SPD - Zwei Parteien in ihrer Brust

Die SPD ist zerrissen, vor allem in der Flüchtlingspolitik. Während Andrea Nahles zu Pragmatismus aufruft, klammert sich ein Teil der Partei an einen allumfassenden Humanismus. Höhepunkt: Die Verleihung eines Preises an den Kapitän des Rettungsschiffes „Lifeline“. Von Alexander Grau

Das deutsche Seenotrettungsschiff „Lifeline“ liegt im Hafen von Malta / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Ein Riss geht durch die SPD. Das ist nicht wirklich neu, aber in der vergangenen Woche wurde es einmal mehr überdeutlich. Und dieser Riss verläuft, wie so häufig in diesen Zeiten, entlang der Flüchtlingspolitik. 

Pragmatiker gegen Realisten

Auf der einen Seite stehen die Pragmatiker in der SPD. Sie halten an dem Konzept der Volkspartei fest. Um das glaubhaft vertreten zu können, reicht es jedoch nicht aus, bei ein paar linken Kulturschaffenden zu reüssieren oder von jenen Applaus zu bekommen, die ohnehin die Grünen wählen. Also plädiert man, wie Parteichefin Andrea Nahles im Interview mit dem Münchener Merkur, für einen „Realismus ohne Ressentiments“.

Auf der anderen Seite stehen die Idealisten. Ihnen ist im Grunde schon der Begriff Volkspartei suspekt. „Volk“, klingt das nicht irgendwie völkisch? Da graust es dem linken Akademiker im Ortsverein. Also eliminiert man tapfer alles, was als volksnah gelten könnte. Lieber die reine Lehre vertreten, als Kompromisse in Fragen des Humanismus einzugehen. In Zeiten wie diesen ist jedes Wahlergebnis über 30 Prozent ohnehin verdächtig. Wer weiß, wer einen da so wählt. Mit solchen Leuten möchte man gar nichts zu tun haben.

Aufgabe von Andrea Nahles als Parteivorsitzende ist es, beide Richtungen zusammenzuführen, die pragmatische und die esoterische. „Die SPD fliegt nur mit zwei Flügeln“, sagt sie dazu tapfer. Das stimmt. Nur: Was, wenn der eine Flügel gar nicht fliegen will, sondern es sich lieber in moralischen Komfortzone gemütlich macht?

SPD in Bayern verleiht Preis an „Lifeline“-Kapitän

Wie groß die Verlockung des Sterbens in moralischer Schönheit für viele Sozialdemokraten ist, demonstrierte am Donnerstag die bayerische Landes-SPD. Angesichts der eher schwierigen Situation (aktueller Umfragewert: 13 Prozent), verfiel man auf einen echten Wahlkampf-Knaller und beschloss, Claus-Peter Reisch, dem umstrittenen Kapitän der „Lifeline“, den Europa-Preis der SPD-Fraktion im bayerischen Landtag zu verleihen. Die Begründung in den Worten von Natascha Kohnen, SPD-Landesvorsitzende in Bayern: „Mutige Menschen wie Claus-Peter Reisch halten die Werte am Leben, für die unsere Gemeinschaft steht. Und zwar nicht nur mit Worten, sondern mit Taten! Deshalb ist er ein großer Europäer. Dass diesem tapferen Mann in einem Gerichtsverfahren eine Strafe droht, ist eine Bankrotterklärung an die Menschlichkeit und das Mitgefühl.“

Dass Leute wie Claus-Peter Reisch hunderttausende von Menschen erst dazu ermutigen, sich in Gefahr zu begeben, dass sie sich mitschuldig machen, dass sie kriminelle Strukturen unterstützen, dass sie illegale Einwanderung forcieren und gegen den Willen der Menschen in den potentiellen Aufnahmeländern handeln, all das spielt bei der bayerischen SPD keine Rolle. Schließlich geht es irgendwie um Menschlichkeit und Mitgefühl. 

Kleinbürgerlicher Idealismus statt historischer Materialismus

Dabei wäre es leicht, eine restriktive Flüchtlingspolitik nicht nur mit pragmatischen Argumenten verteidigen, sondern auch mit originär sozialistischen. Ein Blick ins Bücherregal, dort wo die Klassiker sozialistischer Theorie stehen, sollte helfen. Etwa der Jubilar Karl Marx. Bei dem könnte man etwas lernen über globalisierte Wirtschaft, über die Bedeutung „industrieller Reservearmeen“, wie Marx das nannte, und über die Funktion entwurzelte Niedriglohnarbeiter ohne Heimat. Und man könnte dort etwas über die ideologische Funktion des moralistischen Universalismus erfahren, mit dem die Folgen zynischer Ökonomie auf dem Rücken von Migranten und Aufnahmeländern süßlich übertüncht werden sollen.

Aber selbst dieses kleine Einmaleins sozialistischer Globalisierungskritik ist der SPD-Linken kaum noch zu vermitteln. Statt historischem Materialismus regiert im SPD-Wohlfühlmilieu kleinbürgerlicher Idealismus. Entsprechend gefällt sich die humanistische Linke in moralischer Selbstbeweihräucherung.

Zwei Lager mit unterschiedlichen Idealen

Es ist viel diskutiert worden in den letzten Wochen über den Zwist in der Union und die Frage, ob sich CDU und CSU nicht zu weit voneinander entfernt haben. Doch im Vergleich zu den beiden Flügeln der SPD wirken die beiden Unions-Schwestern wie ein Sinnbild für Harmonie. Denn in der Union herrscht zumindest Konsens darüber, was für eine Gesellschaft man will. Nur über die Mittel ist man uneins.

Anders in der SPD. Hier stehen sich zwei Lager gegenüber, die von ganz unterschiedlichen Gesellschaften träumen und sich ganz anderen Idealen verpflichtet fühlen: Dort die Sozialingenieure alter Schule und hier die Vertreter der neuen Linken, für die allein der Nahles-Satz, man könne nicht alle aufnehmen, eine Zumutung und rechter Jargon ist.

Unter dem Parteinamen SPD agieren im Grunde zwei Parteien. Die Farce um den Europa-Preis der Bayern-SPD zeigt das exemplarisch. Und auch Andrea Nahles wird es wohl nicht gelingen, diese beiden Parteien zusammenzuführen.

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