WM in Katar - Muskelspiele in der Wüste

Im Nahen Osten ist Katar militärisch klar unterlegen, doch mit strategischen Investitionen hat das kleine Emirat mächtige Verbündete im Westen gewonnen – auch in Deutschland. Doha gilt inzwischen als wichtiger Vermittler für Krisen in der arabischen Welt – die Fußball-Weltmeisterschaft soll diese Stellung ausbauen.

Bundeskanzler Olaf Scholz zu Besuch in Katar, September 2022 / dpa
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Die Jahreshauptversammlung des FC Bayern im November 2021 ging in die Fußballgeschichte ein. Kritische Fans wollten die Partnerschaft ihres Klubs mit der Fluglinie Qatar Airways diskutieren. Die Führungsriege lehnte Anträge zum Thema ab, die Stimmung heizte sich auf. Der Präsident des FC Bayern und frühere Vorstandsvorsitzende von Adidas, Herbert Hainer, ließ ausstehende Wortmeldungen nicht mehr zu und brach die Versammlung ab. Es folgten Buhrufe und Beleidigungen. Fans skandierten: „Wir sind Bayern – und ihr nicht.“ Ehrenpräsident Uli Hoeneß sprach von der schlimmsten Veranstaltung überhaupt.

Es gibt wohl kein anderes Thema, das die Sportgemeinschaft zuletzt so aufgebracht hat wie der ökonomische Einfluss Katars in Europa. Diese Ablehnung dürfte mit zunehmender Aufmerksamkeit steigen. Am 20. November beginnt am Persischen Golf die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer, das größte Sportspektakel überhaupt. Seit Monaten organisieren Fangruppen Protestveranstaltungen und planen Alternativturniere während der WM. Bei Bundesligaspielen präsentieren sie Banner mit dem Schriftzug „Boycott Qatar“. Es läuft auf einen Dualismus hiaus: Hier das gute demokratische Deutschland, dort das böse autokratische Katar.

Katar diversifiziert seine Wirtschaft

Die Wahrheit ist komplizierter. Nicht nur der europäische Fußball steht in Abhängigkeit zum wohlhabenden Katar, sondern auch Politik und Wirtschaft. Das wurde spätestens beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz Ende September in Doha deutlich, als er um mögliche Lieferungen von Flüssiggas warb. Entlang dieser Annäherung lassen sich zentrale Fragen diskutieren: Wie können deutsche Organisationen für Menschenrechte eintreten, ohne auf wichtige ökonomische Partnerschaften zu verzichten? Wie kann sich auch die emotionale Fußballindustrie auf die Realpolitik innerhalb einer globalisierten Wirtschaft einlassen?

Mehr als zwei Milliarden Euro dürfte Katar in europäische Fußballklubs investiert haben. Gemessen an den Gesamtinvestitionen des Emirats: eine überschaubare Summe. Die Qatar Investment Authority, einer der größten Staatsfonds der Welt, soll in Dutzenden Ländern mehr als 350 Milliarden Euro angelegt haben. Gut ein Viertel in den USA, Großbritannien und Frankreich, drei ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats. Katar hält Anteile an Kapitalmärkten wie der Londoner Börse und an Banken wie Barclays und Credit Suisse. Auch an der US-Filmproduktion Miramax, dem Londoner Kaufhaus Harrods und an der britischen Supermarktkette Sainsbury ist Katar beteiligt.

Katar legt sein Geld in zukunftsfähigen Branchen langfristig an und kalkuliert das gelegentliche Scheitern mit ein. Seit der Entdeckung von einem der weltweit größten bekannten Erdgasfelder vor der katarischen Küste Anfang der 1970er-Jahre hat sich Doha zu einem wichtigen Gasexporteur entwickelt. Das Land verfügt über 12,5 Prozent der bekannten Gasreserven. Fast 60 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus diesem Sektor. Doch die Zeit fossiler Rohstoffe geht mittelfristig zu Ende. Katar muss seine Wirtschaft diversifizieren. Doha will und muss mehr auf Dienstleistungen, Technologien und Tourismus setzen.

Am Persischen Golf liegt Katar auf einer kleinen Halbinsel, umgeben von den Regionalmächten Saudi-Arabien und Iran, die in Feindschaft verbunden sind. Doha ist seinen Nachbarn militärisch klar unterlegen. Viele Katarer haben die Sorge, dass ihnen etwas Ähnliches widerfährt wie Kuwait, das 1990 vom Irak unter Saddam Hussein überfallen wurde. Eine Allianz unter Führung der USA musste zur Befreiung anrücken. Seither knüpft Katar für seine Sicherheit Netzwerke in alle Richtungen.

Ein kleiner Herrscherkreis

Zum einen bindet sich Katar an den Westen. Seit 2003 beherbergt das Land eine der größten US-Militärbasen im Nahen und Mittleren Osten, von dort wurden Operationen im Irak und in Afghanistan durchgeführt. Zudem setzt Doha auf Soft Power, auf milliardenschwere Investitionen in Mobilität, Medien, Wissenschaft und Sport. Prominente Beispiele: die staatliche und weltweit operierende Fluglinie Qatar Airways oder der Nachrichtensender Al Dschasira. Überdies die Education City, ein Campus mit Außenstellen westlicher Universitäten, und die Übernahme des Fußballklubs Paris Saint-Germain.

Diese Institutionen halten Katar mit positiver Konnotation international im Gespräch und drängen andere Themen in den Hintergrund. Die Erbmonarchie duldet keine freien Wahlen. Gewerkschaftliche Strukturen unterliegen strengen Kontrollen. Homosexuelle müssen mit Inhaftierung rechnen, und Frauen benötigen häufig die Erlaubnis eines männlichen Vormunds. Im Demokratieindex des britischen Magazins Economist belegt Katar von 167 bewerteten Staaten Rang 114. Die Organisation Reporter ohne Grenzen führt das Land in der Rang­liste der Pressefreiheit von 180 bewerteten Staaten auf Platz 119.

Von den rund 2,6 Millionen Einwohnern haben lediglich 300.000 einen katarischen Pass. Staat, Wirtschaft und Kultur sind verflochten. Die Schaltstellen werden von der Dynastie Al Thani dominiert, zum erweiterten Familienkreis gehören wohl mehr als 20.000 Menschen. Ihr Pro-Kopf-Einkommen zählt zu den höchsten weltweit. Um diesen Wohlstand nicht zu gefährden, hat sich Katar früh auf die Kritik aus dem Westen eingelassen. Schließlich sollen sich potenzielle Gaskunden nicht verschreckt fühlen. Katar gibt Milliarden für das eigene Image aus, für PR-Agenturen, Lobbyisten und eine gewisse staatliche Flexibilität.

Gefragter Vermittler

Einige Beispiele: Doha ist seit langem für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, gründete aber 2002 ein „Nationales Komitee für Menschenrechte“. Katar verzeichnet pro Kopf einen der höchsten Emissionsausstöße und Wasserverbräuche der Welt, veranstaltete aber 2012 die UN-Klimakonferenz in Doha. An der Northwestern University in Doha wird kritischer Journalismus gelehrt, doch das katarische Pressegesetz von 1979 gestattet dem Staat eine Vorzensur. Immer wieder werden Journalisten festgesetzt, weil sie angeblich bei ihren Recherchen katarische Gesetze missachten. Das Regime unterbindet Streiks, trat aber 2018 dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen bei.

Auch dieses System der Zweideutigkeiten hat Katar zu einem Machtzentrum im Mittleren Osten heranwachsen lassen. Mit diesem Selbstvertrauen mischte sich Doha in regionale Konflikte ein, förderte während der arabischen Aufstände ab 2011 die Rebellen in Ägypten, Syrien und Libyen. 2012 ließ sich der damalige Emir als erster Staatschef im Gazastreifen von der Hamas empfangen, einer Organisation, die in vielen westlichen Staaten als terroristische Vereinigung eingestuft wird. Darüber hinaus hält Katar Verbindungen zur Muslimbruderschaft und gestattete den Taliban 2013 in Doha die Öffnung ihres ersten „diplomatischen Büros“ außerhalb Afghanistans.

In Deutschland werden diese Beziehungen mitunter als „Förderung von Terrorismus“ zusammengefasst. Was selten erwähnt wird: Die Fachleute im Auswärtigen Amt oder im State Department betrachten Katar in der Regel als verlässlichen Vermittler, der von eigenen Interessen geleitet wird, aber weniger von Ideologie. Auch auf Drängen Washingtons wurde der Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan bis Februar 2020 vor allem in Doha verhandelt. Bei der chaotischen Umsetzung ein halbes Jahr später half Katar bei der Evakuierung aus Kabul. Doha wird als Mediator in Krisenregionen weiterhin gefragt sein – im Irak, im Libanon, in Syrien.

Enge Verflechtung mit Deutschland

Am Golf dagegen blicken andere Monarchien seit Jahren misstrauisch auf den Aufstieg Katars. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate stimmten sich für diplomatische Protestnoten oder feindselige Kampagnen in sozialen Medien zunehmend gegen Katar ab. 2017 dann eine neue Eskalationsstufe: Eine Allianz unter Führung Saudi-Arabiens verhängte eine wirtschaftliche Blockade über Katar und kappte diplomatische Beziehungen mit Doha. Mit Hilfe von der Türkei und dem Iran ließ der Emir Tamim bin Hamad Al Thani neue Importwege für Lebensmittel und Routen für seine Fluglinie organisieren.

Auch die Bundesregierung hat ein Interesse an der Stabilität Katars. 2018, während der Blockade, empfing die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Emir zu einem Wirtschaftsgipfel in Berlin. Beide Regierungen unterhalten eine gemeinsame Wirtschaftskommission. Katar gehört zu den größten Auslandsinvestoren in Deutschland, mit einem Volumen von mehr als 20 Milliarden Euro. Über seinen Staatsfonds hält Doha Anteile an Volkswagen, an der Deutschen Bank oder an der Großreederei Hapag-­Lloyd. Zuletzt hatte Katar unter anderem in den Impfstoffhersteller Curevac investiert.

Zudem waren deutsche Konzerne an großen Infrastrukturprojekten in Katar beteiligt: die Deutsche Bahn und Siemens beim Aufbau des Nahverkehrs, SAP bei der Digitalisierung. Vor der Pandemie war Deutschland für Katar der drittwichtigste Handelspartner, die Exporte nach Doha erreichten einen Wert von 1,5 Milliarden Euro. Rund 150 deutsche Firmen sind in Katar aktiv. Gerade hat der Bundesverband mittelständische Wirtschaft in Doha eine Niederlassung eröffnet.

Angewiesen auf Katar

Mit der Fußball-Weltmeisterschaft als Werbeplattform wollte Katar die nächste Entwicklungsstufe ebnen. Doch lange schien der Plan in Europa nicht aufzugehen. Im Rahmen des Sponsorings beim FC Bayern entzündete sich immer wieder hitzige Kritik an den menschenunwürdigen Bedingungen für die Gastarbeiter in Katar. Diplomaten und WM-Organisatoren aus Doha mussten für die Rechtfertigungen der komplexen Abhängigkeiten viel Zeit aufbringen, doch in die breite Öffentlichkeit drangen sie damit nicht vor. Konservative Strömungen in Katar fühlen sich neokolonial gemaßregelt. Einige von ihnen lehnen die Weltmeisterschaft inzwischen ab, denn die Aufregung gefährdet ein hohes Gut: die Diskretion fürs Geschäftemachen.

Bis zum WM-Finale am 18. Dezember dürften Menschenrechte in Katar hierzulande ein mediales Dauerthema bleiben. Doch aus der Politik ist die Kritik nicht mehr allzu laut. Von den Gas­importen in die EU kamen im Jahr 2020 rund 40 Prozent aus Russland und nur 4 Prozent aus Katar. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine will die Bundesregierung das grundlegend ändern. Im Mai empfingen Bundespräsident und Bundeskanzler den Emir in Berlin. Ende September machte Olaf ­Scholz auf seiner Reise an den Golf mit einer Wirtschaftsdelegation auch in Doha Station. Katarische Diplomaten können ihre Genugtuung kaum verbergen, dass die größte Volkswirtschaft Europas bald auf das kleine Katar angewiesen sein könnte. Doha kann sich die Abnehmer für sein Flüssiggas jedoch aussuchen und verlangt lange Vertragslaufzeiten.

Es sind auch Fotos von Wirtschaftsminister Robert Habeck bei der Verbeugung vor dem katarischen Energieminister, die zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. Selbst Anhänger der sogenannten wertegeleiteten Außenpolitik dürften inzwischen einsehen, dass für den heimischen Wohlstand mitunter die Zusammenarbeit mit autokratischen Regimen notwendig ist. Die stolzen Katarer aber möchten sich nicht auf Gaslieferungen reduzieren lassen. Darin liegt eine Chance – für beide Seiten.

Wirtschaftsfaktor für Nepal

Es gibt etliche Themen, bei denen Deutschland und Katar zusammenarbeiten könnten. Zum Beispiel im Abfallmanagement, in der Wasseraufbereitung oder bei der Gewinnung erneuerbarer Energien, einem Bereich, in dem Katar kaum Fortschritte erzielt. Auch der Medizinsektor wäre ein Feld: 17 Prozent der erwachsenen Katarer leben mit Diabetes, 70 Prozent mit Übergewicht. Für die Entlastung des Gesundheits- und Pflegesystems möchte die katarische Regierung den Breitensport mit Fitnessstudios, Radwegen und Schwimmhallen ausbauen. Eine Orientierung könnte das deutsche Vereinswesen darstellen.

Im Zentrum der deutschen Aufmerksamkeit steht seit Jahren die Menschenrechtsfrage. Nach Drängen von NGOs lässt Katar internationale Organisationen und Gewerkschaften für Inspektionen ins Land, wobei die Stadionbauten längst fertiggestellt sind. Neue Gesetze sehen vor, dass die Wanderarbeiter, die vor allem aus Südasien stammen, einen höheren Mindestlohn erhalten, ihre Anstellung schneller wechseln und ausbleibende Gehälter einklagen können. Doch die Umsetzung verläuft schleppend. Tausende Arbeiter berichten weiterhin von Lohnraub und wohnen in engen, überwachten Unterkünften. Die Beschwerdestellen kommen mit der Bearbeitung nicht hinterher. Und viele Arbeiter trauen sich nicht, gegen regierungsnahe Unternehmer vorzugehen. Sie haben Angst vor der Ausweisung.

Mit dem Entwicklungsministerium, mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und den Auslandsbüros der parteinahen Stiftungen gehört Deutschland zu den Taktgebern der globalen Entwicklungshilfe. Dieses Netzwerk könnte seinen Fokus noch mehr auf die Golfregion lenken und den Kontext auf die Herkunftsländer der Arbeiter ausweiten. In Nepal etwa sind fast 60 Prozent der Haushalte von Arbeitsmigration abhängig; Überweisungen aus dem Ausland machen ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Allein in Katar arbeiten 350.000 Nepalesen. Auch in Indien, Pakistan oder Bangladesch zahlen Arbeiter hohe „Vermittlungsgebühren“ an Agenturen, damit diese überhaupt eine Anstellung in Katar finden. Während der rigiden Corona-Lockdowns in Doha fühlten sich viele Arbeiter von ihren Heimatregierungen im Stich gelassen.

Aus dem Sport nicht mehr wegzudenken

Aufklärungsprojekte rund um die Fußball-WM sollten nicht nur Katar, sondern die globale Migration und die gesamten Lieferketten der Sportindustrie in den Blick nehmen. In den Monaten vor einer WM läuft die Maschinerie der Sportartikelhersteller auf Hochtouren. Adidas produziert pro Jahr eine halbe Milliarde Kleidungsstücke und setzt dabei auf rund 520 Zulieferbetriebe in 50 Ländern, vor allem in Südostasien. Dutzende Millionen Euro fließen aktuell in Werbespots, Onlinekampagnen und an Werbefiguren wie den argentinischen Spieler Lionel Messi. Von den Erlösen der Trikots, die meist einen Kaufpreis von 90 Euro überschreiten, landet nur 1 Prozent bei den Näherinnen in Bangla­desch oder Pakistan. Fußballfans machen diese Ausbeutung selten zum Thema. In Deutschland hat nur der FC St. Pauli eine eigene Kollektion aufgelegt und will sich damit von Zulieferbetrieben unabhängig machen.

Für viele Fußballfans markiert die Weltmeisterschaft in Katar den Tiefpunkt der Kommerzialisierung im Sport. Doch die Debatte wird nicht mehr verschwinden. 2030 finden die Asienspiele in Doha statt, vier Jahre später in Riad. Saudi-Arabien hält inzwischen die Mehrheitsanteile am englischen Fußballklub Newcastle United und möchte mittelfristig auch die WM ausrichten. Der Sport ist die vielleicht sichtbarste Bühne, auf der die Herrscher in Doha, Riad und Abu Dhabi um Investoren und Fachkräfte buhlen.

Die Arbeitsrechtsreformen, die Katar nach langem Zögern auf den Weg gebracht hat, setzen auch anderswo die Herrscher unter Druck. Mohammed bin Salman etwa, der Kronprinz von Saudi-­Arabien, muss die Transformation für eine wesentlich größere Bevölkerung in seinem Heimatland organisieren. Riad hat die Blockade gegen Katar 2021 aufgegeben. Der Glanz der Weltmeisterschaft soll auch auf die Herrscherhäuser in der Nachbarschaft abstrahlen. Ein Glanz, der in Europa stark in der Kritik steht, aber in der arabischen Welt von großem Wert ist.

 

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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