! Diese positive Entwicklung gilt auch für andere wirtschaftliche Sorgen – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Menschen haben Ängste, wenn es Anlass zu gibt

Die Zuwanderung ist ein Thema, das zuletzt starke Sorgen und Ängste ausgelöst hat – im Übrigen sowohl als Angst vor der Zuwanderung als auch als Angst vor der Fremdenfeindlichkeit. Das ist als durchaus verständliche Reaktion auf die historische Ausnahmesituation der Flüchtlingsbewegung von 2015/16 zu werten, ohne die es den Zuwachs der migrationsbezogenen Sorgen in dieser Größenordnung nicht gegeben hätte. Die Frage ist allerdings auch, ob und inwiefern bestimmte Bewegungen und Parteien diese Sorgen nicht auch für ihre Zwecke verstärkt und instrumentalisiert haben. 

Auch einige andere gesellschaftsbezogene Sorgen und Ängste sind stark ereignisgetrieben, zum Beispiel durch Terrorismus, Anschläge oder Kriege. Damit sind sie ein wichtiger Indikator für den Gefühlszustand der Gesellschaft. Wie ein Seismograph zeigen sie uns an, wie die Menschen aktuelle Entwicklungen wahrnehmen und interpretieren. Die Annahme jedoch, die Menschen hätten heute pauschal vor allem und jedem Angst, wird durch das empirische Material nicht gestützt. Die Menschen haben dann Ängste, wenn es Anlass dazu gibt.

Ein weiterer weit verbreiteter Irrglaube ist, dass Sorgen und Ängste keine sozialen Grenzen mehr kennen würden und auch die traditionell gut abgesicherte Mittelschicht zunehmend von Sorgen und Ängsten geplagt wird. Ein Blick in die Daten zeigt aber, dass persönliche Sorgen, also beispielsweise die um die Sicherheit des Arbeitsplatzes oder die Absicherung im Alter, nach wie vor bei den unteren Schichten deutlich häufiger vorkommen als bei den Mittelschichten. An diesem sozialen Gradienten hat sich in den vergangenen  zwanzig Jahren wenig geändert.

Der Reiz von Untergangsszenarien 

Viele gesellschaftsbezogene Sorgen hingegen stehen nicht – und standen nie – im Zusammenhang mit der sozialen Position einer Person. Angehörige der Mittelschicht und der unteren Schichten haben sich schon immer, sofern es Anlass dazu gab, um Dinge wie den Erhalt des Friedens oder den sozialen Zusammenhalt gesorgt.

Auch wenn die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung eine recht klare Sprache sprechen – es wird nicht einfach sein, das unzutreffende Bild der Angstgesellschaft aus den Köpfen der Menschen zu bekommen. Das könnte vor allem daran liegen, dass sowohl die Massenmedien als auch das sozialwissenschaftliche Genre der Gegenwartsdiagnosen einer gewissen Effekthascherei nicht abgeneigt sind. Da wird pauschalisierend vom „Lebensgefühl Angst“, von der „Generation Angst“ oder eben einer „Gesellschaft der Angst“ gesprochen. Alarmierend wirken auch undifferenzierte Berichte über die „Abstiegsgesellschaft“, in der wir angeblich leben, oder über das „Ende der Mittelschicht“, das uns droht. Schlechte Nachrichten und Untergangsszenarien verkaufen sich da allemal besser als der nüchterne Befund, dass natürlich nicht alles rund läuft in unserer Gesellschaft, aber die Menschen dennoch ganz gut zurechtkommen – und viel weniger Ängste und Sorgen haben, als vielfach suggeriert wird.

Aufregungsschäden

Der Disput, ob Deutschland nun eine Angstgesellschaft ist oder nicht, ist mehr als ein akademisches Glasperlenspiel. Medial diskutierte Diagnosen wirken auf die Gesellschaft zurück. Verbreitet sich das Bild der vermeintlichen Angstgesellschaft, macht sich Unzufriedenheit breit, auch politische; es besteht die Gefahr, dass die Menschen das Vertrauen in etablierte Parteien und Institutionen verlieren und sich (rechts-)populistischen Bewegungen und Parteien zuwenden. Angst kann eine Gesellschaft bedrohen. Aber auch die Rede von einer Angstgesellschaft, wo eigentlich keine ist, kann Aufregungsschäden verursachen. Dagegen hilft nur nüchterne soziologische Aufklärung.

 

 

Christiane Lübke / Jan Delhey (Hg.), Diagnose Angstgesellschaft? Was wir wirklich über die Gefühlslage der Menschen wissen. transcript Verlag, 2019

 

 

 

 

 

 

 

 

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