Venezuela - Ein Land am Abgrund

In Venezuela herrscht Regierungschaos: Präsident Nicolas Maduro, vom Militär gestützt, steht gegen den Parlamentschef Juan Guaidó. Die Massenproteste haben sich derweil zu Straßenschlachten zwischen Bürgern und der Polizei entwickelt, es gab mehrere Tote. Wie konnte es so weit kommen?

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Auf einem Plakat in Caracas fordert die Opposition die Freilassung des Regimekritikers Leopoldo López / Andrzej Rybak
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Autoreninfo

Andrzej Rybak, geboren 1958 in Warschau, ist Journalist und lebt in Hamburg. Er arbeitete mehrere Jahre als Redakteur und Reporter für Die Woche, den Spiegel und die Financial Times Deutschland, berichtete als Korrespondent aus Moskau und Warschau. Heute schreibt er als Autor vor allem über Lateinamerika und Afrika u.a. für Die Zeit, Focus und Capital.

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Vor dem Kinderkrankenhaus J. M. de los Ríos herrscht an diesem Novembermorgen Ausnahmezustand. Zwei Dutzend Mütter haben die viel befahrene Straße blockiert, die durch das San-Bernardino-Viertel von Caracas führt, und skandieren: „Medizin für unsere Kinder!“ Der spontane Protest legt den Berufsverkehr im ganzen Viertel lahm, doch die Fahrer zeigen Verständnis. „Uns bleibt nichts anderes übrig“, schimpft Mildred Cariele, die 35 Jahre alte Mutter eines leukämiekranken Jungen. „Unsere Kinder wurden von der Klinik abgewiesen, weil die Labore keine Blutuntersuchungen machen können. Es fehlen Präparate für Chemotherapie und lebenswichtige Antibiotika, es gibt kein Verbandszeug, keine Bettlaken und keine Ärztekittel.“ Zuletzt gab es im Krankenhaus zwei Tage lang nicht einmal fließendes Wasser, immer wieder wird auch der Strom abgestellt.

„Kinder sterben immer öfter an Unterernährung“, klagt Yamila Battaglini, Chirurgin im J. M. de los Ríos. „Wir haben nicht genug Ärzte und oft keine Medikamente.“ Im Kinderkrankenhaus sind nur zwei von neun Operationssälen funktionsfähig. Dabei gilt die Klinik als die beste im ganzen Land. Die Ärztin seufzt: „Die Lage ist schlimmer als in vielen Ländern Afrikas.“ Landesweit ist die Säuglingssterblichkeit 2016 um 20 Prozent gestiegen.

Bolivarische Revolution sorgt für humanitären Notstand

Als der Armeeoberst Hugo Chávez Ende 1998 nach einer demokratischen Wahl an die Macht kam, versprach er den Armen mehr Wohlstand, bessere Bildung und medizinische Versorgung. Seine bolivarische Revolution sollte die immense Diskrepanz zwischen Reich und Arm vermindern. Stattdessen schaltete Chávez alle demokratischen Institutionen des Landes gleich – die Wahlkommission, die Justiz, das Parlament, die Zentralbank, die Medien. Er besetzte die Schlüsselstellen beim Militär, bei der Staatssicherheit und der Polizei mit treuen Anhängern und errichtete in Venezuela eine kommunistische Diktatur wie auf der Karibikinsel Kuba, die Kritiker und Andersdenkende seit 58 Jahren brutal verfolgt.

Mit altbekannten Parolen von Klassenkampf ging Chávez gegen die „Oligarchen“ vor; er verstaatlichte zwei Drittel der erfolgreichsten privaten Unternehmen und drängte westliche Konzerne aus dem Land. Nach Jahren der Korruption und Misswirtschaft herrscht in Venezuela, das mit 300 Milliarden Barrel über die größten nachgewiesenen Ölreserven der Welt verfügt, ein humanitärer Notstand. Der Mindestlohn beträgt gerade noch 15 Dollar im Monat, viele Menschen hungern.

Politik des Genozids am eigenen Volk

Das Scheitern von Chávez und seinem Nachfolger Nicolás Maduro, der nach Chávez’ Tod 2013 die Macht übernahm, ist beispiellos. Denn das Land hat fast ein Jahrzehnt lang von den höchsten Erdölpreisen der Geschichte profitiert. Als Chávez an die Macht kam, kostete ein Barrel Öl gerade zehn Dollar, zehn Jahre später stieg der Ölpreis auf 146 Dollar pro Barrel. Als der Preis wieder fiel, begann die tiefste Krise der Landesgeschichte. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte 2016 um etwa 11 Prozent, nachdem es 2015 bereits um 6 Prozent eingebrochen war. Die Inflation dürfte – trotz staatlicher Preiskontrollen – bei über 500 Prozent liegen.

„Die Regierung betreibt eine Politik des Genozids am eigenen Volk, um für immer an der Macht zu bleiben“, schimpft María Corina Machado, eine führende Oppositionspolitikerin und Vorsitzende der liberalen Partei Vente Venezuela. Trotz der katastrophalen Lage weigert sich die Maduro-Regierung, ausländische Hilfslieferungen anzunehmen. „Das Regime lässt lieber Tausende Menschen sterben anstatt zuzugeben, dass es mit seiner Politik gescheitert ist“, sagt die 49-Jährige. „Die Regierungspartei ist längst keine politische Bewegung mehr, sie ist eine kriminelle Organisation.“

Vollzeitjob: Einkaufsjagd

Das Land steht kurz vor dem Kollaps. Schon morgens um fünf Uhr bilden sich vor jedem Lebensmittelladen in Caracas lange Schlangen. Die Hauptstädter stehen stundenlang in der Hoffnung an, Maismehl und Speiseöl, Reis, Bohnen oder Milchpulver zu ergattern. Vielleicht auch Toilettenpapier, Windeln, Seife, Wasch­pulver, Shampoo oder Zahnpasta. „Zucker habe ich schon seit Monaten nicht gesehen“, sagt Cristina Tovar, die vor einem Supermarkt im Stadtteil Baruta wartet. „Ich gehe jeden Tag auf Einkaufsjagd, das ist ein Vollzeitjob.“ Immer öfter kommt sie mit leeren Händen nach Hause.

Seit September verteilt die Regierung subventionierte Nahrungsmittel nach dem kubanischen Modell über lokale „Bürgerkomitees“ an die Armen. „Das ist Nahrungsmitteldiskriminierung“, sagt Tovar. „So werden nur die regierungstreuen Chavistas mit Lebensmitteln beliefert, die politischen Gegner bekommen gar nichts, egal wie bedürftig sie sind.“ Sie müssen sich zu exorbitanten Preisen bei den Bachaqueros versorgen, den Schwarzmarkthändlern. Oder hungern. „Das ist alles entwürdigend“, klagt die 46-Jährige, die einst selbst Chávez gewählt hat. „Heute kann sich eine Verkäuferin im Supermarkt wie eine Königin fühlen, denn jeder buhlt um ihre Freundschaft.“

Überforderte Regierung

Cristina Tovar hat früher in der Buchhaltung einer privaten Milchfabrik gearbeitet, die vor sieben Jahren geschlossen wurde. Mehr als die Hälfte der einst 15 000 venezolanischen Industrie- und Agrarbetriebe gaben in den vergangenen 15 Jahren auf: Die Produktion lohnte sich nicht mehr, weil Chávez die Preise für die Grundnahrungsmittel eingefroren hatte. Über 1.500 der wertvollsten Firmen wurden vom Regime verstaatlicht. Farmen und Zuckerrohrplantagen im ganzen Land wurden von Landlosen besetzt – seither verrotten die Zuckerrohrfelder, und Milchfabriken stehen still. Das Land, das über große Flächen fruchtbaren Bodens verfügt, produziert gerade ein Drittel der benötigten Nahrungsmittel selbst.

„Es ist, als hätten wir in Venezuela eine Naturkatastrophe erlebt, einen Hurrikan, der alles niedergerissen und auf den Kopf gestellt hat“, sagt Henrique Capriles Radonski, Gouverneur des Bundesstaats Miranda und Ex-Präsidentschaftskandidat der Opposition. „Die Regierung ist unfähig, das Land aus der Krise zu führen. Wenn nicht bald ein Machtwechsel stattfindet, könnte es zu einer sozialen Explosion kommen.“

Korruption durch Wechselkurse

Ein paar absurde Beispiele aus der venezolanischen Wirtschaft: Coca-Cola musste in diesem Jahr mehrere Wochen lang die Produktion stoppen, weil der Süßstoff fehlte; McDonald’s schloss seine Restaurants, weil die Fast-Food-Kette keine Brötchen auftreiben konnte. Unternehmen können in Venezuela die benötigten Produkte nicht ohne Weiteres aus dem Ausland importieren, weil die von der Regierung kontrollierte Zentralbank entscheidet, wer die dafür notwendigen Devisen bekommt. In Venezuela gibt es auch unterschiedliche Wechselkurse: Der offizielle Kurs beträgt zehn Bolivar für einen Dollar – und ist seit Jahren weitgehend stabil. Der Schwarzmarktkurs stieg dagegen seit Januar 2016 um das Dreifache und erreichte Ende November 2.500 Bolivar für einen Dollar. Diese Diskrepanz befeuert die Korruption: Wer Dollar zu einem offiziellen Kurs kaufen darf, ist über Nacht Millionär. Das sind aber nur Firmen, die der Regierung und Armeespitze nahestehen.

Das Preisgefüge im Land ist entsprechend bizarr. Für einen US-Dollar bekommt man 1,5 Liter Trinkwasser, aber 2.000 Liter Benzin. In den Grenzregionen zu Kolumbien, Brasilien und Trinidad blüht deswegen der Benzinschmuggel. „Das Geschäft ist profitabler als der Drogenhandel“, sagt Carlos, ein Taxifahrer in San Cristóbal. „In Kolumbien bekomme ich für 2.000 Liter vielleicht tausend Dollar.“ Die venezolanischen Grenzsoldaten schauen weg, wenn ganze Tankwagen die Grenze passieren – denn sie verdienen mit. Im Osten des Landes werden Boote zu Minitankern umgebaut, die den Sprit nach Trinidad und Tobago bringen.

Kleines Geld

Auch Bargeld ist in Venezuela knapp. Lange Schlangen bilden sich in Caracas regelmäßig vor Bank­automaten, die nur 16.000 Bolivar (sieben Dollar) pro Tag auszahlen dürfen. Der winzige Betrag passt dennoch in keine Geldbörse, denn bis Ende November gab es keinen größeren Geldschein als die 100-Bolivar-Note. „In Venezuela lohnt sich ein Überfall auf einen Geldtransporter kaum noch“, scherzt Germán García-Velutini, Chef der traditionsreichen Banco Venezolano de Crédito. „Da kann man gerade mal einen Gegenwert von 16.000 Dollar erbeuten.“ Die Bank, die er in der vierten Generation führt, macht Jahr für Jahr Verluste. Doch aufgeben will García-Velutini nicht: „Lange kann es nicht mehr dauern, bis diese Regierung am Ende ist.“

Denn die Petrodollar werden immer knapper. Der staatliche Ölkonzern PDVSA hat ernste Probleme, die tägliche Förderung fiel 2016 auf 2,1 Millionen Barrel pro Tag, den niedrigsten Stand seit 30 Jahren. Zum Vergleich: Ende der neunziger Jahre lag die Produktion bei 3,5 Millionen Barrel pro Tag. Doch Chávez tauschte die gesamte Führung der Ölindustrie aus und leitete die Gewinne des Konzerns rigoros in seine Sozialprogramme um. Die PDVSA hatte auf einmal kein Geld mehr für die Erschließung neuer Quellen und für die Modernisierung der alten Anlagen. Dafür muss Venezuela nun mit sinkenden Fördermengen zahlen.

Die Armen sind schlimmer dran als je zuvor

Doch nicht einmal die Sozialprogramme haben Fortschritte gebracht. „Die Armen, denen die Revolution Wohlstand und Würde versprach, sind schlimmer dran als je zuvor“, klagt der Menschenrechtler Feliciano Reyna. Ein großer Teil der kubanischen Ärzte, die in den Armenvierteln Dienst leisten sollten, haben sich nach Brasilien, Kolumbien und Chile abgesetzt. Viele Diagnosezentren stehen leer, das Equipment wurde entweder gestohlen oder ist kaputt. Reyna hat vor 21 Jahren die Acción Solidaria gegründet, um HIV-Infizierten in Venezuela zu helfen. „Im Orinoco-Delta haben wir heute so viele HIV-Infektionen wie früher in Afrika; im Süden ist die Malaria auf dem Vormarsch, die schon ausgerottet war.“

Die Chavistas, wie die Anhänger des verstorbenen Hugo Chávez und seines Nachfolgers genannt werden, weisen indes jede Kritik von sich. Die von der Regierung kontrollierten TV-Sender gaukeln den Zuschauern immer noch eine heile Welt vor. Täglich zeigen sie glückliche Kinder, die auf der Plaza Bolívar in Caracas spielen, oder fröhliche Regierungsanhänger, die in den Straßen der Altstadt Salsa tanzen. Dennoch glaubt die Mehrheit des Volkes nicht mehr der Propaganda, wonach die Opposition und die USA die Wirtschaftskrise verursacht hätten, um Venezuela zu zerstören. Laut einer Umfrage wünschen sich acht von zehn Venezolanern den Rücktritt der Regierung. Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 hat die vereinte Opposition MUD denn auch zwei Drittel der Parlamentssitze gewonnen. Doch alle Gesetzesinitiativen der Abgeordneten werden von Gerichten blockiert, die mit treuen Regierungsanhängern besetzt sind. Staats­präsident Maduro, ein ehemaliger Busfahrer, erklärte im Frühjahr den Notstand und regiert das Land seither per Dekret – mit kubanischer Rückendeckung.

Havanna stützt die bolivarische Revolution, denn sie ist für das kubanische Regime der Schlüssel zum Überleben. Seit dem Amtsantritt von Chávez liefert Venezuela jedes Jahr etwa 80 000 bis 100 000 Barrel Öl pro Tag zum „Freundschaftspreis“ auf die Insel, ein Teil davon wird dann von den Kubanern zum gegenwärtigen Marktpreis weiterverkauft. Als Dank für diese brüderliche Hilfe, die Caracas etwa vier bis fünf Milliarden Dollar pro Jahr kostet, schickt Kuba Fachkräfte nach Venezuela, darunter auch Ärzte und Lehrer. Auf etwa 80 000 bis 100 000 wird die Zahl der kubanischen „Helfer“ in Venezuela geschätzt: Sie besetzen Schlüsselstellen im Präsidialamt und in den Ministerien, sie bilden Agenten bei der Staatssicherheit, Soldaten in der Armee und Beamte bei der Polizei aus.

Machtlose Opposition

Tatsächlich verfügt die Opposition über keine Instrumente, um die Regierung zu stürzen. Im Frühjahr beschloss sie, ein Abberufungsreferendum gegen Maduro zu organisieren – und begann, die dafür notwendigen 200 000 Unterschriften zu sammeln. Nach nur wenigen Tagen hatten 1,8 Millionen Bürger unterschrieben. Im September gingen mehr als eine Million Menschen in Caracas auf die Straßen, um der Forderung nach dem Referendum Nachdruck zu verleihen. Doch die Regierung ignorierte den Willen der Bevölkerung: Ende Oktober erklärte sie das Referendum für unzulässig, nachdem einige Provinzgerichte die Echtheit der Unterschriften in Zweifel gezogen hatten. Die urteilenden Richter gehören der Regierungspartei an.

Um die Gemüter zu beruhigen, bot Nicolás Maduro der Opposition zwar Gespräche an, bei denen Lösungen für die humanitäre Krise und vorgezogene Wahlen erörtert werden sollten. Doch trotz Vermittlung des Vatikans konnten auch nach sechs Verhandlungswochen keine Fortschritte erzielt werden. „Die Regierung wird keinen Volksentscheid zulassen, denn sie weiß, dass sie keine demokratische Wahl mehr gewinnen kann“, sagt ein westlicher Diplomat in Caracas. „Sie hat nicht vor, die Macht abzugeben, genauso wenig wie die KP in Kuba. Im Westen will man das aber nicht wahrhaben, manche blauäugigen europäischen Politiker glauben noch immer, dass man mit Verhandlungen etwas erreichen kann.“

Letzter Ausweg: Die Straße

Dabei hat Maduro selbst mehrmals beteuert, dass er nicht an Rücktritt denke. Die Regierung stoppte nicht nur das Abberufungsreferendum, sie verschob auch die Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen, die turnusmäßig 2016 hätten stattfinden sollen. Die aberwitzige Begründung: Das Land brauche alle Kräfte, um die Wirtschaftskrise zu lösen, Wahlen würden da nur stören. Der Opposition bleibt deshalb nur eine Möglichkeit, um einen Wechsel herbeizuführen: die Straße. Doch dieser Weg ist gefährlich. Maduro hat mehrmals gedroht, dass er keine Massendemonstrationen der „Faschisten“, wie er die Opposition nennt, dulden werde. „Erdogans Vorgehen“, posaunte er weiter, sei nichts im Vergleich zu dem, „was die bolivarische Revolution anstellen wird, wenn die Faschisten den Staatsstreich versuchen.“

Dass die Regierung nicht vor einer Konfrontation zurückscheut, hat sie schon bei den Demonstrationen im Februar 2014 bewiesen. Die Polizei schoss damals aus dem Hinterhalt in die Menge, es kam zu blutigen Straßenschlachten, bei denen mindestens 43 Menschen ums Leben kamen. Die Staatsführung machte die Opposition für das Blutbad verantwortlich. Sie stellte den Gründer der Oppositionspartei Voluntad Popular, Leopoldo López, vor Gericht und verurteilte ihn wegen Anstiftung zu Gewalt und versuchten Staatsstreichs zu fast 14 Jahren Gefängnis. Es war ein typischer politischer Schauprozess, die Aussagen der Zeugen wurden erpresst und manipuliert. López, 45, befindet sich seit über 1000 Tagen in Haft.

Die gefährlichste Stadt der Welt

Viele Venezolaner leben in Angst. Die Regierung zeigt bei jeder kleinsten Kundgebung, dass sie nicht nachgeben will. Manchmal marschieren in Caracas mehr Polizisten auf als Demonstranten. Immer wieder karrt die Regierung Unterstützer aus der Provinz in die Hauptstadt, die in roten Chávez-Hemden Gegendemonstrationen veranstalten. Bei Bedarf werden auch die berüchtigten Schlägertrupps aus den Armenvierteln eingesetzt, die noch unter Chávez aufgestellt und bewaffnet wurden. Diese Motorradbanden bedrohen gezielt Journalisten und Oppositionelle, greifen friedliche Demonstranten an und rauben sie aus. Ohnehin ist Caracas mit jährlich 120 Morden pro 100 000 Einwohner inzwischen die gefährlichste Stadt der Welt. Viele Menschen wagen sich nach 20 Uhr nicht mehr aus dem Haus, die einst belebten Restaurantviertel sind nachts wie ausgestorben.

Etwa zwei Millionen Menschen haben Venezuela seit der Machtübernahme von Chávez den Rücken gekehrt; vor allem Ärzte, Krankenschwestern und Ingenieure gehen ins Ausland. Seit August 2016 sind rund 30 000 Venezolaner über die Grenze nach Brasilien geflüchtet, wo sie im nördlichen Bundesstaat Roraima leben. „Die meisten Venezolaner wollen ihr Leben nicht im Kampf gegen Maduro aufs Spiel setzen“, sagt der schon erwähnte westliche Diplomat, der das Land seit vielen Jahren kennt. „Die Lage muss noch viel schlimmer werden, bis sich das Volk erhebt.“

Das andere Venezuela

Die Opposition ist sich derweil uneins darüber, was sie nun tun soll. Niemand will die Verantwortung für ein mögliches Blutbad übernehmen. „Wir müssen jede Chance für eine friedliche, konstitutionelle Lösung nutzen“, plädiert Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles. Doch nur der Druck der Straße kann die Regierung zum Nachgeben zwingen. „Wir haben unsere demokratischen Rechte eingebüßt und wir haben nichts zu essen. Was uns bleibt, ist der Protest auf der Straße“, sagt Oppositionspolitikerin María Corina Machado. Sie glaubt nicht, dass die venezolanische Armee auf die Demonstranten schießen würde: „Die einfachen Soldaten und ihre Familien leben unter genauso schlechten Bedingungen wie der Rest der Gesellschaft. Sie schauen zu, wie ihre Vorgesetzten mit Schmuggel und Drogenhandel zu Millionären werden, während ihre eigenen Familien ums Überleben kämpfen.“

Für die Armeespitze aber steht alles auf dem Spiel. Denn Staatschef Maduro bietet ihnen jegliche Möglichkeit, um sich zu bereichern. Die Familien der hohen Offiziere leben im Luxus, protzen mit dicken Sportwagen und Jachten. Die karibischen Atolle an der Küste vor Chichiriviche sind am Wochenende der Laufsteg der neureichen Profiteure des Regimes. Dort ankern Motorjachten mit jungen Frauen an Bord, aus den Boxen dröhnt puerto-ricanische Tanzmusik. Gegen den Hunger gibt es Langusten, Riesenschnecken, Muscheln und Kalmare; gegen den Durst helfen Whisky und Bier. Auch das ist Venezuela.

 

Dieser Text ist aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Shop nachbestellen können.

 

 

 

 

 

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