Internationale Presseschau zu Angela Merkel - „Die Methode Merkel hat sich erschöpft“

Angela Merkels Entscheidung, auf den Parteivorsitz der CDU zu verzichten, löst in der internationalen Presse ein geteiltes Echo aus. Viele kritisieren, die Kanzlerin habe den richtigen Zeitpunkt zum Abtritt verpasst. Andere sorgen sich nun um die Stabilität in Europa

Glanzvoller Abgang? Die internationale Presse hat da bei Angela Merkel ihre Zweifel / picture alliance
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New York Times (USA) 

Der Rückzug ist keine Überraschung, kommt aber trotzdem als Schock. Es unterstreicht die neue Zerbrechlichkeit deutscher Politik und die große Unsicherheit für Europa ohne Frau Merkel an der Spitze. (...) Deutschland ist seinen kleineren Nachbarn ähnlicher geworden, die eine ähnliche politische Zersplitterung erlebt haben - darunter Spanien, Italien und die Niederlande.

Ouest-France (Frankreich):

Was sich beim CDU-Parteitag im Dezember abspielen wird, wird also ausschlaggebend sein. Wie alle rechten, europäischen Parteien ist die CDU gespaltener Meinung darüber, wie man dem Auftauchen einer nationalistischen, xenophoben und identitären Kraft an ihrer rechten Seite die Stirn bieten soll. Muss man dieser Gesinnung den Hof machen, so wie die bayrische CSU von Innenminister Horst Seehofer es in den letzten Monaten versucht hat und dabei viele Federn gelassen hat? Oder muss man sich davon distanzieren? Die Zweitplatzierte hinter Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer, für die Presse oft auch einfach AKK, ist für die zweite Option.

The Guardian (Großbritannien):

Frau Merkel hat die deutsche Politik so lange dominiert, dass ihr Abgang zwangsläufig traumatisch sein muss. Sie hat sich konsequent für das deutsche Model der sozialen Marktwirtschaft eingesetzt, zu einer Zeit, als deren zwei Säulen, soziale Gerechtigkeit und solide Finanzen, herausgefordert wurden. Die wirtschaftliche Stärke ihres Landes hat vielen Deutschen Belastungen erspart, unter denen andere Nationen gelitten haben. Doch die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 – zu der sie eine liberale, pragmatische Haltung einnahm – brachte Konsequenzen mit sich, die sie nicht gemeistert hat. Ihr Nachfolger wird bei der wichtigen Aufgabe, unserem unruhigen Kontinent wieder Zuversicht zu geben, aus ihren Stärken ebenso wie aus ihren Schwächen lernen müssen.

Daily Telegraph (Großbritannien) 

Das Vermächtnis Angela Merkels in ihrer Heimat und in der EU scheint Stillstand zu sein. Die Zersplitterung des politischen Spektrums in Deutschland fällt in ihre Regentschaft und hat dazu geführt, dass in Europas Machtzentrum das Schreckgespenst der Unregierbarkeit umgeht. Indem Merkel auch nach dem kommenden Dezember Kanzlerin bleiben will, wird sie diesen beunruhigenden Trend weiter verstärken. Die politische Polarisierung in der EU prägte Merkels 13 Jahre als dominierende politische Persönlichkeit Europas. Ihr Rückzug auf Raten wird diese nicht rückgängig machen

Die Presse (Österreich): 

Sicher ist, dass sich die Methode Merkel erschöpft hat. Zu den historischen Verdiensten der CDU-Chefin zählt zwar, die Partei mit einem Modernisierungskurs entstaubt und für junge und urbane Schichten geöffnet zu haben. Merkel stellte auch die SPD kalt: Sie vollzog dafür eine innere Wende weg von der neoliberalen Reformerin hin zur großkoalitionären Landesmutter. Sie verwischte die Unterschiede zur SPD. Doch der Preis der Methode Merkel war hoch, auch für die eigene Partei, die an schwerer Profilschwäche leidet. Und die rechte CDU-Flanke öffnete sich für die AfD, deren Erstarken immer mit der Ära Merkel verbunden bleiben wird.

Der Standard (Österreich):

Natürlich ist Merkel nicht an allem schuld. Aber sie hat schon recht, wenn sie darauf hinweist, dass an ihr als Chefin vieles hängenbleibt. Und in letzter Zeit machte sich immer deutlicher eine Überzeugung breit, dass alles irgendwie besser liefe, wenn Merkel nicht mehr am Ruder wäre. Das ist verständlich, wenn jemand 18 Jahre den Parteivorsitz innehatte.

Neue Züricher Zeitung (Schweiz):

Die Kanzlerin hat mit ihrem Entscheid, weiterhin am Kanzleramt festzuhalten, die Chance eines glanzvollen Abgangs endgültig verpasst. Stattdessen muten ihre Ankündigungen eher als ein Manöver an, das die verbliebene Macht noch so lange wie möglich in die Zukunft hinüberretten soll. Der Verzicht auf das Parteiamt ist ein Blitzableiter. An der neuen Person an der Parteispitze und an den Kämpfen um die nächste Kanzlerkandidatur sollen sich in den kommenden Jahren die Medien und die politische Konkurrenz innerhalb und außerhalb der Partei abarbeiten, während die Grand Old Lady im Kanzleramt noch drei Jahre lang weiter die Fäden zieht. Das ist ganz nach dem Geschmack der legendären Zauderin, die sich stets durch ihre Meisterschaft ausgezeichnet hat, politische Krisen auszusitzen und ihre Kritiker ins Leere laufen zu lassen.

Hospodářské Noviny (Tschechien)

Egal, was wir von der Kanzlerin und ihrer Partei denken - die EU braucht ein stabiles und berechenbares Deutschland als Motor, idealerweise im Tandem mit Frankreich. So gesehen, ist Merkels Ankündigung eine schlechte Nachricht für Europa. ... Mit ihrer unerwarteten Entscheidung – der wenig überdachten, aber sehr menschlichen Geste der Öffnung der Grenzen Deutschlands und Europas für Hunderttausende Flüchtlinge – ist ihr ein sorgsam geplanter Abgang aus den Händen geglitten. ... Die Deutschen durchlebten dank Merkel die turbulentesten Zeiten seit Ende des Krieges in einer Art Blase, symbolisiert von einem Budgetüberschuss, einer relativ schwachen Armee und einem starken Sozialstaat. Jedweder Nachfolger wird es zu Hause wie im Ausland schwer haben.

Rzeczpospolita ( Polen)

Die Ursache für die Unruhe in der CDU ist nicht nur die Unzufriedenheit mit Merkels Einwanderungspolitik, die vor einigen Wochen zu einem heftigen Konflikt mit der bayerischen CSU führte und die Stabilität der Regierung in Berlin bedrohte. Viele konservative Politiker wollen sich nicht damit abfinden, dass das 'C' im Namen der CDU verblasst, das Christliche. Es ist das Werk von Merkel, die ihre Partei stark in Richtung der politischen Mitte bewegt hat. Sie gewann Wahlen, aber mit immer schwächeren Ergebnissen.

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