Putins Atomwaffendrohung - Der Kalte Krieg 2.0

Putins Ankündigung, die russischen Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, muss ernstgenommen werden. Das heißt aber auch, dass der Westen seine Schritte besonnen abschätzen muss. Es muss unbedingt vermieden werden, dass die gegenwärtige Situation in einen heißen Krieg zwischen der Nato und Russland eskaliert. Denn bei Atomwaffeneinsätzen könnten weite Teile Europas vernichtet werden.

„Ein Nuklearkrieg darf niemals geführt werden“: Reagan und Gorbatschow tauschen am 1. Juni 1988 in Moskau die Ratifizierungsurkunden des INF-Vertrages zur Vernichtung der atomaren Mittelstreckenraketen aus / dpa
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Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a.D., hat u.a. im Verteidigungs- ministerium und in den deutschen Vertretungen bei der Nato und den Vereinten Nationen gearbeitet.

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Präsident Putin hat am 27. Februar dem Verteidigungsminister und dem Generalstabschef vor laufenden Kameras befohlen, die russischen Atomstreitkräfte in einen höheren Alarmstatus zu versetzen. Besonders gravierend ist, dass er diese Drohungen auch mit den massiven wirtschafts- und finanzpolitischen Sanktionen der westlichen Staaten begründet hat. Er ging damit weit über die von ihm selbst gebilligten Grundsätze der Russischen Föderation für Nuklearwaffeneinsätze hinaus.

In dem entsprechenden Regierungsdokument werden u.a. die Konditionen für den Einsatz von Atomwaffen beschrieben. Neben der Antwort auf einen gegnerischen nuklearen Angriff oder auf disruptive Angriffe gegen kritische Regierungseinrichtungen und die Nuklearstreitkräfte, sind Atomwaffenschläge im Fall einer gegnerischen Aggression mit konventionellen Waffen für den Fall vorgesehen, dass die Existenz der Russischen Föderation bedroht ist. Diese Richtlinie entspricht zumindest im letzten Punkt der gültigen russischen Militärdoktrin aus dem Jahr 2014.

Heikle Fragen an der Schnittstelle zwischen politischer und militärischer Führung

Putins Befehl zur Erhöhung der Alarmstufe dürfte in seinem Generalstab mit Verwunderung aufgenommen worden sein. In internationalen Medien wird angesichts seiner übersteigerten Atomdrohungenen über die Geistesverfassung Putins gerätselt. Die Rolle der Generalstäbe oder vergleichbarer Organisationsstrukturen an der Schnittstelle von Politik und militärischer Führung der Atommächte ist immer wieder Gegenstand von Fachanalysen und Diskussionen gewesen. Die Kommandostrukturen, Kommunikationsverbindungen und die jeweiligen Rollen bei der Entscheidungsvorbereitung und Umsetzung von atomaren Einsatzbefehlen standen dabei im Mittelpunkt.

Im Gegensatz zur Abschottung der entsprechenden Kommunikationsprozesse im Moskau entstand im Zusammenhang mit Drohungen Trumps gegen Nordkorea („Fire and Fury“) in Washington im Jahr 2018 eine aufschlussreiche Debatte über die Umsetzung von nuklearen Einsatzbefehlen des Präsidenten durch die militärische Führung. Ein Thema war die Haltung und das Verhalten der verantwortlichen Generale in der nuklearen Kommandokette für den Fall von ethisch und rechtlich fragwürdigen Einsatzbefehlen eines Präsidenten, der möglicherweise mental nicht stabil sein könnte. Der amerikanische Nuklearexperte Fred Kaplan schildert in seinem 2020 erschienenen Buch „The Bomb: Presidents, Generals, and the Secret History of Nuclear War“ die Debatten in Washington über die Frage, ob der amerikanische Präsident seine alleinige Macht zur Autorisierung von Atomschlägen mit dem Kongress teilen müsse.

Dazu kam es nicht. Kaplan erwähnt allerdings Kongressanhörungen, in denen sich ehemalige Generäle aus der atomaren Kommandokette heiklen Fragen stellen mussten. Der frühere kommandierende General des Strategischen Kommandos der USA, Robert Kehler, wird von Kaplan mit der Aussage zitiert, dass Atomwaffeneinsatzbefehle des Präsidenten legal sein müssen, um von der militärischen Führung umgesetzt zu werden. Er stellte die Implementierung nicht legaler Befehle des Präsidenten in Frage. Hier komme der menschliche Faktor ins Spiel. Angesichts der unfassbaren Tragweite von atomaren Einsatzentscheidungen stellen sich ähnliche Fragen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem russischen Präsidenten und dem Moskauer Generalstab. Der Generalstabschef und dessen wichtigste Mitarbeiter spielen eine entscheidende Rolle bei der Durchführung von atomaren Einsätzen. Werden sie jeden Einsatzbefehl ungeprüft an die Nuklearstreitkräfte weiterleiten oder angesichts der Tragweite von Atomwaffeneinsätzen prüfen, ob der Befehl des Präsidenten rechtmäßig ist?

Russland bleiben nur noch militärische Mittel in seinem sicherheitspolitischen Instrumentenkasten

Die massiven wirtschafts- und finanzpolitischen Sanktionen des Westens werden Russland in seinen Kerninteressen treffen. Russische Gegensanktionsmöglichkeiten im Energiesektor fallen aufgrund der Diversifizierungsanstrengungen der Europäischen Union praktisch aus. Moskau verliert seine Hebel als Energiemacht. Damit hat die russische Führung nur noch militärische Mittel bis hin zu den Atomwaffen in seinem sicherheitspolitischen Instrumentenkasten. Das ist ein klares Zeichen von Schwäche. Aber es macht Russland noch gefährlicher als bisher. Das zeigen die inzwischen wiederholten Anspielungen und Hinweise Putins auf das eigene Atomwaffenwaffenpotential. Russland ist eine atomare Supermacht auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten. Von seinen insgesamt ca. 4400 Atomsprengköpfen sind vermutlich mindestens 1500 Atomwaffen mit verschiedenen Einsatzmitteln operativ einsetzbar („deployed“), ein insgesamt gigantisches Auslöschungspotential.

Wer hätte sich vorstellen können, dass der russische Präsident den Alarmstatus seiner Atomwaffen als Antwort auf Wirtschaftssanktionen und die Lieferung leichter Waffen an die Ukraine erhöht? Vor diesem Hintergrund ist bei allen Sanktionen gegen die russische Invasion Besonnenheit und Folgenabschätzung eigener Schritte notwendig. Unbedachte Absichtserklärungen wie z.B. die Aussage, dass es Ziel der europäischen Sanktionen sei, Russland zu ruinieren, nähren und verstärken nur die übersteigerten, irrealen Bedrohungsvorstellungen. Verstörend ist, dass der ehemalige Oberkommandierende der Nato-Streitkräfte (SACEUR), General Philip Breedlove, in einem aktuellen Interview mit Foreign Policy die von Präsident Selenskyj vorgeschlagene Durchsetzung einer Flugverbotszone über der Ukraine unterstützt. In Kauf nehmend, dass dies geradewegs in einen heißen Krieg zwischen der Nato und Russland führen würde. Eine unfassbare, offenbar emotional getriebene, leichtfertige Haltung dieses ehemals höchsten Offiziers in der Nato-Kommandostruktur. Präsident Biden hat derartige Vorschläge prompt abgelehnt.

Atomwaffen sind in die militärpolitischen Planungen zurückgekehrt

Es kommt hinzu, dass in den letzten Jahren, von Politik und Öffentlichkeit in Deutschland kaum wahrgenommen, die Rolle der Atomwaffen in der Militärpolitik Russlands und der USA wieder akzentuiert wird. Spätestens seit dem „Nuclear Posture Review“ der Trump-Administration von 2018 ist erkennbar, dass Washington in seiner Abschreckungslogik die atomare Schwelle faktisch gesenkt hat. Dies gilt auch für das „European Theater“. Äußerst zielgenaue Trägersysteme mit sogenannten „Low yield“-Atomsprengköpfen, also niedrigen Sprengwerten, sind bereits in den Arsenalen oder werden eingeführt. Die damit einhergehenden Kalküle zielen auf die Begrenzung von Kollateralschäden bei Atomexplosionen. Das korrespondiert mit der strategischen Vorstellung begrenzter Nukleareinsätze („limited nuclear options“) im Rahmen eines integrierten konventionell-nuklearen Gefechts. Es kann angenommen werden, dass diese Vorstellungen auch in die Nuklearstrategie der Nato einsickern.

Vermutlich ist im Rahmen des in nächster Zeit anstehenden „Nuclear Posture Review“ der Biden-Administration keine Änderung dieser Grundlinie zu erwarten. Sie widerspricht dem traditionellen deutschen Interesse an einer hohen nuklearen Schwelle. Denn die Annahme, dass sich Atomwaffeneinsätze in einem Krieg zwischen Russland und der Nato begrenzen lassen, ist vermutlich nicht mehr als eine Wunschvorstellung. Zumindest besteht ein hohes Risiko, dass durch eine Kette von Atomschlägen und Gegenschlägen weite Teile Europas vernichtet werden, ein untragbares Armageddon, in dem Sieg oder Niederlage keine rationalen Kategorien mehr wären. Mit begrenzten Nuklearoptionen verbundene Vorstellungen nuklearer Planer von Eskalationskontrolle oder gar Eskalationsdominanz repräsentieren eher Glaubenssysteme als rational begründbare Annahmen. Das nukleare Eskalationsrisiko wächst außerdem mit der relativen konventionellen Schwäche der europäischen Streitkräfte in Verbindung mit geringen präsenten amerikanischen Kräften in Europa. Lücken, die durch nukleare Optionen ausgeglichen werden müssten. Man fühlt sich angesichts dieser Entwicklungen zurück in die Zeit der „vorbedachten Eskalation“ im Rahmen der „Flexible Response“ der Nato im alten Kalten Krieg versetzt. Dazu passt beispielsweise eine Wargaming-Studie der Rand Corporation, in der amerikanische Experten im Jahr 2019 die Rolle von Nuklearwaffen zur Abschreckung eines russischen Angriffs auf die baltischen Staaten betrachtet haben.

Über Trends im russischen militärstrategischen Denken gerät traditionell weniger an die Öffentlichkeit. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass ähnliche Entwicklungen in den russischen operativen Planungen stattgefunden haben, die im Westen als „Escalate to de-escalate“-Doktrin diskutiert werden.

Über den Russland-Ukraine-Krieg hinaus: Welchen Kalten Krieg 2.0 wollen wir?

Die mit all diesen Entwicklungen im Abschreckungsdenken verbundene Möglichkeit eines regionalen, auf Europa begrenzten Krieges mit Atomwaffen widerspricht dem deutschen und europäischen Interesse. Sie stehen im Kontrast zu den Beteuerungen des amerikanischen und des russischen Präsidenten im Juni 2021, denen zufolge ein „Nuklearkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“. Beide hatten diesen Kernsatz in Genf wiederholt, der zuerst 1986 von Gorbatschow und Reagan am selben Ort geprägt worden war. Inzwischen ist der Satz auch in eine Erklärung der fünf Atommächte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingegangen. Eine Konsequenz dieser vernunftmäßigen Einsicht über die Nichtführbarkeit eines Atomkriegs ist, dass in der Nato-Verteidigungsplanung die Rolle und die Abhängigkeit von Atomwaffen wieder verringert werden müssen. Das entscheidende Mittel dazu ist hinreichende konventionelle Verteidigungsfähigkeit, die in Verbindung mit Rüstungskontrolle zu konventioneller Stabilität führt. Die kürzliche Entscheidung der Bundesregierung, zusätzlich zu den laufenden jährlichen Verteidigungshaushalten einmalig 100 Milliarden Euro für die Wiederherstellung der materiellen und personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr bereitzustellen, ist ein bedeutender deutscher Beitrag, um konventionelle Stabilität in Europa herzustellen.

Zurück zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, der in den kommenden Tagen wahrscheinlich von den russischen Truppen noch brutaler geführt werden dürfte als bisher. Auf diesen Krieg wird vermutlich eine länger anhaltende Eiszeit, ein neuer Kalter Krieg zwischen Russland und der Nato folgen. Mit Kampftruppenstationierungen beiderseits einer langen militärischen Kontaktlinie von Nordnorwegen bis zum Schwarzen Meer. Denn die Nato-Russland-Grundakte von 1997 mit ihren Restriktionen für Nato-Stationierungen im Beitrittsgebiet ist offenkundig obsolet. Bei allen ökonomischen Sanktionen und militärischen Maßnahmen sollte zeitnah die strategische Frage gestellt und beantwortet werden, welchen neuen Kalten Krieg wir in Europa eigentlich anstreben. Einen neuen „Eisernen Vorhang“ mit dichter Vorneverteidigung und neuen Raketen- bzw. Atomwaffenstationierungen auf beiden Seiten, oder einen Kalten Krieg, der den steinigen und mühsamen Weg hin zu einem belastbaren und stabilen Verhältnis mit Russland in der Zukunft offen hält? Die Weichen dafür werden bereits in nächster Zeit gestellt werden. Verständlicherweise sind die aktuellen politischen Debatten angesichts des sich noch steigernden Kriegsleids in der Ukraine durch ein hohes Maß an Emotionen gekennzeichnet. Politische Verantwortung erfordert aber auch eine nüchterne strategische Betrachtung, wie noch viel Schlimmeres verhindert werden kann, insbesondere das Übergreifen des Russland-Ukraine-Kriegs auf einen Krieg zwischen der Nato und Russland, bei der die atomare Eskalationsdrohung wie ein Damoklesschwert über Europa schwebt.

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