Flüchtlingspolitik als Wahlkampfkiller - Wer hat Angst vor einem zweiten „2015“?

Was passiert mit den Afghanen, die das Land auf der Flucht vor den Taliban verlassen? Die Bundesregierung setzt auf finanzielle Hilfen für die Nachbarstaaten Iran und Pakistan. Eine Perspektive für die Flüchtlinge bieten diese Länder nicht. Doch für tragfähigere Alternativen lässt der Wahlkampf keinen Raum.

Hunderte Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afrika im 2015 unterwegs über die Autobahn von Ungarn in Richtung Österreich / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Uta Weisse war Online-Redakteurin bei Cicero. Von Schweden aus berichtete sie zuvor als freie Autorin über politische und gesellschaftliche Themen Skandinaviens.

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Kaum hatten die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul besetzt, da verbreitete sich in  Deutschland ein Satz, der zum Mantra der Union in diesem Bundestagswahlkampf geworden ist. „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Der Spitzenkandidat der CDU, Armin Laschet, hat ihn gesagt. Die Bilder, die damit verbunden sind, lösen Ängste aus. Man denkt an Flüchtlinge, die zu Tausenden in Deutschland angekommen sind, über die Grenze zu Österreich oder in Bahnhöfen.

Heute weiß man: Nicht alle dieser Menschen kamen aus Todesangst, auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Es gab darunter auch zahlreiche Mitläufer aus anderen Ländern, die die Naivität der Bundesregierung nutzten, um Asyl in der Bundesrepublik zu verlangen. Weil darunter nicht zuletzt auch Terroristen waren, wurde 2015 zur Chiffre für Kontrollverlust.

Chiffre für Kontrollverlust

Wenn CDU- und CSU-Politiker diese Chiffre heute bemühen, dann tun sie es auch, um der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn eine neue Flüchtlingswelle käme zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, mitten im Bundestagswahlkampf. „2015“, das ist kein Thema, mit dem CDU und CSU punkten können. Die Jahreszahl steht für massiven Vertrauensverlust: ein absoluter Wahlkampfkiller. Vor allem wegen der Flüchtlingswelle ist die AfD in den Bundestag und in die Landesparlamente gekommen. Grund genug für die Union, an dieser Front Geschlossenheit zu demonstrieren.

Dabei ist „2015“ nicht „2021“. Der Vergleich geht weitgehend an der Realität vorbei. Die Gefahr, dass sich vor den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder lange Schlangen bilden, ist eher gering. Afghanistan sei so gut wie dicht, sagt Chris Melzer, Sprecher des Internationalen Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Die Taliban ließen niemanden ausreisen. Offiziell. Inoffiziell gelinge es aber jeden Tag „einer vierstelligen Zahl von Menschen“, das Land zu verlassen. Es sind die Wohlhabenderen, die sich das leisten können, nicht die, bei denen die Not am größten ist.

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Fokus auf die Ortskräfte

Von 3,5 Millionen Binnenflüchtlingen ist die Rede. Diese versorgt das Flüchtlingswerk auch weiterhin mit Lebensmitteln und Wasser – so gut es irgendwie geht. 200 Mitarbeiter des UNHCR riskieren dafür ihr Leben. 337 Millionen Dollar bräuchten sie, um die schlimmste Not zu lindern. Etwas weniger als die Hälfte gibt ihr Etat aber nur her.

Die Lage ist besorgniserregend. Die migrationspolitischen Sprecher und Menschenrechtsbeauftragten der Parteien werden nicht müde, das zu beklagen. Fragt man sie jedoch, was sie von der Antwort der Bundesregierung auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik in Afghanistan halten, ducken sich viele weg. In der aktuellen Debatte wird immer nur von den Ortskräften gesprochen, den 10.000 Asylberechtigten, deren Transfer nach Deutschland ohnehin schon geplant ist. Aber was ist mit den „300.000 bis fünf Millionen”, die sich laut Innenminister Seehofer in Folge des Machtwechsels nun in Richtung Europa begeben könnten? Über die hüllen sich fachpolitische Sprecher von Union und SPD in Schweigen. Warum? Entsprechende Pläne der Bundesregierung wirken jedenfalls genauso strategielos wie ihre gesamte Afghanistan-Politik.

Unterstützung für die Nachbarländer 

Der Fokus der Bundesregierung liegt auf den Nachbarländern Iran und Pakistan. Beide wären die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge, sollten die Taliban die Grenzen öffnen. 80 Prozent von ihnen, das zeigen Erfahrungswerte aus Konfliktregionen, gingen dorthin, wo schon Freunde oder Familienmitglieder lebten – in Nachbarländer also. Daran orientiert sich jetzt auch die Bundesregierung. Sowohl die Kanzlerin als auch Vizekanzler Olaf Scholz haben angekündigt, dass Iran und Pakistan finanziell unterstützt werden sollen, damit die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge gesichert sei. 

Eine sinnvolle Strategie? Experten haben daran erhebliche Zweifel. Beide Länder sind schon seit der sowjetischen Besatzung Afghanistans 1979 die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge aus Afghanistan. Im Iran sind 780.000 von ihnen offiziell registriert, in Pakistan sind es 1,43 Millionen. „Die tatsächliche Zahl dürfte doppelt so hoch sein“, sagt der Berliner Migrationsforscher Herbert Brücker gegenüber Cicero.  

Ein Zaun zur Abschottung 

Iran und Pakistan haben angekündigt, sie würden keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen. Beide Länder stecken selbst in einer tiefen Wirtschaftskrise. Pakistan hat deshalb schon einen Zaun entlang der Grenze zum afghanischen Nachbarn gebaut. Der Iran hat angekündigt, Neuzugänge aus Afghanistan dürften nicht mehr in die Städte im Landesinnern. Sie sollten in Camps in Grenznähe untergebracht werden.  

Ruhe werden die Flüchtlinge aus Afghanistan in solchen Lagern aber wohl nicht finden, geschweige denn eine Perspektive für einen Neuanfang. Denn sowohl im Iran als auch in Pakistan werden die Taliban unterstützt. Pakistans Militär soll den Siegeszug der Dschihadisten in Afghanistan sogar koordiniert haben. Der Islamforscher Guido Steinberg sagt: „Die Taliban hätten sich nie halten können ohne Pakistan. Sollen wir die Pakistani noch dafür bezahlen, dass sie uns eine Niederlage bereitet haben? Ich finde, das geht nicht.“

Der Türkei-EU-Deal und seine Folgen  

Margarete Bause, menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen, sieht darin kein Problem. Gegenüber Cicero sagt sie, das Geld für die Flüchtlinge würde ja nicht an die Regierungen gehen, sondern an die Hilfsorganisationen. Doch ohne Genehmigung der Regierungen dürfen diese ihr Engagement nicht ausweiten. Und was dabei herauskommt, wenn Länder ihre Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen an finanzielle Zugeständnisse knüpfen, hat der Türkei-EU-Deal von 2016 gezeigt. Der türkische Präsident hat ihn benutzt, um die EU zu erpressen.

Kann sich Deutschland nach 20 Jahren in Afghanistan einfach zurückziehen, ohne Verantwortung für die Menschen zu übernehmen, denen das Land zum Vorbild und Sehnsuchtsort geworden ist? „Die Betreuung von Flüchtlingen dauerhaft an andere Länder outzusourcen, das wird nicht funktionieren“, sagt der Berliner Migrationsforscher Herbert Brücker. Er hat dabei Flüchtlingslager in Jordanien oder im Libanon im Blick, die zum Gefängnis für mehrere Generationen geworden seien. „Gelöst werden könnte das Problem nur mit fairen Verteilquoten in der EU und in der Zusammenarbeit mit anderen Ländern“, glaubt Brücker.

Wie verlässlich sind Terroristen?  

Ein heißes Eisen. Denn es geht um ein Problem, das die EU seit 2015 auf die Zerrreißprobe stellt. Dieses Fass aufzumachen, trauen sich im Bundestagswahlkampf nicht einmal die Grünen. Margarete Bause sagt: „Langfristig muss in Afghanistan alles getan werden, damit die Menschen dort ungefährdet leben können.“ Wie das funktionieren soll, weiß aber auch sie nicht. 

250 Millionen Euro an Entwicklungshilfe hatte die Bundesregierung für das laufende Jahr für den Staat am Hindukusch eingeplant. Doch als Reaktion auf den Machtwechsel hat Außenminister Heiko Maas (SPD) angekündigt, dass Deutschland die Entwicklungshilfe vorerst aussetzen werde. Zwar haben die Taliban den Ortskräften eine Amnestie in Aussicht gestellt. Doch trauen mag den Gotteskriegern keiner. An Verhandlungen werde aber kein Weg vorbeiführen, sagt Bause. „Wir verhandeln ja auch mit den Regierungen im Iran, in Russland oder China.“ Die Entwicklungshilfe müsse in Zukunft eben an Bedingungen geknüpft werden. Der Schutz der Menschenrechte gehöre dazu. Doch die Taliban sind nicht irgendwelche Machthaber. Die meisten von ihnen verstehen sich als Gotteskrieger, die notfalls über Leichen gehen auf ihrem Kreuzzug gegen die Ungläubigen.  

Eine Debatte darüber können derzeit weder die Grünen noch CDU, CSU oder die SPD gebrauchen. Aber bis zur Bundestagswahl sind es ja noch 39 Tage (sieht man von der Möglichkeit zur Briefwahl ab). Bis dahin dürfte kein afghanischer Flüchtling Europas Grenzen auf dem Landweg erreicht haben. Was danach kommt, dieser Frage wird sich spätestens die neue Bundesregierung zu stellen haben.

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