Viktor Orban - Neubürger mit Macken

Am 8. April wählen die Ungarn ihr neues Parlament. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ist der umstrittenste Politiker Europas und will wieder gewinnen. Wer ist der Mann, der so viel Leidenschaft entfacht?

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In der Flüchtlingskrise reagierte Orbán früh, was ihm daheim Erfolg gebracht, ihn aber auch zu einem Fehler verleitet hat / picture alliance
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Boris Kálnoky ist freier Journalist und lebt in Budapest. Er entstammt einer ungarisch-siebenbürgischen Familie

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Am 16. Juni 1989 hielt ein junger Ungar namens Viktor Orbán eine Rede vor Hunderttausenden seiner Landsleute. Anlass war die Umbettung der sterblichen Überreste des Ministerpräsidenten des Aufstands von 1956, Imre Nagy. „Meine Mitbürger!“, begann Orbán, und schon dieses Betonen des „Bürgerlichen“ war in jenen Monaten vor der Wende unerhört. Er forderte freie Wahlen; den Abzug der russischen Besatzer; und er sprach von Ungarns langem Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit, gegen die Österreicher 1848 und gegen die Russen 1956. Nun sei es an der Zeit, so sagte er, diese „nie aufgegebenen Ziele der Nation“ endlich durchzusetzen. Es war, im damals noch kommunistischen Ungarn, der lauteste Ruf nach Freiheit, den das Land seit 1956 vernommen hatte. Alle, die es hörten, waren elektrisiert. Auch viele Beobachter im Westen.

Heute, 29 Jahre später, ist Orbán neben Angela Merkel der erfahrenste Regierungschef Europas. Drei Amtszeiten, zwölf Jahre: 1998 bis 2002 und von 2010 bis jetzt. Am 8. April bewirbt er sich bei den Wählern um ein weiteres Mandat. Die Umfragen zeigen ihn und seine Partei, den Bund der Freien Demokraten (Fidesz), in Führung. Das Bild, das man sich von ihm im Westen macht, ist freilich nicht mehr jenes von 1989. Damals hätten die Großen und Guten der freien Welt gejubelt, wäre Orbán plötzlich Regierungschef geworden. Heute würden sie seine Niederlage feiern. Autokrat, Populist, Rassist, Nationalist, Diktator: Kein Regierungschef in der EU wird heftiger beschimpft und angefeindet. Und kaum einer prägt den öffentlichen Diskurs in Europa stärker als er.

Er bricht Tabus mit Genuss

Orbán sucht immer den unsichtbaren Nerv in der Gesellschaft – und trifft ihn oft. Spricht das aus, was andere nur denken. Erkennt hohle Tabus und bricht sie mit Genuss. Er und Merkel sind die Pole einer europäischen Grundsatzdebatte geworden: hier „mehr Europa“, dort „mehr Nationalstaat“. „Solidarität in der Flüchtlingskrise “ gegen „Migranten zerstören unsere Kultur“. West und Ost: Orbán ist in der EU zum Wortführer der früheren Ostblockländer geworden. Sie wissen, wie sich Bevormundung anfühlt. Die Freiheit, die Orbán einst von Moskau forderte, fordert er heute von Brüssel und Berlin.

„Wenn er doch nur den Mund halten könnte“, zürnt Gerald Knaus vom Thinktank European Stability Initiative. Der Erfinder des Flüchtlingsdeals mit der Türkei nennt Orbán den „gefährlichsten Mann Europas“. Hans Stark vom französischen Institut für Internationale Beziehungen macht Orbán gar für den Aufstieg der AfD verantwortlich. Andere erblicken in ihm den Retter des christlichen Abendlands. Gehasst, vergöttert, oft missverstanden: Es ist Zeit für einen unvoreingenommenen Blick auf den kontroversesten Politiker Europas. Orbán hat bei genauem Hinsehen viel geleistet. Aber auch einiges falsch gemacht.

Sein erstes Bravourstück: Er schuf eine stabile konservativ-bürgerliche Volkspartei, obwohl es gar kein Bürgertum mehr gab nach 40 Jahren Kommunismus. Orbán musste dafür erst den Begriff neu beleben. Der „Bürger“ als aktives Mitglied der Gesellschaft, der Verantwortung für sich, seine Familie und das Gemeinwesen tragen und Leistung erbringen will – das war im postkommunistischen Osten Europas ungewohnt. Dass bürgerliches Denken heute auch in Ungarn wieder zur Basis der politischen Kultur gehört, ist zum Teil Orbáns Verdienst.

Der liberale Raum war besetzt, aber rechts entstand eine Lücke

Er war eigentlich als Liberaler ins politische Leben gestartet, aber seine Grundinstinkte waren immer nationalkonservativ. Zwar benutzte er dieselben Worte wie westliche Liberale. Aber mit „Freiheit“ meinte er vor allem die Freiheit der Nation, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Der Orbán von heute könnte die Rede, die der Orbán von 1989 als Liberaler hielt, Wort für Wort wiederholen, ohne sich verleugnen zu müssen. Bürger! Nation! Freiheit!

Er wuchs auf dem Land auf, mit einem autoritären Vater, dem öfter die Hand ausrutschte. Die Herkunft aus einfachen Verhältnissen prägt seinen Charakter bis heute. Er mag es nicht, wenn man um den heißen Brei herumredet. Er ist von Natur aus hemdsärmelig. Er verabscheut Dinge, die nicht funktionieren. Deswegen mochte er den Kommunismus nicht. Deswegen mag er heute die europäische Flüchtlingspolitik nicht.

Mitte der neunziger Jahre wurde klar, dass der liberale Raum auf der politischen Bühne schon von anderen besetzt war. Zugleich entstand eine Lücke rechts: Das konservative Ungarische Demokratische Forum (MDF), das die erste Regierung nach der Wende gestellt hatte, zerfiel. Orbán stieß in dieses Vakuum und formte Fidesz zu einer konservativen Kraft um. Teilweise unter dem Einfluss seiner gläubigen Frau, wandelte er sich vom antiklerikalen Spötter zum öffentlich frommen (reformierten) Christen. Entscheidenden Anteil daran hatte sein Freund und heutiger Minister Zoltán Balog, ein calvinistischer Seelsorger. Das alles war nicht nur gespielt. Orbán meint es ernst mit seinem neuen Christentum. Aber es half, dass es auch politisch opportun war. So gelang ihm 1998 sein erster Wahlsieg. Mit nur 35 Jahren wurde er Ministerpräsident. Als Vorbilder sah er Deutschland und die CDU von Helmut Kohl, den er oft als seinen Mentor bezeichnet.

Orbans größter Fehler könnte für einen Stimmungswechsel sorgen

Es wurden vier gute Jahre für Ungarn. Orbán formte ein Kanzleramt nach deutschem Vorbild, übernahm deutsche Gesetze. Die Staatsschulden sanken, die Wirtschaft wuchs. Fidesz investierte in Familienförderung und Bildung, um einen bürgerlichen Mittelstand zu schaffen, ohne den das Land nach Orbáns Überzeugung keine Zukunft hat. Dennoch verlor er 2002 – zu seiner Überraschung – die Wahlen sehr knapp, obwohl Fidesz in allen Umfragen geführt hatte.

Der Schock saß tief. Orbán scheint zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die Medien schuld waren. Sie waren überwiegend links und gegen ihn. Als er 2010 wieder an die Macht kam, schlug er zurück. Er schuf ein scharfes Mediengesetz, das ihn viel politisches Kapital kostete. Die öffentlich-rechtlichen Sender wurden zu regelrechten Propagandainstrumenten; finanziell schwache Zeitungen wurden von regierungsnahen Geschäftsleuten aufgekauft. Orbán zog ein Netz loyaler Medien auf. Die Pressefreiheit als solche blieb unangetastet, und es blieben genügend kritische Medien, um ihm das Leben schwer zu machen.

Aber im digitalen Zeitalter bilden sich viele Bürger ihre Meinung ohnehin im Netz, und der Wahlkampf wird nun plötzlich enger als erwartet. In einer traditionellen Fidesz-Hochburg namens Hódmezövásárhely gewann am 25. Februar überraschend und erdrutschartig ein von der Opposition unterstützter Unabhängiger die Bürgermeisterwahl. Es könnte ein Signal sein für einen Stimmungsumschwung im Land. Ein Grund dafür ist Orbáns größter Fehler: Staatsaufträge an politische Verbündete zu vergeben. Seine Neigung, sich auf verlässliche Freunde zu stützen, prägt auch seine Personalentscheidungen. Parlamentspräsident László Kövér, Staatspräsident János Áder, Orbán selbst: Die höchsten Würdenträger im Land sind alte Kumpels aus Studentenzeiten, die damals im selben Wohnheim lebten. Derzeit sorgt ein Fall für Schlagzeilen, in den Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz verwickelt ist. Die Angelegenheit begann in Hódmezövásárhely. Die Stadt wurde zu einem Symbol für Vetternwirtschaft.

Kraftvolle Reaktion in der Flüchtlingskrise

Nun ähnelt die Lage jener im Jahr 2002: Orbán hat im Grunde gut regiert, wurde 2014 dafür auch mit der Wiederwahl belohnt und führt in den Umfragen – muss aber dennoch um den Sieg bangen. Wie damals sind Staatsschulden und Arbeitslosigkeit gesunken, die Löhne gestiegen. Orbán hat mit unorthodoxen Maßnahmen zwar im Ausland Kritik geerntet, aber dem Land geholfen. Nach der Wirtschaftskrise 2008/09 folgerte er, dass man in der globalisierten Welt mehr Staat braucht, nicht weniger, um die Multis im Zaum zu halten. Und dass es nicht darauf ankommt, wie viel Vermögen im Land erzeugt wird, sondern wie viel davon im Land bleibt. Das sorgte für Interessenkonflikte mit Deutschland und der EU.

Er führte die Schuldenbremse in der Verfassung ein, bevor das in anderen Ländern Mode wurde. Er erzwang einen künstlichen Umtauschkurs für sogenannte Devisenkredite, der westlichen Banken schadete, aber viele Familien und Unternehmen vor dem Bankrott bewahrte. Er erfand Sondersteuern für multinationale Dienstleistungskonzerne, senkte aber die Steuern für die Bürger und einheimische Unternehmen.

In der Flüchtlingskrise reagierte Orbán früh und kraftvoll: Sein Grenzzaun bewahrte Ungarn vor Problemen, die jetzt andere, weniger entschlossen regierte Länder plagen. Das hat ihm daheim viel Erfolg eingebracht, ihn aber auch zu einem Fehler verleitet. Er zentrierte seinen Wahlkampf ganz auf die Migrations- und Europapolitik, weil ihm da die meisten Bürger zustimmen.

Die Flüchtlingskrise interessiert in Ungarn niemanden mehr

Orbán konstruierte dazu, als populistische Eselsbrücke, ein Feindbild in der Gestalt des US-Milliardärs ungarisch-jüdischer Herkunft, George Soros. Ihn schildert er als Finsterling, der die EU und ganze Regierungen manipuliert, um Migranten nach Europa zu bringen. Erwartungsgemäß verteidigt die Opposition Soros und die von ihm mitfinanzierte Zivilgesellschaft, und so kann Orbán die Oppositionsparteien mittelbar als migrantenfreundlich hinstellen, was der eigentliche Sinn der ganzen Operation ist.

Nur interessiert die Flüchtlingskrise in Ungarn niemanden mehr. Denn dank Orbán gibt es dort so gut wie keine Migranten. Es gibt dafür andere Probleme: das Bildungswesen, das Gesundheitswesen. Die Fixierung auf die Flüchtlingspolitik hinderte Orbán daran, im Wahlkampf über diese Themen zu sprechen. So ist das Rennen, das für ihn schon gewonnen schien, plötzlich wieder spannend. Fidesz führt, aber die Werte in den Umfragen sinken. Bevor Orbán weiter für „ein Europa der Vaterländer“ werben kann, muss er sich im eigenen Vaterland einmal mehr das Vertrauen der Menschen verdienen.

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.













 

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