3G-Regel auf Berliner Bahnsteigen - Frieren für den Infektionsschutz

Seit vergangenem Mittwoch gilt die 3G-Regel auch auf Bahnsteigen der Berliner Verkehrsbetriebe und der S-Bahn. Betroffen davon sind hauptsächlich Obdachlose, die dort Zuflucht vor der Kälte suchen. Die Lebenssituation von Obdachlosen wurde dabei nicht bedacht.

Die Freiheit, unter der Brücke zu schlafen: Obdachlose am Bahnhof Zoo / dpa
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Ingo Way ist Chef vom Dienst bei Cicero Online.

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Seit Mittwoch heißt es nicht nur im öffentlichen Nahverkehr, sondern auch schon auf den Bahnsteigen der Berliner U- und S-Bahnhöfe: „geimpft, genesen oder getestet“ (3G). Diese Verschärfung der Corona-Regeln hatte der neue rot-rot-grüne Senat wenige Tage zuvor beschlossen. Keine große Sache, mag man sich denken, schließlich gilt die 3G-Regel in Bussen und Bahnen schon seit November, und wer sich auf einem Bahnsteig aufhält, will in der Regel auch das dort haltende Beförderungsmittel betreten. Was ändert sich also schon groß? 

Eine Gruppe gibt es jedoch, die Bahnsteige nicht ausschließlich zum Warten auf die Weiterfahrt nutzt: die Obdachlosen, die sich, gerade jetzt im Winter, zum Übernachten dort aufhalten. Doch auch für sie gilt: Wenn sie nicht nachweisen können, geimpft, genesen oder getestet zu sein, müssen sie wieder hinaus in die Kälte. „Aus Gründen des Infektionsschutzes ist eine Ausnahmeregelung nicht erwünscht“, heißt es so klipp und klar wie kalt und klirrend vonseiten der Berliner Sozialverwaltung. Aber was heißt schon Ausnahme? Da Fahrgäste ohnehin mit einer Kontrolle ihres 3G-Status rechnen müssen, drängt sich der Eindruck auf, die Ausweitung der Regel auf den Bahnsteigbereich solle gezielt diese Gruppe treffen. Eine „Lex Obdachlose“ sozusagen.  

Es gibt nicht genügend Notunterkünfte

Nun könnte man mit den Schultern zucken und nonchalant sagen: Sollen sie sich eben impfen lassen. Doch die Entscheidung gegen eine Impfung ist bei Obdachlosen ebenso zu respektieren wie bei jedem anderen. Zumal sich die Kontrolle und Nachsorge eventueller Impfnebenwirkungen bei dieser Personengruppe als besonders schwierig erweisen dürfte. Und ein indirekter Impfzwang durch Drohung mit dem Kältetod geht doch wohl weit über das hinaus, was selbst der überzeugteste Impfbefürworter für angemessen halten dürfte.

Der sich sonst, zumindest rhetorisch, so sozial gebende linke Senat hat die Konsequenzen für viele Obdachlose entweder nicht bedacht, oder sie sind ihm gleichgültig. Denn selbst wenn man zur Abhilfe „niedrigschwellige” Test- oder Impfangebote für Obdachlose bereitstellte: Die strikte Umsetzung der 3G-Regel auf Bahnsteigen würde auch Menschen betreffen, die zwar geimpft sind, aber ihren Nachweis verloren haben, was im Obdachlosenalltag ja durchaus vorkommen kann. Außerdem gibt es da noch Personen ohne Ausweisdokumente oder Aufenthaltsstatus. Und nicht jeder hat ein Smartphone, um sich im Testzentrum zu registrieren. Auf Alternativen, etwa zusätzliche Notunterkünfte, können Wohnungslose auch nicht zurückgreifen, denn es gibt nach Aussagen von freiwilligen Helfern sowieso derzeit zu wenig Plätze in Unterkünften im Rahmen der Kältehilfe. Und die Kältebahnhöfe der BVG als Wärmestuben wurden schon 2019 abgeschafft.  
 
Müssen Obdachlose nun auf der Straße übernachten, wenn sie das Pech haben, sich nicht rechtzeitig haben testen zu lassen, oder wenn sie ihre Impfbescheinigung verloren haben? Die Unterkünfte bieten zwar Tests vor Ort an und stellen auch Nachweise aus. Doch die Obdachlosen müssen zu diesen Unterkünften ja erst einmal hinkommen. Normalerweise geschieht das per Bus und Bahn. Durch die 3G-Regelung ist ihre Mobilität diesbezüglich aber noch stärker eingeschränkt als bisher. 

Appell von Hilfsorganisationen

In diesem Zusammenhang hieß es bereits in einem offenen Brief an Noch-Kanzlerin Merkel sowie die Mitglieder der künftigen Bundesregierung, den 24 soziale Organisationen, darunter die Berliner Obdachlosenhilfe, die Albatros gGmbH, der Arbeitskreis Wohnungsnot Berlin und der Kälteschutz im Mehringhof, bereits am 30. November anlässlich der 3G-Regel im Nahverkehr gemeinsam verfasst hatten: „Wir benötigen dringend eine politische Lösung für vulnerable Personen im öffentlichen Nahverkehr. Die 3G-Pflicht, die seit dem 24. November 2021 auf Grundlage des neuen Infektionsschutzgesetzes gilt, verschärft die prekäre Situation dieser Menschen gefährlich. Menschen ohne Obdach oder festen Wohnsitz sind zum Überleben auf Mobilität angewiesen, beispielsweise um Notübernachtungen, zentral organisierte Essensausgaben oder rollende Arztpraxen zu erreichen, um zur Arbeit zu gehen oder Termine beim Bürgeramt wahrzunehmen. Viele Menschen, die auf der Straße leben, sowie Geflüchtete und andere Personen, besitzen aber keine gültigen Ausweisdokumente. Ein Identifikationsdokument ist jedoch notwendig, um eine vorhandene Impfung digital zu belegen oder überhaupt Schnelltests zu erhalten. Sie sind strukturell vom Zugang zu 3G und mit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes nun somit auch institutionell vom Zugang zu lebensnotwendiger Mobilität ausgeschlossen.“ 

Die Verfasser appellieren an die Bundesregierung: „Insbesondere vor dem Hintergrund des herannahenden Winters und der Möglichkeit pandemiebedingter Schließungen von Wärmestuben oder benannter Zugangsbeschränkungen in der Wohnungsnotfallhilfe, fordern wir die Sie auf, hier umgehend eine Lösung zu finden: Wir fordern hierzu zeitnah einen gemeinsamen runden Tisch von Politik und Organisationen der Wohnungslosenvertretungen in Deutschland!“ Eine Reaktion der Bundesregierung gab es bisher nicht. Ein runder Tisch, um die Probleme der Obdachlosen zu lösen, scheint nicht ganz oben auf der Prioritätenliste sowohl der Ampel als auch des Berliner Senats zu stehen. Lieber vertreibt man sie von Bahnsteigen. Natürlich im Namen des Gesundheitsschutzes. 

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