Deutschland und der Ukraine-Krieg - Ausrede für Tatenlosigkeit

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner legte diese Woche einen irritierenden Auftritt in einer ZDF-Talkshow ab, in der er sich gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aussprach. Stegner steht beispielhaft für einen Teil der deutschen Politik, die zynisch die deutsche Geschichte nutzt, um ihre Untätigkeit im Ukraine-Krieg zu begründen.

Der SPD-Politiker Ralf Stegner bei einer Rede im Bundestag im Februar 2022 / dpa
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Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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Der SPD-Politiker Ralf Stegner ist in den sozialen Netzwerken ziemlich aktiv. Jeden Tag veröffentlicht er bei Facebook und Twitter einen „Guten Morgen aus Bordesholm“, in dem er über seine Termine informiert, seine Gedanken zum Weltgeschehen sowie seine Meinung über die politischen Gegner und ihn und seine Partei kritisierende Journalisten mitteilt. Immer umrahmt von einem Musiktipp aus dem „digitalen Orbit“, wie der Bundestagsabgeordnete gerne schreibt.

Am gestrigen Freitag war es Norah Jones mit einer Live-Version ihres Hits „Come Away With Me“. In der jüngsten Zeit verbreitete Stegner zudem sehr fleißig Tweets des Auschwitz-Museums. Seit Jahren erinnert die Gedenkstätte so täglich an die Opfer des Nationalsozialismus und des deutschen Rassenwahns, die in diesem Konzentrationslager ermordet wurden. Mit einem Foto und einer kurzen Biografie gibt sie diesen Menschen, egal ob Juden oder Sinti und Roma, somit ein Gesicht.

Es sind Menschen, die in die Mühlen der deutschen Tötungsmaschinerie gerieten, weil sich ihre Heimatländer gegen das militärisch überlegene Nazi-Deutschland nicht effektiv wehren konnten. Doch ob Ralf Stegner tatsächlich Lehren gezogen hat aus diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte und er das „Nie wieder“ wirklich verstanden hat, darf nach seinem Auftritt in der Talkshow von Markus Lanz am Mittwoch bezweifelt werden.

Denn Stegner verwahrte sich nicht nur gegen jede Kritik an der Russland-Politik seiner Partei der vergangenen Jahre, die schlicht in einem Desaster endete, er erklärte nicht nur sein Unverständnis für die Rücktrittsforderungen an Manuela Schwesig, die als Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommern zu einem Dienstleister von Gazprom umwandelte und nun seit Wochen mit neuen Enthüllungen über ihre obskure „Klima- und Umweltstiftung MV“ zu kämpfen hat, sondern er sprach sich auch gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aus. Sein Argument: Das würde nur das Sterben in der Ukraine verlängern, die keine Chance hat, den Krieg gegen Russland zu gewinnen.

Zynischer Missbrauch der deutschen Geschichte

So bitter das auch klingen mag: Praktisch bedeutet dies nichts anderes, als dass Stegner den Ukrainern das Recht auf Selbstverteidigung abspricht. Dabei übersieht der Politiker nicht nur die russischen Kriegsverbrechen in Butscha oder Irpin und die mittlerweile dokumentierten Vergewaltigungen von Ukrainerinnen durch russische Soldaten, die zur Kampfstrategie der russischen Armee in der Ukraine gehören, sondern ignoriert auch völlig, dass diese Morde, Vergewaltigungen und auch Raubzüge von Putins Soldateska nach einer Aufgabe der Ukraine weitergehen würden.

Man muss nur einen Blick in die Reden von Putin oder auf die russische Propaganda werfen. Da wird der Ukraine nicht nur jede Eigenstaatlichkeit abgesprochen, sondern mittlerweile gar zu der Vernichtung alles Ukrainischen aufgerufen, sowohl durch den Tod als auch die Umerziehung der Bevölkerung. Angesichts diesen Tatsachen ist jeder von Stegner weiterverbreitete Tweet des Auschwitz-Museums nur purer Zynismus.

Doch mit dieser Art von Zynismus steht Stegner nicht allein da, sondern durchaus ein großer Teil der deutschen Politik. Denn obwohl Deutschland der viertgrößte Waffenexporteur der Welt ist, gehört zu der Maxime der deutschen Politik, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Was moralisch zwar lobenswert ist, aber schon durch die Tatsache, dass die Großkunden deutscher Rüstungskonzerne Saudi-Arabien oder die Türkei selber in Jemen, Syrien und dem Irak zündeln, ad absurdum geführt wird.

Noch absurder wird diese Politik, keine Kriegswaffen in Krisengebiete zu liefern, wenn man sie mit der deutschen Geschichte begründet.

Deutschlands historische Schuld

Denn wie zynisch dieses Argument sein kann, zeigt ausgerechnet der Krieg in der Ukraine. Denn wer sich gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausspricht, und dem Land so das Recht abspricht, sich zu verteidigen, der ist nicht nur bereit, dortige Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung zu akzeptieren, sondern der vergisst auch, dass Deutschland selbst eine historische Schuld gegenüber der Ukraine hat.

Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion kostete laut Schätzungen bis zu acht Millionen Menschen in der Ukraine das Leben. Zusammen mit dem heutigen Belarus gehörte die Ukraine zu jenem Teil der Sowjetunion, der durch Tod und Zerstörung im Zuge des deutschen Vernichtungskriegs im Osten am meisten litt. Doch wie die letzten Jahre gezeigt haben, scheint diese historische Schuld der deutschen Politik nur eine Richtung zu kennen: Moskau. Egal ob es um Nord Stream 2 ging oder die deutsche Ostpolitik in den letzten zwei Jahrzehnten generell.

Begründet wurde diese mit der historischen Schuld gegenüber der Sowjetunion. Vergessen wurde dabei jedoch, dass die Sowjetunion nicht nur aus dem heutigen Russland bestand, sondern dass Deutschland auch eine historische Schuld gegenüber den anderen Nationen in Ost- und Ostmitteleuropa auf sich geladen hat. Ohne den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 wären die baltischen Staaten nicht für 50 Jahre Teil der Sowjetunion geworden. Ohne die Großmacht- und Rassenfantasien des III. Reichs wären in Polen nicht 6 Millionen polnische Staatsbürger umgebracht worden.

Doch diese historische Schuld spielte in all den Jahren keine Rolle, wenn die östlichen Partner Berlin vor den Gefahren seiner Russland-Politik warnten. Warnungen, die sich spätestens mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar als richtig erwiesen.

Argument für Tatenlosigkeit

Wer sich heute also mit dem Verweis auf die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte gegen Waffenliegerungen an die Ukraine ausspricht, sucht nur ein Argument für seine Tatenlosigkeit. Bestes Beispiel dafür ist der evangelische Landesbischof Friedrich Kramer. „Manchmal können wir alle nur hilflose Zuschauer sein. Und das ist vielleicht gut so“, erklärte der Friedensbeauftragte der evangelischen Kirche und verwies dabei auf die deutsche Geschichte.

Dabei würde es den Horizont erweitern, wenn man auch mal auf die direkten Opfer der deutschen Geschichte hören würde, auf dies sich Stegner und andere berufen. So wie zum Beispiel den 2009 verstorbenen Marek Edelman. Er war nicht nur einer der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, dessen 79. Jahrestag vor wenigen Tagen begangen wurde, sondern auch einer der wenigen Überlebenden.

1995 wurde er in einem Interview mit der taz gefragt, ob Deutschland trotz seiner Vergangenheit Truppen nach Bosnien schicken sollte, wo damals ein schrecklicher Krieg mit täglich neuen Kriegsverbrechen herrschte. Edelmans Antwort: „Was soll denn das heißen? Damals waren sie dort, um zu morden, heute sollen sie hin, um das Morden zu beenden. Die Deutschen haben sich verändert, oder? Warum sollen sie dann nicht andere Menschen beschützen?“ Für die hiesige Diskussion um die Lieferung schwerer Waffen hätte Edelman wohl noch weniger Verständnis.

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