Angst vor der vierten Welle - Haltet die Schulen offen!

Die besonders ansteckende Delta-Variante des Corona-Virus breitet sich auch hierzulande aus. Kinder werden bald die einzigen ohne Impfangebot sein. Gleichzeitig belegen immer mehr Studien, wie stark sie langfristig unter Lockdowns leiden. Wir schulden Kindern offene Schulen und Kitas.

Schülerin einer 1. Klasse beim Corona-Selbsttest Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
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Autoreninfo

Uta Weisse war Online-Redakteurin bei Cicero. Von Schweden aus berichtete sie zuvor als freie Autorin über politische und gesellschaftliche Themen Skandinaviens.

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Wenn ich an Schulschließungen denke, spult sich vor meinem geistigen Auge Schreckliches ab: Wie ich versuche, mit bemüht ruhiger Stimme, mein quengelndes Kind zu überreden, seine Hausaufgaben zu machen, während ich mich eigentlich schon ins nächste Telefonat mit den Kollegen einwählen müsste. Weil meine Arbeit ansonsten liegen bliebe, gehe ich schließlich den Weg des geringsten Widerstandes – das Kind wird mit dem Tablet ruhiggestellt. Der Tag schlabbert an uns vorbei. Bewährte Routinen schmelzen dahin. Mich plagt ständig ein schlechtes Gewissen. (Zu den Konsequenzen, die meinem Kind drohen, später mehr.)

Das ist bisher nur Kopfkino. Die Aufregung, auch bei mir, war kurz groß, als eine Kollegin der Süddeutschen Zeitung in ihrem Kommentar Gesundheitsminister Jens Spahn mit der Aussage zitierte, der Schulbetrieb werde im Herbst wieder im Wechselbetrieb stattfinden. Sie hatte sich geirrt, der Unterricht werde zwar nicht im Normalbetrieb stattfinden, hatte Spahn gesagt, aber damit war kein Wechselunterricht gemeint. Puh! Ein fahler Nachgeschmack bleibt trotzdem. Was, wenn, wie im vorigen Jahr, Schulen geschlossen werden, weil die Infektionszahlen im Herbst außer Kontrolle geraten?

Erwachsene genießen Freiheiten

Das Gesetz zur Bundesnotbremse ist ausgelaufen, die Homeoffice-Pflicht zum 1. Juli gefallen. Und auch die Reisesaison nimmt Fahrt auf. Für 80 Länder hat das Auswärtige Amt jüngst Reisewarnungen aufgehoben. Aus vielen Ländern, die bisher als Risikogebiete eingestuft waren, werden Urlauber nach aktuellem Stand, sofern sie nicht mit dem Flugzeug reisen, auch ohne negativen Corona-Test oder Impfnachweis nach Deutschland zurückkehren können. Zum Beispiel aus Städten, wo EM-Fußballfans in pickepackevollen Stadien jubeln, brüllen, feiern – perfekte Superspreader-Events.

Wir Erwachsenen genießen also zunehmend unsere Freiheiten. Und das trotz der Delta-Variante! Die Inzidenz sinkt zwar seit Wochen bundesweit, aber mittlerweile würden laut Robert-Koch-Institut fast 50 Prozent der Neuinfektionen durch die anstreckendere Virus-Mutante verursacht. Auch Geimpfte können Überträger sein. Stellen Sie sich vor, wie ich eine exponentielle Kurve mit dem Finger in die Luft zeichne …

Vulnerable Kinder

In Großbritannien sollen Infektionen mit der Delta-Variante sogar schon 99 Prozent der Neuinfektionen ausmachen, viele Kinder würden im Krankenhaus behandelt. Das sagte Karl Lauterbach (SPD) am Montag gegenüber der Rheinischen Post. Laut dem Gesundheitspolitiker sollten deshalb Kinder schon ab zwölf Jahren geimpft werden und die Ständige Impfkommission ihre Empfehlung zur Impfung von Kindern hierzulande nochmals überdenken. Nachvollziehbar, schließlich hat sich das Blatt gewendet.

Während zu Beginn der Pandemie die Alten und Schwachen besonders vulnerabel waren und Kinder in der Regel keine ernsten Krankheitsverläufe fürchten mussten, kehrt sich das Bild nun ins Gegenteil. Mehr als 55 Prozent der Bevölkerung, hauptsächlich Erwachsene, sind hierzulande mindestens einmal geimpft. Kinder werden also bald die einzigen ohne Impfangebot sein, riskant.

Langfristige negative Folgen

Bei Anstieg der Inzidenz könnten Schulen und Kitas zudem wieder geschlossen werden. Und damit wären wir bei den nachgelagerten Folgen: den Defiziten beim Lernen, dem Verlust von sozialen Kontakten, einem sicheren Umfeld. Wenn Kinder nur ein Drittel des Schuljahres verpassen, können sie im Schnitt schon mit einem drei bis vier Prozent geringeren Einkommen rechnen – über das gesamte Berufsleben gerechnet, das geht aus einer Ifo-Studie hervor. Für Schüler aus ohnehin unterprivilegierten Gesellschaftsschichten ist die Lernlücke noch größer, wie sollte es auch anders sein. Ferner haben Kinder unter Lockdown-Bedingungen häufiger Übergewicht entwickelt, litten öfter unter Vereinsamung, psychischen Problemen wie Depressionen, wurden vermehrt Opfer von Misshandlung oder gar sexuellem Missbrauch.

Während zu Beginn der Pandemie nur gemutmaßt werden konnte, gibt es jetzt belastbare Daten. So fordert etwa die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina nach Auswertung empirischer Studien, die Politik müsse Bedingungen schaffen, um Schulschließungen zu vermeiden. Der Präsenzbetrieb sei nun mal die beste Art zu lernen.

Bisher will sich kein Bundesland festlegen, Schulen und Kitas auch im Herbst durchgängig zu öffnen. Wie viele Luftfilter nach monatelanger Diskussion tatsächlich in Bildungseinrichtungen installiert worden sind, ist nicht bekannt.

Während wir Erwachsene uns über unkompliziertes Reisen und weitere Lockerungen freuen, sollten wir im Hinterkopf haben, wer dafür im Herbst gegebenenfalls die Rechnung zahlt.

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