Analyse der Bundestagswahl - Chirurgisch exakter Schnitt

Deutschland und die Deutschen sind liebenswert. Sie haben das Beste aus der Bundestagswahl gemacht – trotz eines reichlich armseligen personellen und inhaltlichen Angebots. Die vielzitierte Schwarmintelligenz kam bei dieser Wahl voll zum Tragen. Sechs Belege hierfür.

Zahlreiche Wähler warten in Berlin-Prenzlauer Berg vor einem Wahllokal / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Auch wenn es im politisch-medialen Komplex verpönt ist und es einen verdächtig macht: Ich liebe dieses Deutschland und seine Menschen. Natürlich nicht alles und alle – auf, je nach Thema und Person, zehn bis 20 Prozent könnte auch ich mühelos verzichten, aber alles in allem ist das ein klasse Land mit tollen Menschen. Die nur leider seit längerer Zeit deutlich unter Wert regiert und verwaltet und quasi zusätzlich als Belohnung dafür von Politik und Medien mit ubiquitärem Misstrauen verfolgt werden.

Ich glaube, dass ich für diese Zuneigung gute bis sehr gute Argumente habe. Am Sonntag ist ein weiteres sehr gutes Argument hinzugekommen. Wie 48 Millionen Wählerinnen und Wähler aus einem reichlich armseligen personellen und inhaltlichen Angebot der Parteien noch das Beste gemacht haben, stellenweise sogar millimetergenau – das macht ihnen so schnell keiner nach. Die vielzitierte Schwarmintelligenz – es gibt sie, und hier kam sie voll zum Tragen.

Extreme wurden zurückgestutzt

Die künftige Zusammensetzung des Bundestages ist ein Bausatz, aus dem sich eine ansehnliche Bundesregierung herstellen ließe, wenn er es denn nur will und sich nicht erneut so dämlich anstellt wie vor vier Jahren, als er einen Bundespräsidenten gewähren ließ, der einer Kanzlerin in einer ganzen Serie von Fehlern „mit der ganzen Autorität seines Amtes“ zur Wiederwahl verhalf, obwohl diese das Vertrauen eben dieses Bundestages verloren hatte. Was spätestens mit der Verweigerung der FDP deutlich wurde.

Schwarmintelligenz, Beleg 1: Die Extreme wurden vom Wahlvolk, das sich in seiner übergroßen Mehrheit nicht vom Gekeife einer überbewerteten Social-Media-Blase hat irre machen lassen, kräftig zurückgestutzt. Die Linke schrammte haarscharf an einem neuerlichen Rauswurf vorbei. Man duldet sie gerade noch so als sozialpolitische Mahnerin, aber bei der Regierungsbildung wird sie höchstwahrscheinlich keine Rolle spielen. Sollte die SPD gehofft haben, diese Partei der Ewiggestrigen als Gespenst und Joker im Ärmel gegen die FDP ausspielen zu können, so hat dies der Wähler durch einen chirurgisch exakten Schnitt vereitelt.

Schlecht erzogenes Rüpelmonster

Schwarmintelligenz, Beleg 2: Die AfD stürzte zwar nicht vollends ab, aber eine Zukunft über die Rolle als stets absturzgefährdetes, schlecht erzogenes Rüpelmonster in den Grenzen von 1937 hinaus hat sie in diesem Zustand auch nicht. Eher wird sie sich vollends zerlegen. Protest aus Prinzip erledigt sich mit der Zeit. Dauerhafte Regierungsunfähigkeit wird vom Wähler früher oder später bestraft. Bei der Linken war das später, bei der AfD könnte das früher stattfinden. Das ist eine weitere wichtige Botschaft dieses Wahlergebnisses. Dass die AfD klug genug sein wird, daraus zu lernen, ist aber nicht zu erwarten. Außerdem besitzt sie keine Sahra Wagenknecht, die ihr die Leviten lesen und auf einen erfolgversprechenden Weg zurückführen könnte.

„Klimaschutz“ ohne Sinn und Verstand

Schwarmintelligenz, Beleg 3: Auch die Grünen landeten unsanft auf dem Boden der Tatsachen. Ein „Klimaschutz“ ohne Sinn und Verstand ist nicht einmal ansatzweise mehrheitsfähig. Als Motor und Mahner werden sie geschätzt und unterstützt, aber jede Übertreibung, die auf eine Zerstörung gerade auch der materiellen Grundlagen hinausliefe, die das Land zwingend zur Anpassung an neue klimatische Gegebenheiten braucht (denn diese Anpassung wird auf Jahrzehnte hinaus unglaublich viel Geld kosten) – diese Übertreibung wurde vom Wahlvolk gestern abgeblockt.

Auch ein Auswahlverfahren, das wieder einmal persönliche Befindlichkeiten über Eignung und Erfahrung stellte, kam bei der übergroßen Mehrheit der Gewählthabenden nicht gut an. Immerhin darf man dieser Partei Lernfähigkeit zubilligen. Vielleicht geht diese sogar so weit, zu erkennen, dass sie in einer schwarz-grün-gelben Koalition mit Blick auf 2025 besser fahren würde als mit einer Ampel, weil die Rollenverteilung mit Jamaika zu ihren Gunsten ausfiele und bessere Profilierungschancen böte. Die fast 15 Prozent sind ein faires Angebot der Bevölkerung – es liegt an der Partei, was sie daraus macht. Stand heute ist für sie nichts gewonnen, aber noch weniger verloren.

Nett, aber kein Kanzler

Schwarmintelligenz, Beleg 4: Armin Laschet ist nach menschlichem Ermessen politisch am Ende – und das wäre dann auch gut so. Die CDU hat ihren Spitzenkandidaten ebenfalls nach Befindlichkeit ausgesucht und nicht nach Eignung, inhaltlich wie charakterlich. Der Mann ist nett, aber er ist kein Kanzler, schon gar kein Kanzler für diese Zeit. Eine plausible Vorstellung, warum er zu wählen sei und niemand sonst, vermochte er zu keinem Zeitpunkt zu liefern. So, wie es den Grünen nicht zumutbar erschien, einen Mann zu nominieren, wo gleichzeitig auch eine Frau zur Verfügung stand, erschien es den CDU-Granden unzumutbar, einen CSU-Mann zu nominieren, wo doch auch ein CDU-Mann zur Verfügung stand. Falsche Perspektive, falsche Kriterien – konsequente Antwort vom Wahlvolk: so nicht.

FDP-Sieg bei Erstwählern

Schwarmintelligenz, Beleg 5: Auch die Bäume der FDP wachsen nicht in den Himmel, aber sie wurde gestern in exakt jene Position versetzt, in der sie die Wählerinnen und Wähler sehen wollen: als Korrektiv und Kanzlermacher. Christian Lindner konnte im Wahlkampf glaubhaft machen, aus früheren Fehlern gelernt zu haben, und das wurde honoriert. Nicht im Übermaß, weil den Liberalen seit Westerwelle und Möllemann Abheben als chronische Gefahr stets unterstellt wird. Aber doch ausreichend. „Macht was draus, dann gibt es beim nächsten Mal vielleicht mehr“, lautet der Wählerauftrag.

Der geradezu sensationelle Sieg der Liberalen bei den Erstwählern ist ein Phänomen, das dringend genauerer Analyse bedarf. Hier zeigen sich geradezu himmlische Perspektiven, wird dieses Pflänzchen nur pfleglich behandelt, etwa mittels einer endlich klugen parteiinternen Frauenförderung, wo zuletzt – siehe das Schicksal von Linda Teuteberg – idiotische Rückschläge zu beobachten waren.

Pragmatismus wird belohnt

Schwarmintelligenz, Beleg 6: schließlich die SPD. Kaum macht sie zur Abwechslung einmal etwas richtig, klappt es auch wieder mit den Wahlen. Machen die anderen gleichzeitig auch alles falsch, klappt es sogar deutlich besser als erwartet. Pragmatismus statt Ideologie wird belohnt.

Dreyer, Schwesig und – mit Abstrichen – Giffey und Scholz sind der Beweis. Olaf Scholz stehen die eigentlichen Probleme allerdings erst noch bevor. Seine Fraktion wird zu einem großen Teil aus lauter kleinen Saskias und Kevins bestehen. Vielleicht haben Union und FDP in den anstehenden Verhandlungen Glück, und eben dieser Fraktion wird genau deshalb die reine Lehre wichtiger sein als ein Kanzler-Amt mit seinen ganzen Kompromissen des Regierungsalltags. Aber auch hier gilt: Es ist ein vergleichsweise großzügiges Angebot der Wähler an die Sozis. Take it or leave it – your choice.

Mindestmaß an Respekt

Je genauer man hinschaut, desto deutlicher zeigt sich die innere – nun ja, „Schönheit“ wäre vielleicht übertrieben, aber doch die innere Klugheit dieses Wahlergebnisses. Im Gegenzug hätte eben diese Bevölkerung es verdient, nicht länger mit jenem Dauermisstrauen überzogen zu werden, das schon vor längerer Zeit zu einer Grundbedingung für ein Regierungsamt geworden zu sein scheint.

Die Deutschen sind in ihrer ganz, ganz großen Mehrheit nicht rassistisch und nicht ausländerfeindlich. Sie lieben ihre Heimat, sie sind großzügig, sie spenden auch in schwierigen Zeiten innerhalb von Tagen gigantische Summen jenen, denen es unverschuldet nicht so gut geht. Aber sie verlangen ein Mindestmaß an Respekt der politischen Klasse auch ihnen gegenüber. Das, was Scholz rund um die Uhr fordert, selbst aber nicht zu geben bereit ist.

Andauernder Denkprozess

Dafür, dass sie bei der erstbesten Gelegenheit sofort wieder beginnen würden, auf Minderheiten loszugehen und Konzentrationslager zu bauen, gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Schon gar nicht nach einem Blick auf das jüngste Wahlergebnis. Sie verlangen aber – wie nunmehr sogar die einst so vorbildlichen Skandinavier – zum Beispiel eine nachvollziehbare, plausible und sozialstaatsverträgliche Kontrolle und Lenkung der Einwanderung.

Und diese Deutschen wollen nicht bei jedem öffentlichen Satz dreimal überlegen müssen, ob der nun korrekt genug ist oder nicht. Ganz nebenbei haben die Wähler gestern ja auch dem hierzulande besonders unversöhnlichen, spalterischen Wokeismus der Identitäts-Besessenen eine gründliche Abfuhr erteilt, wie aus den Gesichtern von Linken und Grünen speziell in Berlin deutlich herauszulesen war. Ob sie es verstanden haben? Der Denkprozess dauert an. Immerhin.

Kurzum: Ich mag sie, diese Landsleute. Und ich finde, ich habe gute Argumente dafür. Am Wahlsonntag kamen einige weitere hinzu.

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