Andrea Nahles und Theresa May - Zwei Prügel-Damen

Nach wie vor stehen Frauen in Europa nur selten an der Spitze namhafter Parteien. Nun haben sich die beiden prominentesten unter ihnen noch in derselben Woche von der politischen Bühne verabschiedet – wenn auch nicht freiwillig. Mussten sie gehen, weil sie Frauen sind?

Opfer ihrer eigenen Ausfälle: Andrea Nahles / picture alliance
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Stephan-Götz Richter ist Herausgeber und Chefredakteur des Online-Magazins „The Globalist“, zusätzlich schreibt er auf seiner deutschen Webseite. Er hat lange Jahre in Washington, D.C. verbracht und lebt und arbeitet seit 2016 in Berlin.

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Nach wie vor stehen Frauen in Europa nur selten an der Spitze namhafter Parteien. Jetzt haben die beiden prominentesten unter ihnen dem unablässigem Druck ihrer parteiinternen Widersacher endlich nachgegeben. Theresa May und Andrea Nahles verabschieden sich in derselben Kalenderwoche von der politischen Bühne.

Was die beiden Frauen bei allen ideologischen Unterschieden eint, ist, dass für beide ihre jeweilige Partei bisher ihr zentraler Lebensinhalt war. Ihre höchste Ambition war es schon seit ihrer Jugend, zumindest an die Spitze ihrer eigenen Partei zu gelangen. Insofern ist die hauptsächlich von männlichen Widersachern gnadenlos betriebene Entfernung aus ihren Ämtern für die beiden persönlich äußerst schmerzlich. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass beide tendenziell in ein tiefes Loch fallen werden.

Tough wie ein Mann 

Nun kann niemand behaupten, dass Theresa May, die scheidende britische Premierministerin und Vorsitzende der Konservativen Partei, sowie Andrea Nahles, die bisherige SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende, fehlerlos agiert haben. May war viel zu lange viel zu unflexibel, als es um den Brexit ging. Und Nahles hat bis heute immer wieder Schwierig­keiten, sich auf der großen Bühne angemessen zu verhalten und nicht allzu dreist zu wirken.

Auch wenn das immer wieder insinuiert wurde, hatte das politische Scheitern der beiden nichts damit zu tun, dass sie Frauen sind. Wenn etwa Theresa May bei der Ankündigung ihres Abgangs am Ende für einen Moment die Contenance verlor, war das eine vollkommen verständliche menschliche Reaktion – aber keine Folge der Tatsache, dass sie nicht so „tough“ („wie ein Mann“) war. Ganz im Gegenteil: Sie agierte oftmals genauso verschroben wie das Klischee eines britischen Gentleman. Und die Ausfälle der Andrea Nahles beruhten in aller Regel auf einer falsch dosierten Jovialität. Sie waren keine Folge von Weiblichkeit. Die immer weniger versteckt erfolgten Hinweise in die andere Richtung belegen nur, wie sehr die Politik selbst heute noch ein Männerclub ist.

Todesursache: Mission accomplished 

Da ist es nur fair, dass die wirklich Leidtragenden nicht die beiden Frauen sein werden, sondern ihre jeweiligen Parteien, also die Tories und die SPD. Denn die große Hoffnung, dass die beiden Parteien nun wieder aufblühen werden, dürfte sich als Trugschluss erweisen. Denn bei beiden geht es nicht um eine Person, sondern um essentielle Fragen der eigenen Identität.

Die SPD arbeitet sich schon lange daran ab, dass sie glaubt, Personaldebatten führen zu müssen, wenn es in Wirklichkeit um eine fundamentale sachpolitische Kurs­entscheidung geht. Woran die SPD im Kern leidet – und daran wird kein Drehen des Personalkarussells etwas ändern – ist ein einfaches historisches Prinzip. Dieses ist zeitgeschichtlich im Wesentlichen durch die Fehlanwendung seitens George W. Bush Junior kurz nach der Irak-Invasion bekannt: „Mission Accomplished.“ Für die SPD jedoch trifft es ohne Frage zu. Sie hat sich gewissermaßen zu Tode gesiegt. Wie die Kanzlerschaft Angela Merkels belegt, ist die Bundesrepublik von heute sachpolitisch weitgehend sozialdemokratisch geprägt. Die Harvard-Laudatio auf Angela Merkel fasste es prägnant zusammen: Wir danken der deutschen Bundeskanzlerin für herausragende gesellschafts­politische Leistungen wie den Mindestlohn oder die Ehe für alle. 

Von den Grünen lernen 

Was in aufklärerischer Hinsicht an Dynamik in der deutschen Gesellschaftspolitik verbleibt, das haben die Grünen vom Markeninhalt her glaubwürdig für sich gepachtet. Sie sind viel zu geschickt, um sich diese „Butter“, die weit über das Umweltthema hinausreicht, wieder vom Brot nehmen zu lassen. Insofern wird der – wie auch immer reformierten – SPD auch kein „deus ex machina“ wieder auf die Sprünge helfen können – auch keine „dea“ .

Angela Nahles war – trotz ihrer Fehler – das, was man auf englisch einen „convenient whipping boy“ bezeichnet. Jemand, an dem man sich abarbeiten kann, ohne sich eingestehen zu müssen, dass das Kernproblem in der Sache und eben gerade nicht in der Auswahl irgend­einer anderen Person besteht. Die andere Prügel-Dame, Theresa May, hat auch ihre Fehler. So ist sie eine vollkommen übertriebene Anbeterin der nationalen Souveränität und hat sich mit ihrem mantrahaften Festklammern an immer denselben Formeln („Brexit means Brexit“) dem internationalen Spott preisgegeben.

Schlachtfeld für Identitätsdebatte

Wer aber glaubt, wie so viele Männer unter den Tories und gerade auch Boris Johnson dies immer wieder zu verstehen gegeben haben, dass nur sie – aber eben nicht diese Frau – es beim Brexit schon richten können, der tut so, als ob ihm die Quadratur des Kreises gelingen würde.

Jenseits aller Verhandlungspunkte um Irland und dergleichen geht es um weit mehr als um den geordneten oder ungeordneten Austritt Großbritanniens aus der EU. Im Kern geht es um die vollkommen ungeklärte Frage der nationalen Identität. Für diese Auseinander­setzung ist das von den Tories immer wieder so hoch gehangene Thema der nationalen Souveränität letztlich nur das Schlachtfeld, auf dem die britische Identitätsdebatte ausgetragen wird.

Britische Überheblichkeit

Uns Deutsche befremdet es verständlicherweise, wenn ausgerechnet die Briten hier so unsortiert aufgestellt sind. Zwischen den sechziger und neunziger Jahren waren es immer wieder insbesondere die Briten, die sich über Debatten über unsere nationale Identität amüsiert, wenn nicht mokiert haben. Diese Überheblichkeit schlägt jetzt wie ein Bumerang auf das – angesichts der wiederaufflammenden schottischen und (nord-)irischen Frage nur vermeintlich – „Vereinigte“ Königreich zurück.

Niemand sollte sich irgendwelche Illusionen hingeben. Die Krise der beiden Parteien – der SPD und der Tories – ist struktureller, sachpolitischer Natur. Sie reicht weit über ihre aktuellen Anführerinnen hinaus. Bei der erhofften Aufholjagd ist noch eine abschließende Parallele besonders pikant. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament kamen die SPD auf 15,5 Prozent  – und die Tories auf 13,7 Prozent. 

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