Nachrichtenleck im Supreme Court - Streitfall Abtreibungsrecht

Ein Entwurf des Obersten Gerichtshofs, der das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Frage stellt, heizt in den USA den Kulturkampf zwischen Republikanern und Demokraten weiter an. Der Entwurf wurde dem Magazin „Politico“ anonym zugespielt und sorgt für große Empörung – dabei würde das Urteil, falls es durchkommt, Abtreibungen nicht automatisch illegal machen.

Demonstration von Abtreibungsbefürwortern vor dem Supreme Court / dpa
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Gregor Baszak ist freier Journalist und lebt in Chicago. Er publizierte unter anderem in The American Conservative, Makroskop und UnHerd.

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Fällt in den USA demnächst das bundesweite Abtreibungsrecht? Darauf zumindest lässt ein Entwurf einer Mehrheitsentscheidung des Supreme Court im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization schließen. Der Entwurf wurde zuvor anonym dem US-Magazin Politico zugespielt. Der 98-seitige Begründungstext wurde vom erzkonservativen Bundesrichter Samuel Alito, der 2006 von George W. Bush für das Amt nominiert worden war, verfasst und erklärt, dass kein Verfassungsparagraph das Recht auf Abtreibung auch nur implizit erwähne und dieses Recht auch historisch nirgendwo verankert sei.

Sollte dieser Entwurf auch tatsächlich vom Supreme Court verabschiedet werden, wären Schwangerschaftsabbrüche in den USA jedoch nicht automatisch illegal. Stattdessen würden die 50 Bundesstaaten per Gesetzgebung selbst über ihr jeweiliges Abtreibungsrecht beschließen dürfen. Auch der US-Kongress dürfte über ein Abtreibungsgesetz abstimmen.

Reaktionen auf die „Politico“-Meldung

Der Vorsitzende des Supreme Court, der ebenfalls von George W. Bush ernannte John Roberts, wandte sich am Dienstag per schriftlicher Erklärung an die Öffentlichkeit und bestätigte zwar die Authentizität der Politico-Meldung, betonte aber auch, dass Alitos Entwurf noch keine Rechtskraft besitzt. Roberts hat in der Zwischenzeit eine Untersuchung des Nachrichtenlecks angeordnet. In der Geschichte des Supreme Court waren zuvor noch nie interne Beratungen vor offiziellen Urteilsverkündungen an den Tag gedrungen. Republikanische Politiker gaben sich entsprechend erzürnt und sprechen von einer koordinierten Kampagne, die einzelne Bundesrichter dazu drängen soll, die Seiten zu wechseln.

Die Meldung schlug im Politdiskurs des Landes ein wie eine Bombe und könnte den Wahlkampf vor den Kongresswahlen im kommenden Herbst noch einmal zusätzlich erhitzen. Die in den Umfragen stark abgeschlagene Demokratische Partei von Präsident Joe Biden erhofft sich jetzt einen Auftrieb, da die Wut unter Abtreibungsbefürwortern in der Parteibasis die Wahlbeteiligung erhöhen könnte. Der New Yorker Kongressabgeordnete Patrick Maloney erklärte per Tweet, die Debatte um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch stelle nun die entscheidende Frage dar, über die bei den Wahlen entschieden werden würde.

Doch die Rechnung könnte für die Demokraten nicht aufgehen, denn in aktuellen Umfragen wird das Thema von amerikanischen Wählern nicht als Priorität erachtet. Weit oben in der Prioritätenliste befinden sich stattdessen Sorgen um die schwächelnde Wirtschaft und den Verlauf der Pandemie, die im Gegensatz zu Schwangerschaftsabbrüchen fast alle Bürger betreffen.

Eine rechtliche Grauzone

Das Recht auf bedingungslose Abtreibung im ersten Trimester wurde das erste Mal im Jahr 1973 vom Supreme Court im berüchtigten Fall Roe v. Wade befunden. Im zweiten Trimester blieb der Schwangerschaftsabbruch zwar legal, durfte aber von einzelnen Staaten mit Bedingungen versehen werden. 1992 bestätigte der Supreme Court im Fall Planned Parenthood v. Casey den Befund, hob allerdings das Trimester-Kriterium auf. Stattdessen waren Abtreibungen seither bis zur „viability“, also eigenständigen Lebensfähigkeit des Fötus, ohne Bedingung legal, und in den darauffolgenden Monaten der Regulierung durch die Bundesstaaten ausgesetzt. Doch die Schwelle der Lebensfähigkeit hat sich im Zuge wissenschaftlichen Fortschritts stets nach vorne verlagert: Während 1973 Frühgeburten bis zur 28. Woche wenig Chancen auf Überleben hatten, überlebte im Jahr 2020 ein Frühchen in Alabama die Geburt nach 21 Wochen.

Ein 2018 im Bundesstaat Mississippi erlassenes Gesetz jedoch verbot den Schwangerschaftsabbruch schon ab der 15. Woche, und es ist dieses Gesetz, das derzeit vor dem Supreme Court verhandelt wird. Kritiker befürchten, dass eine Aufhebung der Grundsatzurteile Roe und Casey in vielen republikanischen kontrollierten Staaten gleich Totalverbote von Abtreibungen zur Folge haben könnte.

Geburtsstunde des Kulturkriegs

Auch wenn es für Millionen Geburten das vorzeitige Ende bedeutete, war das Roe v. Wade-Urteil in vielerlei Hinsicht die zentrale Geburtsstunde des Kulturkrieges, der die USA seither fast unüberbrückbar in linke und rechte, blaue und rote, progressive und konservative Lager teilt. Denn im Gegensatz zu den meisten westlichen Industrienationen wurde ein bundesweites Abtreibungsrecht nie auf parlamentarischer Ebene festgelegt, sondern per juristischem Dekret, das zugleich die demokratisch erlassenen Gesetze in allen 50 Bundesstaaten aushebelte, von denen die Mehrzahl im Jahr 1973 den Schwangerschaftsabbruch in fast allen Fällen noch verbot. Doch in den 60er-Jahren taute die ablehnende Haltung unter der US-Bevölkerung etwas ab, sodass selbst mehrere von Republikanern regierte Staaten, wie Kalifornien unter dem damaligen Gouverneur Ronald Reagan, das Abtreibungsrecht liberalisierten. Selbst die vor zwei Jahren verstorbene Verfechterin auf das Recht auf Abtreibung, die liberale Bundesrichterin Ruth Bader Ginsburg, erkannte, dass Roe deswegen anfechtbar und auf schwacher Basis entschieden worden sei.

Alitos Begründungstext greift diese Schwäche an und bemerkt, dass Roe und Casey der nationalen Debatte um das Abtreibungsrecht kein Ende setzte. „Im Gegenteil“, so die Meinung, „Roe ‚heizte‘ ein nationales Thema an, das seit dem letzten halben Jahrhundert schwere Spaltungen hervorrief.“ Das Thema hat nämlich seither den sonst so populären Supreme Court in seinen Fundamenten erschüttert. Denn obwohl bis in die 1980er-Jahre hinein Nominierungen für den Supreme Court fast immer praktisch einheitlich vom US-Kongress durchgewunken wurden, stieg die mögliche Haltung eines nominierten Richters zur Abtreibungsfrage stets zur allerhöchsten Priorität in den Senatsanhörungen auf.

Joe Biden hält sich bedeckt

Seit der Trump-Präsidentschaft wurden alle nominierten Richter nur mehr auf Parteilinie gewählt. Selbst im Vorwahlkampf um die Nominierung für das Präsidentschaftsamt durch die jeweiligen Parteibasen ist die Stellung der Kandidaten zur Legalität von Schwangerschaftsabbrüchen quasi ein Lackmustest geworden. Und bis vor wenigen Jahren gab es noch abtreibungskritische Demokraten oder abtreibungsfreundliche Republikaner. Beides sind nunmehr fast komplett ausgestorbene Arten.

Ob eine Mehrheitsentscheidung, die letzten Endes Roe aufheben sollte, also ein Segen durch die Hintertür für die entzweiten USA sein könnte? Denn sollten demokratisch legitimierte Abstimmungen durch die bundesstaatlichen Parlamente oder den nationalen Kongress über das Abtreibungsrecht entscheiden, wären den Absolutheitsansprüchen der extremen Flügel beider Parteien der Wind aus den Segeln genommen. Denn eine Mehrheit der Amerikaner unterstützt das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch im ersten Trimester, jedoch nicht darüber hinaus. Sollte diese Mehrheitsmeinung in Gesetzesform gegossen werden, würde sich die Rechtslage in den USA auch dem westlichen Durchschnitt anpassen, wohingegen das Abtreibungsrecht Amerikas seit Roe und Casey weitaus liberaler ist als in vielen europäischen Nationen.

Doch der katholische Joe Biden äußerte sich in einer ersten Stellungnahme ablehnend gegenüber einem demokratischen Votum. Zu viele Grundrechte hingen von Roe und Casey ab, so Biden, „und ich bin Moment nicht dazu bereit, diese den Launen der Öffentlichkeit zu überlassen“.

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