Angela Merkels Russlandpolitik - Story und History

An der aktuellen desolaten Lage sind nicht nur die Sozialdemokraten schuld. Vielmehr muss sich auch die einst omnipräsente Kanzlerin jetzt endlich einer Aufarbeitung der Geschichte stellen. Das ist bisher auch deshalb nicht geschehen, weil die Huldigungspublizistik, die der Ära Merkel ihr gesichtsloses Gepräge gab, noch immer nachklingt.

Angela Merkel hatte eine lange Geschichte der Zusammenarbeit mit Wladimir Putin. Es ist höchste Zeit, dass diese endlich aufgearbeitet wird - hier sind vor allem die Medien gefragt / dpa
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Die Täter sind gefasst. Es waren die Sozialdemokraten: Ihnen ist die verunglückte Russlandpolitik zur Last zu legen – von Brandt und Bahr über Schmidt und Schröder bis hin zu Steinmeier und Scholz. Der Prozess läuft bereits. Der Donner von Putins Geschützen liefert die Geräuschkulisse dazu. Verhandelt wird eine Geschichte, die einerseits Story ist, andererseits History. Zur Story: Die Sozis werden angeklagt, als hätten sie in den vergangenen vier mal vier Jahren Legislatur den Kanzler gestellt. Stand Steinmeier an der Spitze oder Gabriel oder gar schon Scholz? Deutschlands Medien verlustieren sich an der Vorführung der Genossen. Eine Teufelsaustreibung mitsamt Beelzebub. 

Aber gab es da nicht sonst noch jemanden, den die scharf schießenden Journalisten schonen, ja, der ihnen partout nicht in den Sinn kommt – und deshalb schon gar nicht vor die Flinte? Eine Figur, die mächtig Macht hatte in jenen vergangenen 16 Jahren? Einst huldigte man der Entschwundenen mit den Worten: „Vielleicht hat noch nie zuvor ein mächtiger Mensch über einen so langen Zeitraum so viel schiere Politik gemacht, eine vergleichbare Menge an Problemen in Lösungen verwandelt, mehr Macht aus seiner Macht generiert.“

Euer Durchlaucht Merkel

Nein, kein Liebhaber verfasste diesen Minnesang, übrigens und in allem Ernst veredelt mit Verszeilen aus dem Abendlied von Matthias Claudius. Die Zeit war’s! Das einst so nüchterne Blatt aus Hamburg hat den Kitsch zur Klampfe intoniert – das Leitmedium der leicht linksgeneigten Leserschaft des Landes. Es ist ja auch wahr, die so salbungsvoll besungene Staatsaktrice tänzelte über die roten Teppiche dieser Welt, als wandle sie übers Wasser – die mächtigste Frau des Erdenrunds, wie zu beweihräuchern sogar die Weltmedien nicht umhinkamen. 

Angela Merkel! 

Ist die hiermit Gefundene und Genannte in ihrer so lange und so lustvoll ausgelebten Machtvollkommenheit womöglich auch beteiligt an der russischen Gasfessel um die Gurgel Deutschlands? Oder an der Abhängigkeit fatal vieler Arbeitsplätze von der Wirtschaft der KP Chinas? Dass die SPD vor den historischen Gerichtshof gezerrt wird, ist ja nicht falsch. Sie steht für alle, die so dachten, wie sie politisierte. Also für fast alle. Dieses „alle“ allerdings schließt jene eine ein, die eine gefühlte Ewigkeit die Kanzlermacht mitsamt Richtlinienkompetenz feierlich vor sich hertrug. 

Warum nur fällt die Erinnerung so schwer? Warum nur wundert sich niemand über den schnippischen Gruß der einst omnipräsenten Kanzlerin aus Florentiner Ferientagen? Hat die hohe Frau zu den fatalen Fehlentwicklungen unter ihrer Federführung nichts zu sagen? Auch nichts zu Nord Stream 2? Die Pipeline genoss bis zuletzt ihren Segen. Im aktuellen politischen Vexierbild wäre freilich noch ein weiterer Akteur zu identifizieren, denn so ausschließlich aus eigener Kraft war die Mächtige der ominösen letzten 16 Jahre ja nicht allmächtig. Wer schält sich da heraus, wenn man nur geduldig genug hinguckt? 
Die Medien.

Merkelkritik wäre Selbstkritik

Sie sind die auffällige Leerstelle im Blick zurück. Ein Vakuum, das täglich auffälliger wirkt, erfüllt der deutsche Journalismus doch heute genau das, was er sich 16 Jahre lang zu erfüllen weigerte: Kritik an der Kanzlermacht, und zwar ätzend, polemisch, demagogisch, zutreffend, übertrieben – der amtierende Regierungschef kassiert Zurechtweisung für jedes Wort, das er sagt, oder nicht sagt, oder verquer sagt, oder zu leise oder zu laut sagt. Olaf Scholz kann es gerade niemandem recht machen. 
Angela Merkel machte es ihren journalistischen Hofschranz*innen, vom Spiegel über die Öffentlich-­Rechtlichen bis zur Zeit, im Prinzip und auch im Zweifelsfall alleweil recht. Gelegentliche Nasenstüber für die „Königin“, die „Mutti“, die „Staatsfrau“ schönten den publizistischen Mainstream mit täuschenden Farbtupfern. 

Die Huldigungspublizistik, die der Ära Merkel ihr gesichtsloses Gepräge gab, klingt noch immer nach. Die Süddeutsche Zeitung, damals ganz vorne mit von der Partie, wenn’s ums Feiern der Weltkanzlerin ging, widmete der Verzwergung der Bundeswehr Ende April drei volle Seiten, inklusive Titelfotografie. Darauf zu sehen waren die Verantwortlichen für das eben gerade erkannte Desaster: Guttenberg, de Maizière, von der Leyen. Und sogar Merkel – für die Süddeutsche Zeitung eine wahre Zeitenwende. Wie aber war Merkel hier abgebildet? Genau gleich groß wie die drei CDU-Militärvorsteher – als sei sie, die Kanzlerin, nicht die Chefin der Minister gewesen; als hätte sie diese nicht berufen; als trüge sie nicht die oberste Verantwortung dafür, dass die Bundeswehr jüngst noch kurz vor der Fusion mit dem Bund deutscher Pfadfinder stand. 

Wie ist diese bildsprachliche Milde zu erklären? Ganz einfach: Würde Merkel vors deutsche Geschichtsgericht zitiert, um Rechenschaft abzulegen – von der Flüchtlingspolitik über Atomausstieg und Verteidigungsverzicht bis zu Russland-Appeasement mitsamt Chinaverkennung, dann müssten die Laptop-­Mittäter auch mit sich selber ins Gericht gehen: mit ihrem jahrelangen Merkel-Schongang.

Feedback ist immer gut

Mit dem Scholz-Bashing und der Geißelung der Genossen holen sie nun das sträflich Versäumte nach. Der SPD kommt’s zugute. Sie lernt. Und die Bürgerschaft freut sich über die Renaissance der Mediendemokratie. Gibt es eine Demokratie ohne Medien? Fast war es so in den Merkel-Jahren. Jetzt aber ziert der Bespieler des Bundeskanzleramts wieder den Spiegel-­Titel – mit scharf urteilendem Unterton. 

Wäre die viermalige Wahldemokratie von Angela Merkel auch eine Debattendemokratie gewesen, mithin gelebte Demokratie – die vife Kanzlerin hätte gewiss ebenfalls gelernt. Zum Beispiel, was eine offene Gesellschaft Politik und Bürgern täglich abfordert: Streit! Und zwar nicht wohlgeordneten, wie ihn seit einiger Zeit die Zeit vorgaukelt, indem sie das anarchisch-freisinnige Lebenselement der Demokratie in einer Rubrik „Streit“ domestiziert. 

Oh, wäre die Kanzlerin doch nur immer wieder bitterbösen Medien ausgesetzt gewesen – wie gut wäre sie vielleicht noch geworden!

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

 

 

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