Verfassungsänderung in Russland - Für immer Putin

Ein neuer russischer Staat entsteht vor unseren Augen, ein Staat, der in seiner Form schamlos autoritär ist. Wenn Russland jemals zu einem europäischen Modell zurück will, muss es das gesamte politische Erbe niederreißen, das dieses Regime aufgebaut hat.

Vladimir Putin konnte sich schon immer gut in Szene setzen / dpa
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Alexander Baunov ist Chefredakteur von carnegie.ru. 

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Und wieder hat Putin die Experten überrascht. Am 15. Januar hörten die Kreml-Beobachter seine Ankündigung, die Verfassung zu ändern und die Regierung umzubilden - und schlossen daraus, dass damit der Übergang von Putins persönlicher Herrschaft zu etwas Neuem auf 2024 datiert wurde. Nach Putins Rede am 10. März ist klar: Die Machtübergabe ist auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben. Wenn die nun vorgeschlagenen Verfassungsänderungen durchgehen, wird Putin nach vier Amtszeiten als Präsident die Möglichkeit haben, für zwei weitere im Amt zu bleiben. Damit könnte er bis zum Jahr 2036 als Präsident regieren.

Viele fragen sich, warum diese Operation so früh in Gang gesetzt wurde, vier Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen. Musste das sein, um schnell einen neuen Nachfolger zu installieren, bevor hinter den Kulissen die Machtübergabe an diesen sabotiert werden könnte? Nein. Vielmehr scheint es, dass der Kreml die Macht des Regimes konsolidieren wollte, ohne der russischen Gesellschaft, russischen oder ausländischen Beobachtern die Möglichkeit zu geben, darauf zu reagieren.

Offensichtlich vorher geprobt

Putins Rede am 10. März wirkt wie eine Spezialoperation innerhalb einer Spezialoperation. Eigentlich war er ins Parlament gekommen, um eine einigermaßen erwartbare Debatte über die zweite Lesung der Verfassungsänderungen zu führen. Dann trat plötzlich Valentina Tereschkowa, die ehemalige Kosmonautin und heutige Politikerin, auf den Plan, um eine völlig neue Verfassungsänderung vorzuschlagen – die offensichtlich vorher geprobt war: Die Zähluhr für Amtszeiten sollte auf Null zurückgestellt werden, die Begrenzung der Amtszeiten komplett aus der Verfassung gestrichen werden.

Putin wies die Idee, die Begrenzung der Amtszeiten zu streichen, zurück. Auf die Frage, ob er bei der nächsten Wahl kandidieren könne, verwies Putin auf die Kompetenz des russischen Verfassungsgerichts. In Russland rechnet natürlich niemand damit, dass das Gericht gegen Putin entscheiden wird. Das bedeutet, dass Putin so gut wie sicher bei der nächsten Wahl kandidieren und die nötigen Stimmen für die nächste Amtszeit bekommen kann.

Wichtiger als jede Verfassung

Das russische Volk stimmt in einem Referendum im April über die Verfassungsänderungen ab – aber da wird es keine Überraschungen geben. Abstimmungen und Wahlen finden in Russland – anders als zu Jelzins Zeiten – heute nicht mehr statt, um einen Sieger zu wählen, sondern um dem Amtsinhaber eine Aura neuer öffentlicher Legitimität zu geben, indem er wieder gewinnt. Die Leute im Kreml sehen die Welt so: Verlieren sie die Macht, verlieren sie Russland. Und das zu verhindern, ist wichtiger als jede Verfassung.

Aber wie konnte es passieren, dass so viele Experten diesen Prozess falsch deuteten, als er im Januar begann? Zwei Faktoren spielten eine wichtige Rolle: zum einen das Verlangen der Beobachter, die russische Elite entpersonalisiert und eher europäisch orientiert zu sehen, zum anderen die Tatsache, dass Putin selbst 2008, als er das letzte Mal vor einem ähnlichen Problem stand, einen Ausweg wählte, der die bestehende Gesetzgebung achtete.

Ein Präzedenzfall 

Jene, die die Zeichen lasen, hatten allen Grund, darin eine Tendenz zu erkennen, dass Putin sich 2024 in einem kontrollierten Prozess von der Macht verabschieden würde. Im Januar wurde darüber gesprochen, die Amtsperioden des Präsidenten zu begrenzen, außerdem über den mysteriösen Staatsrat, der neue Machtbefugnisse erhalten sollte. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Putin selbst in den letzten Wochen seine Antwort auf die „Frage 2024“ abgewogen hat – und sich am Ende für die jetzige Lösung als die attraktivste entschieden hat.

Diese Ereignisse sind ein Präzedenzfall in der russischen Geschichte. Der Staatschef erklärt offen, dass er bereit ist, einen Weg zu finden, der es ihm erlaubt, auch dann Präsident zu bleiben, wenn die vom Gesetz vorgesehene Zeitspanne abgelaufen ist – und dass er noch lange bleiben wird. Und er tut dies in einem Moment, in dem die Erwartung, dass er doch früher abtreten würde, immer stärker wurde. Putin hat diese Entscheidung auf Grundlage verschiedener Überlegungen getroffen: Er ist bekannt dafür, dass er seine Arbeit als Präsident mit Ehrfurcht betrachtet, als eine Art unerwartetes Geschenk Gottes. Man darf nicht vergessen, dass er in diese Position gehoben wurde, als er eigentlich noch ein unauffälliger Bürokrat war – und dann erfolgreich wurde.

Schlechte Erfahrungen mit der „Tandemokratie“

Putin hat zudem schlechte Erfahrungen gemacht mit der vierjährigen „Tandemokratie“ nach seinen ersten zwei Amtszeiten, als Dmitrij Medwedjew die Präsidentschaft übernahm und die regierende Klasse in zwei Lager gespalten wurde. Putin fürchtet wohl auch ein Szenario, in dem er die Macht übergibt – selbst an einen sorgfältig ausgewählten Nachfolger –, dann die Kontrolle verliert, und Russlands ausländische Gegner die Situation ausnutzen würden.

Auch die Ereignisse der letzten Wochen könnten Putins Entscheidung beeinflusst haben: Der Niedergang des Ölpreises, des Rubelkurses und des Aktienmarktes sind ein Argument für „Stabilität“ und Kontinuität. Der Ausbruch des Coronavirus ist ein Problem und gleichzeitig nützlich, weil man auf diese Weise Demonstrationen der Opposition verbieten kann.

Keine „lame duck“

Der größte Verlierer in diesem politischen Spiel sind die „System-Liberalen“, die noch immer auf einen schrittweisen, von oben verordneten politischen Wandel in Russland gehofft hatten, der mit einem mehr auf Wettbewerb ausgerichteten politischen System ab 2024 begonnen hätte. Viele dieser „System-Liberalen“ dürften nun erkennen, dass sie mit der Opposition mehr gemein haben als mit dem Kreml. 

Nicht vergessen sollte man dabei, dass Putin ein Meister darin ist, sich alle Optionen offen zu halten. Die „Tereschkowa-Verfassungsänderung“ ermöglicht es Putin, 2024 eine fünfte Amtszeit anzustreben. Aber sie zwingt ihn nicht dazu. Indem er sich nicht völlig dazu bekennt, wird er einerseits keine „lame duck“ – und kann gleichzeitig die Spekulationen über einen potenziellen Nachfolger minimieren.

Die Ära der Heuchelei ist vorbei

Eins ist klar: Diese neue Entscheidung verändert den Charakter des russischen Regimes. Die Ära der Heuchelei ist vorbei. In der ersten Phase der Ära Putin war das Leitmotiv, dass Russland noch immer ein regelbasiertes europäisches Land war, aber eben eines, das sich Ausnahmen erlaubte aufgrund schwieriger historischer Umstände. Es gab aber zumindest den Anschein, konstitutionelle Normen wie die Beschränkung von Amtszeiten zu respektieren. Jetzt nimmt ein neues Russland Form an, das verächtlich auf die Demokratie blickt – und das sich darin an anderen Ländern und Regimes rund um den Globus ausrichtet. Das undemokratische aber stabile China wird nun offen als ein stärkeres Modell als Europa erachtet. 

In diesem veränderten globalen Kontext sieht Putin eine Chance, sich noch weiter von Europa zu distanzieren. Man mag noch die Verfassung ins Felde führen, die, wenn schon nicht in der Wirklichkeit, so doch zumindest auf dem Papier europäisch ist. Aber was nun entsteht, ist ein sehr anderer russischer Staat, von der Form her schamlos autoritär. Wenn Russland jemals wieder zum europäischen Modell zurückkehren will, wird es das gesamte politische Erbe niederreißen müssen, das dieses Regime geschaffen hat. 
 

Aus dem Englischen von Moritz Gathmann.

Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung von Carnegie.ru Das englische Original ist hier zu finden.

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