100. Geburtstag von Alfred Dregger - Nationalliberaler Streiter für Einheit und Freiheit

Alfred Dregger hätte am heutigen 10. Dezember seinen 100. Geburtstag gefeiert. Ein guter Anlass, um auf die Leistungen des glühenden Parlamentariers zurückzublicken.

Alfred Dregger wäre am 10. Dezember 100 Jahre alt geworden / Konrad Adenauer Stiftung/Harald Odehnal
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Autoreninfo

Prof. Dr. Wolfram Pyta leitet die Abteilung Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart sowie die „Forschungsstelle Ludwigsburg“ zur Erforschung der NS-Verbrechensgeschichte. Er erarbeitet gegenwärtig eine umfassende wissenschaftliche Biographie über Alfred Dregger. Die Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt dieses wissenschaftliche Forschungsprojekt.

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Über viele Spitzenpolitiker, die sich zu ihren Lebzeiten im Lichte der Aufmerksamkeit sonnten, geht der Lauf der Zeit unerbittlich hinweg: Sie fallen oft innerhalb einer Generation dem Vergessen anheim. So wird auch ein historisch Interessierter bei der Nennung des Namens von Alfred Dregger ins Grübeln geraten.

Dabei dürften Versatzstücke wie „konservatives Aushängeschild der CDU“ oder „langjähriger hessischer CDU-Vorsitzender und mehrfach gescheiterter Spitzenkandidat“ fallen. Ist Dregger mithin nur ein Fall für Experten hessischer Landesgeschichte oder für diejenigen, die auf der Suche nach Selbstvergewisserung einen Musterkonservativen reanimieren möchten?

Gestalter ohne Ministeramt

Doch näheres Hinsehen zeigt, dass in dem am 10. Dezember 1920 geborenen Alfred Dregger viel mehr steckt. Dregger hat in zwei formativen Jahrzehnten – von den frühen 1970er bis in die frühen 1990er Jahre – die Geschicke der Bundesrepublik mit geprägt. Er vermochte dies, obgleich er weder auf Landes- noch Bundesebene jemals ein Ministeramt bekleidete.

Vor allem als Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion von Oktober 1982 bis zum November 1991 hat Dregger die bundesdeutsche Politik mitgestaltet. Daher wirf eine Beschäftigung mit ihm vor allem Erkenntnisse hinsichtlich der Gestaltungskraft von Fraktionsvorsitzenden ab.

Geschichte wiederholt sich

Gewiss legte Dregger großen Wert darauf, dass sich seine Fraktion diszipliniert hinter Bundeskanzler Kohl stellte, der sich uneingeschränkt auf Dreggers Loyalität verlassen konnte. Doch zugleich war Dregger ein leidenschaftlicher Parlamentarier, der die politische Mitsprache der Bundestagsfraktion beharrlich zur Geltung brachte.

Sein Gesellenstück legte er im Jahre 1980 ab, als CDU und CSU nach einem geeigneten Verfahren zur Nominierung des gemeinsamen Kanzlerkandidaten suchten. Die Aktualität dieses Dauerthemas lohnt eine vertiefte Betrachtung der Lösung des Jahres 1980, an deren Zustandekommen Dregger erheblichen Anteil besaß: Denn in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der hessischen CDU und stellvertretender Bundesvorsitzender wandte er sich gegen das handstreichartige Vorgehen des CDU-Vorsitzenden Kohl, in der Kanzlerkandidatur die Partei auf Linie zu zwingen. Dregger wollte einen Weg finden, der zum einen ein faires Verfahren garantierte und in den zum anderen die CSU eingebunden war.

Die vereinte Fraktion

Damit schlug die Stunde der Bundestagsfraktion: Denn das einzige Gremium, in dem Angehörige der beiden Schwesterparteien eine institutionelle Einheit bilden, ist die gemeinsame Bundestagsfraktion. Dregger gehörte als stellvertretender Fraktionsvorsitzender zu denjenigen Unionspolitikern, die den widerstrebenden CDU-Vorsitzenden dazu brachten, der Bundestagsfraktion die Entscheidung über die Nominierung des gemeinsamen Kanzlerkandidaten anzuvertrauen. Dort obsiegte zur Überraschung vieler nicht der von der CDU-Spitze Favorisierte, sondern der bayerische Ministerpräsident.

Damit hatte sich Dregger warmgelaufen für seine Tätigkeit als Fraktionsvorsitzender, bei der er strikt darauf achtete, kein „CSU-Bashing“ zu betreiben und die Union in ihrer Gesamtheit zu repräsentieren. Entscheidend ist aber, dass Dregger sein Amt nutzte, um die beiden Politikfelder zu pflegen, die zugleich den Kern seines politischen Koordinatensystems ausmachten: Einheit und Freiheit.

Fokus auf den Osten

Dies hieß für ihn, die Teilung Deutschlands dadurch zu überwinden, dass auch den im sowjetischen Machtbereich lebenden Völkern Ostmittel- und Südosteuropas die „Freiheit“ geschenkt wurde. Dregger pflegte hier das Vermächtnis Adenauers – und dies bedeutete in den 1980er Jahren nicht weniger, als die alte Bundesrepublik, bei deren Eliten das Streben nach einem in Freiheit vereinten Europa immer weniger Rückhalt fand, aus ihrer Saturiertheit aufzurütteln.

Dregger tat dies, indem er die Fraktion zum Zentralort einer deutschlandpolitischen Debattenkultur machte, als in der CDU-Zentrale operative Deutschlandpolitik als Auslaufmodell galt. Dabei erwies sich Dregger als pragmatischer Erwartungsmanager: Deutschlandpolitische Sonntagsreden und Kleben an Rechtspositionen waren für ihn nur dann von Wert, wenn sie von einer Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Deutschen in beiden Staaten begleitet wurden.

Da Dregger sich eine für den Bonner Politikbetrieb außergewöhnliche Unabhängigkeit bewahrt hatte, konnte er es sich leisten, den Staatsbesuch Honeckers in Bonn im September 1987 gegen Kritik aus den eigenen Reihen zu legitimieren, gerade weil er Jahre zuvor eine solche Besuchsabsicht öffentlich kritisiert hatte. Dregger sah klarer als viele in den eigenen Reihen, dass sich im Jahre 1987 die DDR-Führung mit diesem Besuch unter Erwartungsdruck setzte und damit eine Eigendynamik freisetzte, die dem langfristigen Ziel der Überwindung der Teilung entgegen arbeitete.

Architekten der Einheit

Insofern gehört Dregger in deutschlandpolitischer Hinsicht in eine Reihe mit Kohl, Genscher und Schäuble: Sein beharrliches Eintreten für die Verlebendigung des Wiedervereinigungsauftrags bereitete den Boden dafür, dass diese drei Architekten der deutschen Einheit unter Zeitdruck ein Ziel erreichten, das Dreggers politische Widersacher noch Jahre zuvor als Hirngespinst abgetan hatten.

Dreggers Leistung bestand mithin darin, die Union auf einem Feld politikfähig zu erhalten, das Ende der 1980er Jahre zum alles überragenden Thema avancierte. Nach der Wiedervereinigung wollte Dregger die Wiedervereinigung dadurch vollenden, dass Berlin anstelle von Bonn zum Sitz von Parlament und Regierung des vereinten Deutschland wurde. Seine letzte wichtige Amtshandlung als Fraktionsvorsitzender bestand darin, die strategischen Weichen so zu stellen, dass Berlin im Juni 1991 im Bundestag in einer Kampfabstimmung gegen Bonn obsiegte.

Sein politisches Vermächtnis

Insofern kann die Wiederinbesitznahme des Reichstags als symbolträchtiges Aushängeschild des deutschen Parlamentarismus als eines der wichtigsten politischen Vermächtnisse Dreggers gelten. Das Streben nach Einheit verband sich bei Dregger mit einem leidenschaftlichen Eintreten für das zweite dominierende Thema der 1970er bis 1990er Jahre: Freiheit. Freiheitsverlangen war die politische Antriebskraft Dreggers, der damit vor allem die Freiheitsrechte des Individuums im Blick hatte, die es gegen jede diktatorische Bedrohung zu verteidigen galt.

Politische Grundsatzdebatten über den Wert der Freiheit waren für ihn maßgeschneidert; und er war in seinem Element, wenn er Sozialisten aller Schattierungen der Staatsgläubigkeit und der Bevormundung des Individuums zieh. Dregger verkörperte damit einen Politikertyp, der mit Leidenschaft für seine Überzeugungen eintrat und in der öffentlichen Debatte den Kern des Politischen erblickte.

Bürgerlicher Habitus

Bei allem emotionalen Einsatz wahrte Dregger stets die Form und verstieg sich nie zu persönlichen Attacken. Sein bürgerlicher Habitus schützte ihn sowohl vor Verunglimpfung des politischen Gegners wie vor Kumpanei mit Parteifreunden. So nimmt es nicht wunder, dass Dregger mit Duz-Freundschaften überaus sparsam umging; eine solche verband ihn mit seinem Marburger Studienkollegen und späteren SPD-Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel.

Wie kann man eine solche Persönlichkeit in die politische Ideenwelt einordnen? Dregger selbst hat sich nie als Konservativen verortet; dieses Etikett ist ihm nicht zuletzt vom politischen Gegner aufgeklebt worden. Der Gleichklang von Freiheit und Einheit legt es vielmehr nahe, in Dregger einen typischen Exponenten des Nationalliberalismus zu erkennen. Dazu passt, dass Dregger gerade nicht aus einem familiär gepflegten politischen Katholizismus zur CDU fand. Dregger steht für einen Nationalliberalismus, der gerade in Hessen in der CDU in dem Maße seine politische Heimat fand, in dem die FDP nationalliberale Themen immer weniger bediente.

Keine Themen mehr

Dass Dregger für den Konservatismus in Beschlag genommen wurde, ist auch darauf zurückzuführen, dass die CDU ihre nationalliberale Traditionslinie bislang verdrängt hat. Mit den Nationalliberalen des ersten deutschen Nationalstaats teilte Dregger das Schicksal, dass ihm die politischen Themen ausgingen, als sich sein Lebenstraum mit der Einheit in Freiheit erfüllt hatte. Und weil dies noch mit dem Rückzug vom Spitzenamt des Fraktionsvorsitzenden einherging, fiel es Dregger sichtlich schwer, sich auf seine alten Tage in eine neue politische Rolle zu finden.

So waren die letzten Jahre Dreggers geprägt von einem zähen, nicht selten starrsinnig anmutenden Streiten für Positionen, die auch dazu dienten, seine eigene Vita als ehemaliger Wehrmachtsoffizier mit politisch anschlussfähigem Sinn zu erfüllen. Dregger führte hier ein Rückzugsgefecht, weil sein Eintreten für die „Ehre“ seiner soldatischen Generation nicht für die jüngeren Generationen vermittelbar war.

Dregger blieb bei allem aber immer ein Politiker mit Maß und Mitte. Wenn er heute den politischen Betrieb beobachtete, würde der leidenschaftliche Parlamentarier bedauern, wie von bestimmter Seite mit verrohender Sprache und respektlosem Eindringen die Würde des Parlaments beschädigt wird.

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