Evakuierung der Ortskräfte aus Afghanistan - „Man kann Islamisten nicht von Ortskräften unterscheiden“

Weil sie die Evakuierung der Ortskräfte in Afghanistan verschleppt hat, gerät die Bundesregierung unter Druck. Was aber sind das für Menschen, ohne die der Nato-Einsatz angeblich nicht funktioniert hätte? Nicolas Scheidtweiler hat mit einigen zusammengearbeitet. Sein Bild von ihnen ist kritischer.

Mission impossible? Nicolas Scheidtweiler verteilt in Kabul Zeitungen für den Frieden / privat
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Nicolas Scheidtweiler war 2006 und 2007 für insgesamt elf Monate als Zeitsoldat und Chef eines Isaf-Radiosenders in Afghanistan. Er arbeitet heute als PR-Berater und ist Mitglied der FDP. 

Herr Scheidtweiler, US-Präsident Joe Biden will Kabuls Flughafen bis zum 31. August räumen. Die Zeit wird vermutlich nicht ausreichen, um alle Ortskräfte aus Kabul auszufliegen, die für die Bundeswehr und die Nato gearbeitet haben. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Bilder von Menschen sehen, die verzweifelt versuchen, auf das Flughafen-Gelände zu gelangen?

Auch wenn mich die Bilder betroffen machen – ich hatte es nicht anders erwartet. Für mich war klar, wie die Ortskräfte agieren. Meine Erfahrung mit den Local Civilian Hire (LCH) ist, dass sie dort sehr auf ihren Vorteil bedacht sind – unabhängig von der jetzt extremen Situation und bestimmten Regeln, die festgelegt wurden. Für viele wird sich das Leben massiv verändern, nachdem sie 20 Jahre von der internationalen Gemeinschaft profitiert haben. 

Was heißt „Vorteil“? Viele dieser Menschen stehen auf den Todeslisten der Taliban, weil sie für westliche Nichtregierungsorganisationen oder das Militär gearbeitet haben. Ist es nicht nachvollziehbar, dass sie aus Angst vor Rache in ein sicheres Land flüchten wollen?

Doch, das ist absolut nachvollziehbar und berechtigt. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man in all den Jahren nur an sein persönliches Fortkommen gedacht oder ob man sich für die Weiterentwicklung der Gesellschaft in Richtung Demokratie eingesetzt hat. Eine Kameradin von mir, die innerhalb einer Dekade mehrfach mit Ortskräften in Afghanistan gearbeitet hat, hat das so formuliert: Wenn du über Jahre gelernt hast, andere zu bescheißen, um dir Vorteile zu verschaffen, dann wirst du diese Strategie beibehalten. 

Angenommen, Sie wären in so einem Staat aufgewachsen, in dem der Krieg allgegegenwärtig ist – wäre Ihnen das eigene Wohl da nicht auch am wichtigsten gewesen?  

Absolut, dazu muss es noch nicht einmal ein Staat sein, in dem Krieg herrscht. Jeder Mensch auf der ganzen Welt hat das Recht, zu migrieren und seine Lebenssituation zu verbessern. Was mich irritiert, ist, dass sich der Blickwinkel der Masse dieser Menschen in 20 Jahren nicht gravierend verändert hat. Dass sie nicht einen Schritt weitergegangen sind und sich mit dem Thema Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte auseinandergesetzt haben. 

Sondern?

Unter den Ortskräften gab es so etwas wie eine Vetternwirtschaft. Jeder kannte jemanden, den er in dieses System der Isaf, der Nato, der NGOs mit einbringen konnte. Man konnte da als Afghane viel Geld verdienen. Das hat viel Neid bei den Leuten geschürt, die keinen Zugang zu solchen Jobs hatten. Aber diese gesamtgesellschaftliche Betrachtung gibt es nicht. Wir – und ich nehme mich da insbesondere im ersten Einsatz nicht aus – sind blauäugig an die Kultur und den Wunsch zu ihrer Veränderung herangegangen. Wir haben eine elitäre Gruppe unfassbar reich werden lassen. Gemäß der letzten Gehaltstabelle der LCH hat je nach Erfahrung ein Isaf-Redakteur rund 1.500 Euro verdient. Pro Monat!

Für deutsche Verhältnisse ist das eher wenig. 

Sie dürfen nicht vergessen: Ein afghanischer Polizist hat damals 30 Dollar im Monat verdient, also 360 Dollar im Jahr. Ein Reporter, der bei der Nato angestellt war, hat das 20-fache verdient. Das ist so, als würde ein Polizist in Deutschland, sagen wir mal, 40.000 Euro verdienen – und ein Reporter 800.000 Euro. Für mich stand das in einem krassen Missverhältnis. Sogar die Nato-Reinigungskraft bekam mehr Gehalt als ein afghanischer Polizist.  

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Sie waren 2006 und 2007 jeweils für fünf, beziehungsweise sechs Monate als Chef eines Radiosenders der International Security Assistance Force (Isaf) in Afghanistan und dort für 30 Redakteure zuständig. Was waren das für Kollegen, und welche Jobs haben sie bekommen?

Das waren afghanische Akademiker, zwei von ihnen waren während der sowjetischen Besatzungszeit in der DDR ausgebildet worden. Meine Abteilung war für die Kommunikation der Isaf mit der Bevölkerung in der Region zuständig. 2006 war noch die Phase, wo die Isaf in andere Regionen vorgedrungen ist.

Waren es nur Männer? 

Nein, wir waren rund 25 Männer und fünf Frauen. Unsere Aufgabe war, die Besetzung Afghanistans kommunikativ zu begleiten. Unsere Marke hieß „Stimme der Freiheit“. Dazu gehörte ein Radiosender, eine Zeitung, TV-Spots, Promotion-Teams und sehr früh ein Internet-Auftritt. Das Personal waren grundsätzlich freundliche, charmante Menschen. Aber eben auch mit einem Arbeitsethos, der nicht für Weiterentwicklung steht.

Bei Ortskräften denken viele wahrscheinlich eher an Berufe wie Dolmetscher oder Fahrer. 

Die gab es natürlich auch, Übersetzer, Berater. Das ging runter bis zur Reinigungskraft.   

Was ist daran auszusetzen, dass das westliche Militär einheimische Mitarbeiter anständig bezahlt? 

Sie müssen das in Relation zum durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen setzen. Und das betrug in Afghanistan je nach Datenlagen rund 800 Euro im Jahr. Die Ortskräfte der Isaf verdienten also neunmal so viel. Die Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen haben mit ihren Gehältern den lokalen Arbeitsmarkt für gute Fachkräfte kaputtgemacht. Die qualifizierteren Afghanen haben sich lieber die lukrativen Jobs als Fahrer, Reinigungskraft oder Küchenhilfe geschnappt, als sich direkt am Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen zu beteiligen.  

Aber diese Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen haben doch auch dazu beigetragen. Und gemessen an der Gesamtbevölkerung war der Anteil der Ortskräfte verschwindend gering. Afghanistan hat 40 Millionen Einwohner. Das Kanzleramt spricht von 2.500 ausreiseberechtigten Ortskräften, von denen 1.900 angeblich schon in Deutschland sein sollen. Marcus Grotian, der Vorsitzende des Netzwerkes Afghanischer Ortskräfte, sagt, die Zahl sei viermal so hoch. Wer hat denn nun recht? 

Ich kann keine Zahlen nennen, vor allem da meine Zeit lange zurückliegt und ich im Nato-Umfeld eingesetzt war. Grotian liegt vermutlich richtiger. Wie viele Ortskräfte es insgesamt gegeben hat? 2006 gab es rund 700 internationale Organisationen allein in Kabul. Und wenn jede von ihnen, vorsichtig geschätzt, im Schnitt 40 Ortskräfte beschäftigt hat, wären das allein für Kabul schon 28.000.  

Die Ortskräfte sind ja auch ein Risiko eingegangen, wenn sie gegen die Taliban gearbeitet haben. Rechtfertigt das nicht die überdurchschnittlichen Gehälter? 

Gute Frage, wenn ich an meine 30 Redakteure und Redakteurinnen zurückdenke, werde ich schon melancholisch. Manche standen ja auch hinter dem Thema Frauenrechte, Kinderrechte, Rechte von Minderheiten, Demokratisierung. Einer hat einen Wettbewerb für Mädchen betreut, die Wissenschaftspreise gewinnen konnten. Das waren Highlights, aber sehr selten. 

Trotzdem sprechen Sie den Leuten die Motivation ab, im Land etwas zu verändern?

Nein, aber sie hatten nicht das Tempo, das von der Politik erwartet wurde. 

Woran machen Sie das fest?

Selbst in Kabul waren Frauen nicht Teil der Öffentlichkeit. An meiner Verabschiedung am letzten Abend nahmen nur meine männlichen Redakteure teil. Die Frauen waren zu Hause, obwohl das ganze Team über viele Jahre gelernt haben sollte, dass alle Geschlechter gleich sind. Meine Kontakte in Nuristan oder Ghazni waren noch weiter von westlichen Werten entfernt.

Aber was hatten Sie denn erwartet? Sie waren zu Gast in einem muslimischen Land. 

Ja, das ist deren Kultur, die zu respektieren ist. Und ich habe auch nicht erwartet, dass man diese Regeln von jetzt auf gleich ändern kann. Ich musste im Monatsrhythmus wiederholen, dass Frauen genauso große Schreibtische bekommen wie Männer. 

Die Grünen behaupten, ohne die Ortskräfte wäre der Nato-Einsatz gar nicht möglich gewesen. Teilen Sie diese Einschätzung?

In Vorbereitung auf den Einsatz hatte ich in der Afghanistan-Redaktion der Deutschen Welle ein Praktikum gemacht. Diese lange in Deutschland lebenden Redakteure hätten von Bonn aus genauso gut ein weiter ausgebautes Radio-Programm für das Land machen können – unterstützt von Reportern vor Ort. Für andere Bereiche war der Kontakt zur Bevölkerung aber absolut notwendig. Ich denke, ein Mix wäre gut gewesen. 

Hierzulande herrscht unter den Parteien Einigkeit darüber, dass die Ortskräfte nach Deutschland evakuiert werden müssen und dass sie hier Asyl reklamieren können. Teilen Sie diese Einschätzung? 

Da gibt es ja verschiedene Rechte. Wenn es um qualifizierte Zuwanderung geht, hätte ich vor zwei Jahren die Kollegen geholt, die in der DDR ausgebildet worden waren. Ich kann aber nicht jedem Asyl gewähren, der in ein Flugzeug will. Das muss im Einzelfall geprüft werden. 

Viele der Ortskräfte fordern, dass ihre Angehörigen ebenfalls gerettet werden. Wo macht man den Cut?

Genau das ist die Frage. Nach deutschem Aslyrecht kann die „Kernfamilie“ kommen. Die wird aber in Afghanistan anders definiert als in Deutschland. Bei uns zählen Vater, Mutter und Kinder dazu, in Afghanistan auch die Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Da ist man schnell bei 40 Leuten. Und da geht die Feilscherei ja los.

Was meinen Sie damit?

In Afghanistan wird oft gehandelt. Ich kenne das ja schon von meiner Arbeit als Chefredakteur. Da wollten viele ihre Verwandten unterbringen. Und es wurde auch um Reisekosten und Gehälter gefeilscht. Viele sind da um Ausreden nicht verlegen. Zu dramatisieren gehört zur Kultur dazu. 

Bis Juni galt noch die Regel, dass die Ortskräfte zwei Jahre für deutsche Stellen gearbeitet haben müssen. Dann wurde diese Regelung gelockert. Marcus Grotian hat gesagt: „Alle anderen Länder evakuieren jetzt alle Ortskräfte. Wir evakuieren die, die man ausgewählt hat.“ Finden Sie das in Ordnung, dass sich die Bundeswehr eine Auswahl vorbehält? 

Absolut. Irgendwo muss man einen Cut setzen. Die Frage hätte man sich aber auch schon vorher stellen können: Inwiefern kann ich die Leute funktional und sozial qualifizieren, sodass sie Teil einer westeuropäischen Gesellschaft werden? Ich denke, einige erfüllen dafür durchaus die Voraussetzung. Aber es ist nur eine Minderheit. 

Aus Afghanistan hört man, viele von ihnen hätten ihre Pässe aus Angst vor den Taliban verbrannt, um zu verschleiern, dass sie für NGOs oder das Militär gearbeitet haben. Wie wollen sie im Zweifelsfall nachweisen, dass sie als Ortskräfte gearbeitet haben?

Wenn ich 20 Jahre lang für die Nato gearbeitet habe, dann weiß ich doch, wie wichtig mein Pass und meine Isaf-Ausweise sind. Dann verbrenne ich das nicht. Es ist ja meine Rettungskarte für das Asyl.

Sie würden Ihren Pass auch dann nicht verbrennen, wenn er Sie das Leben kosten könnte?

Wir sollten uns vor Pauschalierungen hüten. Es gibt Ortskräfte, die sich nach den Vorteilen einer westlichen Welt sehnen, die sie nur aus Erzählungen kennen. Sie werden eine Geschichte erzählen, die ihre eigene Situation dramatisiert. Und es gibt Ortskräfte, die wirklich bedroht sind. Ich verstehe ihre Angst. Aber Afghanistan ist nicht Kabulistan. 

Sie wollen sagen, auf dem Land ist das Terrorregime der Taliban noch bedrohlicher? 

Nicht nur das. Auf dem Land ist die alte Kultur voll akzeptiert. Deswegen ging die Eroberung durch die Taliban ja so schnell. Doch das wird bei uns kaum thematisiert. Das Fernsehen zeigt nur Bilder aus Kabul, wo die Organisationen mit den gut dotierten Jobs sitzen. Und nur wegen dieser Jobs haben viele Menschen da mitgespielt. Auf dem Land hatten die meisten kein Verständnis für westliche Werte. Ich wusste 2007 schon, dass der Traum von einer Demokratie eine Totgeburt war. 

Was hat Sie dann überhaupt noch motiviert?

Ich sag’s Ihnen ganz offen: Ich wurde zwar hinbefohlen, da ich Zeitsoldat war. Meine konkrete Motivation war jedoch das Geld. Wir bekamen 110 Euro netto pro Tag. In elf Monaten waren das 33.000 Euro extra. Deswegen habe ich den Job ernst genommen, aber mich nicht übertrieben mit der Aufgabe identifiziert. Und so sehen das die meisten Kameradinnen und Kameraden. Aber die sind medial nicht präsent. Die, die heute laut sind und sich immer noch betroffen fühlen, haben zu große Hoffnung in die Isaf-Mission investiert. Es sind enttäuschte Idealisten. 

Bei Ihnen ist Geld als Motivation okay, aber den Einheimischen werfen Sie das vor?

Nein, das tue ich nicht. Ich frage nur: Welche Verantwortung haben wir gegenüber Menschen, die es wegen des Geldes gemacht haben? Wenn ich mich wegen des Geldes freiwillig gemeldet und in Afghanistan einen Arm verloren oder einen psychischen Schaden erlitten hätte, wäre es auch meine eigene Entscheidung gewesen. Wen hätte ich sonst dafür verantwortlich machen können?

Unter die Ortskräfte, die nach Europa ausgeflogen werden, haben sich jetzt auch Islamisten geschummelt. Kann man die einen problemlos von den anderen trennen? 

Wie gesagt, das sind alles gute Geschichtenerzähler. Man kann es nicht.

Aber irgendwie mussten sich ja auch die Ortskräfte mit den Taliban arrangieren, um in Afghanistan halbwegs normal leben zu können. Ist es da nicht anmaßend, zu erwarten, dass das alles Widerstandskämpfer gegen die Islamisten sind, die jetzt nach Deutschland kommen? 

Nein, gar nicht. Ich hatte zu meiner Zeit Reporter, die in den fünf Regionen unterwegs waren. Und in Kandahar und Dschalalabad mussten sie sich mit den Taliban arrangieren, weil die dieses Gebiet dominierem. Ich bin davon überzeugt, dass sie sich sogar doppelt haben bezahlen lassen. Ich weiß nicht, ob die Bedrohung für die meisten so groß ist, wie uns weisgemacht wird. Im westlichen Kabul mag das stimmen, aber nicht auf dem Land.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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