Leitkultur des Sigmar Gabriel - Die falsche Heimat der SPD

Im Überlebenskampf der SPD will Sigmar Gabriel über Leitkultur und Heimat debattieren. Der Ex-Parteichef macht dabei Gegensätze auf, die keine sind. Richtige Lösungen für die zunehmend heimatlose Partei sehen anders aus. Eine Antwort auf Alexander Marguier

Fingerzeig nach rechts? Sigmar Gabriel (SPD) spricht von Leitkultur und Heimat / picture alliance
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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In einem Gastbeitrag für den Spiegel, den Sigmar Gabriel (SPD) mit dem Titel „Sehnsucht nach Heimat“ überschrieben hat, widmete sich der geschäftsführende Außenminister und ehemalige SPD-Parteivorsitzende bewusst nicht der Frage, ob die SPD in eine Große Koalition eintreten sollte oder nicht. Gabriel wollte stattdessen darauf aufmerksam machen, dass es ihm „um viel grundsätzlichere Fragen“ gehe. Nämlich darum, wie die Sozialdemokratie mit „dem fundamentalen Wandel im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung“ umgehen solle. Kurz gesagt: Wie soll die SPD die Soziale Frage dieses Jahrhunderts beantworten? Würde sie das nämlich schaffen, so scheint Gabriel zu hoffen, könnte die SPD auch die halbe Million an Wählern zurückholen, die bei der Bundestagswahl zur AfD gewechselt sind.

Gabriels Vergleiche passen nicht zur Analyse

Die Frage, die Sigmar Gabriel aufwirft, ist eine zugegebenermaßen gewaltige. Und hätte er in seinem Gastbeitrag darauf auch eine ebenso gewaltige Antwort geliefert – Ruhm und Ehre wären ihm sicher, vielleicht sogar eine Kanzlerschaft nach etwaigen Neuwahlen. Eine Antwort dieses Formats zu erwarten, wäre überzogen gewesen. Aber das, was Gabriel da zu den altbekannten Begriffen von „Leitkultur“ und „Heimat“ aufgeschrieben hat, ist, anders als Alexander Marguier schlussfolgert, definitiv zu wenig. Es bietet kaum einen Ansatz, die Probleme der Digitalisierung und Globalisierung im Sinne einer Sozialdemokratie zu lösen. Im Gegenteil: Gabriel könnte mit seinem Beitrag die Probleme in den Köpfen vieler Menschen noch verschärfen. Denn er bringt Themen gegeneinander in Stellung, die im Grunde wenig miteinander zu tun haben. Am deutlichsten wird diese durchsichtige, Empörungsgefühlen nachgebende Taktik in diesem Absatz: 

„Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit, und die Ehe für alle haben wir in Deutschland fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht und nicht genauso emphatisch die auch von uns durchgesetzten Mindestlöhne, Rentenerhöhungen oder die Sicherung Tausender fair bezahlter Arbeitsplätze bei einer der großen Einzelhandelsketten.“

Gabriel versucht auf ein Gefühl aufmerksam zu machen, das womöglich tatsächlich viele Menschen haben: Die wirklich wichtigen Themen würden Politiker ja gar nicht mehr angehen. Stattdessen würden vor allem grün-liberale Positionen den Diskurs bestimmen. Für ein paar gut situierte Menschen würden die spannend und wichtig sein. Mit der Lebensrealität vieler aber hätten die wenig zu tun.

Tatsächlich zeichnet Sigmar Gabriel hier erstens ein völlig falsches Bild der SPD, die er zudem immerhin acht Jahre lang als Parteivorsitzender geführt hat. Zweitens redet er eine Konkurrenz einander angeblich ausschließender Themen herbei.

Die SPD, eine Umweltpartei?

An welcher Stelle hat die SPD sich denn als Vorreiterin in Sachen Umwelt- und Klimaschutz hervorgetan? Man nehme nur ihre aufgeschlossene Haltung zu Kohlekraftwerken, um eben jene Arbeitsplätze zu sichern. Auch in Fragen zu Dieselgate und VW setzt die SPD eher glaubwürdig auf Standortsicherung als auf Umwelt- oder Verbraucherschutz. Darum kümmern sich andere Player. Hat die SPD auf diesem Feld wirklich Wähler nach rechts verschreckt, weil sie zu grün war? Ausgerechnet das Kämpfen gegen den Klimawandel, der in vollem Gange ist, samt seiner Auswirkungen auf Migrationsbewegungen als Hindernis einer sozialdemokratischen Politik aufzubauen, wirkt seltsam realitätsfremd. Gabriel weiß, dass Deutschland in neue Technologien investieren muss, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Genau das sichert Arbeitsplätze. Was soll denn die Konsequenz aus seinen Worten sein? Noch weniger umweltpolitisches Profil bei der SPD?

Die SPD, eine Datenschutz-Partei?

Gabriel stellt in seinem Beitrag die SPD als eine Partei dar, der all die Jahre der Datenschutz viel wichtiger gewesen sei als die innere Sicherheit. Die Gesetzgebung der Großen Koalitionen aber belegt das nicht. Im Gegenteil: Die glaubwürdigen Gegner einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung sind noch am ehesten bei der FDP, den Grünen oder den fast vergessenen Piraten zu finden. Dass ausgerechnet ein zu starker Datenschutz-Fokus der SPD dafür verantwortlich sein soll, dass etwa Flüchtende ungeprüft ins Land gekommen sind oder zu wenige Polizisten eingestellt wurden, ist nicht mehr als ein rhetorischer Kniff, um keine konkrete Antwort geben zu müssen, die vor allem Geld kostet. Will die SPD den Datenschutz noch weniger wichtig nehmen? Der Anschlag vom Breitscheidtplatz etwa konnte jedenfalls nicht aufgrund mangelnder Überwachung begangen werden. Hier versagte in nicht unerheblichem Maße die behördliche Zusammenarbeit der Bundesländer, in denen auch die SPD mitregierte.

Gleichberechtigung gegen faire Löhne?

Zu guter Letzt benennt Gabriel mit der Ehe für alle ein Thema der Gleichberechtigung, eine angeblich zu emphatisch gefeierte SPD-Heldentat auf der Zielgeraden der Großen Koalition. Tatsächlich hatte sich die SPD viele Jahre um eine konsequente Forderung herumgedrückt. Gabriel behauptet überdies, die SPD hätte vielmehr ihre Politik für Löhne, Renten und bleibende Arbeitsplätze mit Emphase feiern müssen. Auch hier bedient Gabriel lediglich ein diffuses Empörungsgefühl und bringt Dinge zusammen, die nicht zusammen gehören. Gleichberechtigung sei ja wichtig, aber... Ja, aber was?

Der Wählerverdruss bestimmter Schichten wird weniger daran liegen, dass die Einführung des Mindestlohns nicht so medial orchestriert mit Glitzer im Bundestag und Regenbogenfahnen wie die Ehe für alle bejubelt wurde, sondern daran, dass die SPD es nicht vermag, ihn konsequent genug umzusetzen. Nach wie vor wird er millionenfach umgangen und ist noch immer zu niedrig, um später eine auskömmliche Rente oberhalb der Mindestsicherung zu erzielen. Ähnliches gilt für die missgeburtliche Mietpreisbremse. Zu der mag einer stehen wie er will, die Situation der Mieter verbessert hat sie aber kaum. Ob die Menschen echte Verbesserungen haben, ist entscheidend, und nicht, ob Männer und Frauen nun auch gleichgeschlechtlich heiraten dürfen.

Die falsche Heimat der SPD

Tatsächlich muss sich die SPD stärker um Themen kümmern, über die sie allzu leichtfertig hinweggegangen ist. Aber weder gibt es von Gabriel konkrete Vorschläge zu konkreten sozialpolitischen, noch zu rechtspolitischen Maßnahmen. Dafür fordert er eine Debatte über „Heimat“ und „Leitkultur“, die man nicht den Konservativen überlassen sollte. Denn es gehe den Menschen nun einmal um Identität. Nicht ohne Grund, so schreibt er, würde sich ja die rechtsradikale Gruppe der Identitären auch so nennen. Indem er damit aber versucht, in Gewässern zu fischen, wo andere ihre Reusen längst ausgebracht haben, vertut er eine historisch notwendige Chance.

Gabriel verkennt, dass er als Sozialdemokrat darüber nachdenken müsste, den Menschen im Land nicht zuallererst eine nationale Heimat zu bieten, die überdies derzeit gar nicht zur Disposition steht. Seine Aufgabe wäre es, den Menschen in der Welt der Globalisierung und Digitalisierung wieder eine soziale, und das heißt auch sichere Heimat zu geben. Kein Wort verliert er indes über die Agenda-Politik der Schröder-Jahre, die eine soziale Heimatlosigkeit bis in die Mittelschicht hinein aufgrund von zunehmendem Druck, Unsicherheit und Zukunftsangst befördert hat. Heimat, wenn man sie denn so nennen möchte, definiert sich vor allem dort, wo es einem selbst und dem familiären sowie freundschaftlichen Umfeld gut geht.

Von der Montan- zur Sozialunion

Ein Leitkultur-Katalog, selbst wenn jeder Migrant einen Schwur darauf ablegen, wird so eine soziale Heimat in Form von bezahlbaren Mieten, angemessenen Löhnen, auskömmlichen Renten und zukunftsweisender Bildung aber nicht schaffen. Dazu braucht es mehr. Gabriel weist zu Recht auf Europa hin. Aber er bleibt darin leider vage. Vielleicht um den leicht gequälten Heimat-Spin des Textes nicht zu gefährden.

Dabei dürften in Europa künftig längst nicht nur finanz- oder verteidigungspolitische Visionen umgesetzt werden. Hier müssten etwa Deutschland und Frankreich auch vermehrt sozial- und steuerpolitisch kooperieren. 1951 gründeten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die Montanunion. Warum keine derart gestaltete Fiskal- und Sozialunion? Warum nicht ein Europa der zwei, drei oder sogar vier Geschwindigkeiten, dem sich jeder, der Willens und fähig ist, anschließen kann?

Wenn die Sozialdemokratie ihre Ideen ernst nimmt, kann sie ihre Ziele nur international erreichen. Nur wenn sie das schafft, wird sie auch wieder national überzeugen.

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