Angela Merkel - Die Unverständliche

In ihrer neuen Videobotschaft erweckt die Kanzlerin den Eindruck, die Regierung könne ohne den Bundestag Gesetze beschließen. Solche Versprecher sind symptomatisch. Angela Merkel kann nicht klar kommunizieren. In Krisenzeiten ist das fatal.

Angela Merkel: Ungewohnt unkonzentriert / dpa
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Am Montag fand im Bundeskanzleramt der elfte Integrationsgipfel statt. Die Hausherrin nahm daran teil. In ihrer wöchentlichen Videobotschaft wies Angela Merkel vorab darauf hin. Der Integrationsgipfel, sprach Merkel, sei in diesem Jahr besonders wichtig, „weil ab dem 1. März das Fachkräfteeinwanderungsgesetz gilt, das heißt, vermehrt auch fachlich qualifizierte Menschen zu uns nach Deutschland kommen werden.“ Und wegen der „schrecklichen rassistischen Morde in Hanau und anderen Ereignissen“. Das Kabinett habe bereits „ein Gesetz verabschiedet zur Bekämpfung von Rechtsradikalismus und Hasskriminalität.“ Wie bitte? Die Regierung erlässt neuerdings Gesetze? Braucht es den Bundestag nicht mehr? Es war nicht der erste sprachliche Lapsus von Angela Merkel, der Fragen aufwirft.

Merkels Videobotschaft vom 29.2.2020 / Screenshot

Natürlich kennt Angela Merkel das Grundgesetz. Natürlich weiß sie, dass in einer Demokratie alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Natürlich ist ihr die Trennung von Exekutive und Legislative, Regierung und Parlament geläufig. Daran bestehen keine Zweifel. Gewiss hätte sie, wäre sie angesprochen worden, den Lapsus so korrigiert, wie es das Bundespresseamt dann tat. In der offiziellen Textversion wie auch im Untertitel steht zu lesen, was Angela Merkel gemeint haben muss, aber eben nicht sagte: dass von der Bundesregierung am 19. Februar „ein Gesetzentwurf verabschiedet worden“ sei. So jedoch wiegt der Fehler doppelt schwer. Durch die stillschweigende Korrektur wird man erst recht auf die Falschaussage gestoßen. Und zur Frage provoziert, warum die fragliche Stelle nicht noch einmal aufgezeichnet wurde.

Ungewohnt unkonzentriert 

Die Kanzlerin macht im aktuellen Video einen ungewohnt unkonzentrierten Eindruck. Es gibt mehr Schnitte als sonst, sie artikuliert an zwei Stellen undeutlich. Vielleicht liegen mildernde Gründe vor für den Fauxpas. Vielleicht sollten wir nonchalant darüber hinweg gehen und das Gemeinte stillschweigend ergänzen.

Andererseits ist kommunikative Inkompetenz ein Charakteristikum dieser Kanzlerschaft und keine Lappalie. Legendär blieb eine Aussage am Ende der sommerlichen Pressekonferenz des Jahres 2018. Auch damals griff das Bundespresseamt nachträglich korrigierend ein. Verkündet hatte Merkel: „Für die Bundesregierung kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen werden und da, wo immer das notwendig ist, auch tun.“ Das klang ganz so, als fühlte sich die Bundesregierung nicht immer an Recht und Gesetz gebunden, als wäre Rechtstreue zurückgestuft von der aktuellen Praxis zur künftigen Absicht. Schriftlich wurde daraus, was gemeint gewesen sein muss: „Für die Bundesregierung kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen und werden“. 

Mehr als bloße Zutat

Nicht nur, aber besonders in krisenhafter Zeit ist politische Kommunikation mehr als bloße Zutat zum politischen Handeln. Sie ist dessen Essenz. Krisen eskalieren nur dann nicht, wenn sie auf nachvollziehbares, verständliches, vernünftiges Handeln treffen. Es dürfen keine Zweifel bleiben, dass der Staat in guten Händen liegt bei denen, denen auf Zeit die Verantwortung anvertraut ist.

Eine Kanzlerin, die interpretatorischer Nachsorge bedarf, ist nicht, was Aufgabe jeden Kanzlers sein muss, Anker der Verlässlichkeit, Garant demokratischer Stabilität. Wer sich nicht unmissverständlich und damit nachprüfbar zu erklären weiß, der nimmt demokratischer Macht ihre Transparenz. Der entkoppelt die Macht von ihrer Kontrolle, die unter demokratischen Vorzeichen im Wesentlichen ein Sprachereignis ist. Wort muss auf Widerwort stoßen, Argument auf Gegenargument. Im offenen Ringen um die Wahrheit bildet sich die Republik. Wer viel redet, aber nicht meinen kann, was er sagt, ist ein kommunikatives Sicherheitsrisiko. So befriedet man keine Gesellschaft, so verunsichert man sie. Und gibt zu Grübeleien Anlass: Warum überging die Kanzlerin den Bundestag, warum relativierte sie die Rechtstreue der Exekutive? Ernst gemeint haben kann sie ja beides nicht.

Auch Monarchien können Menschen begeistern

Was etwa ist von dieser Aussage zu halten? „Demokratien haben die Aufgabe, den einzelnen Menschen mitzunehmen und ihn für etwas zu begeistern.“ (Angela Merkel am 23.1.2020)  Man kann sich denken, wie es vermutlich gemeint ist: Demokratie braucht überzeugte Demokraten. So aber, wie es gesagt ist, beschreibt es keineswegs das Typische der demokratischen Regierungsform. Auch Monarchien können Menschen für etwas begeistern, nur sind es dann eben begeisterte Untertanen, nicht Bürger. Demokratie meint Macht auf Zeit, Macht durch Wahlen, Macht durch Kontrolle. Demokratie kann nicht von oben her definiert werden.

Im Spätherbst der politischen Karriere Angela Merkels gehe es um ihr Vermächtnis. So steht es nun geschrieben. Es wäre gut für eine polarisierte Gesellschaft, wenn sie sich von diesem Teil des Merkelschen Erbes emanzipieren könnte: von der Unfähigkeit und Unwilligkeit zum verständlichen Wort. Verständnis füreinander kann nur wachsen, wenn wir uns verstehen – und wenn wir verstanden werden wollen.

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