Rückblick auf 2020 in den USA - Ein Neustart, der keiner ist

Präsidentschaftswahlkampfjahre sind in den USA immer ungewöhnliche Jahre. Auch 2020, aber auf ganz andere Art als zuvor. Ein unberechenbarer Amtsinhaber und ein tödliches Virus bestimmten die Schlagzeilen. Daniel C. Schmidt blickt zurück.

Seine Partei sucht noch immer nach einer politischen Richtung für 2021: Joe Biden/ dpa
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Autoreninfo

Daniel C. Schmidt ist freier Reporter. Er studierte in Manchester und London (BA Politics & Economics, MSc Asian Politics) und lebt zur Zeit in Washington, D.C.. Schmidt schreibt über Pop, Kultur und Politik.

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Dass sich Monate wie Wochen und Wochen wie Tage anfühlen, oder genau andersherum, also dass sich Zeit irgendwann als Konzept erübrigt und alles ineinander übergeht, das kann man in den USA alle vier Jahre erleben. Es nennt sich Wahlkampf. 

Im Januar, wenn die Parteimitglieder über ihre Kandidaten abstimmen, liegt für gewöhnlich Schnee auf den kargen, abgewirtschafteten Feldern von Iowa. Dann geht es relativ schnell in den Süden, bis der erste Super Tuesday ansteht, irgendwann ist Ostern, kurz danach klopft der Sommer an, die Parteitage werden abgehalten, und Zack, werden die Tage wieder kürzer, an Halloween erschreckt man sich kurz, wo die vergangenen zehn Monate „geblieben“ sind, und ehe man sich versieht, ist Wahltag. 

Ein Präsident, der eine Verschwörung gegen sich (t)witterte 

So war es auch 2020, nur eben ganz anders. Das Jahr hatte tatsächlich angefangen, wie zu erwarten war: mit einem Präsidenten, der eine politische Verschwörung gegen sich (t)witterte und Demokraten auf Sinnsuche. 

In Iowa gingen traditionell die Vorwahlen los, wobei sich schon Monate vorher die Richtungsfrage angekündigt hatte, wer für die Demokraten am besten gegen Donald Trump antreten sollte, Bernie Sanders oder doch Elizabeth Warren, vielleicht Pete Buttigieg? Zu diesem Zeitpunkt, Anfang Februar, war Joe Biden ein angeschlagener Kandidat, nicht zukunftsweisend, nicht vermittelbar. Ein Relikt aus der Obama-Zeit, der auf dem vierten Platz landete. In Iowa, der ersten Station der primaries, will man gut aus dem Startblock kommen, nicht hinterherhinken. Biden schien nicht mehrheitsfähig. 

Das Coronavirus nahm Überhand 

Bis drei Wochen später der ganze Zirkus nach South Carolina zog, wo sich die Bevölkerung mit großem Abstand für den ehemaligen Vizepräsidenten aussprach. Danach war für Bernie Sanders, der sich davor im Rennen um die Kandidatur an die Spitze geschoben hatte, kein Platz mehr. Das Establishment der Partei war zusammengerückt, Joe Biden plötzlich der Mann, auf den sie gegen Trump setzten. 

Und so kann man in fünf, sechs Sprüngen das Jahr bis kurz vor Weihnachten durcherzählen. Wenn wenige Tage nach der Wahl in South Carolina, Anfang März, nicht mit einem Mal ein Thema Überhand genommen hätte. Ja, natürlich: das Coronavirus. 

Lachen über Klopapier hamsternde Deutschen  

Zwei Tage vor Ankündigung des Lockdowns standen wir in einer Turnhalle, ein Basketballspiel unter Freunden. Wir alle hatten den Begriff gehört, kannten die Nachrichten, China, Wuhan, grippeähnliche Symptome, und so weiter, aber noch schien das alles weit, weit weg von der US-Ostküste. Wir begrüßten uns, grinsten. Sollen wir jetzt etwa auf einen Handschlag verzichten? Beim Aufwärmen lachten wir über die aufgeregten Telefonate der Freunde und Verwandten in Europa, die sich mit Tiefkühlpizza und Klopapier eingedeckt hatten. Sorgloses Amerika. 

Sorglos, aber nicht uninformiert, wie sich herausstellte. Im Weißen Haus und in den zuständigen Behörden hatten sie schon länger gewusst, dass es bei dem Virus nicht nicht um „eine einfache Grippe” handeln würde. 

Horrormeldungen von Kühlcontainern 

Die ersten Tage des Lockdowns in der Hauptstadt waren wohl das, was man gespenstisch nennt: Leere Straßen, kaum Verkehr, keine Touristen vorm Weißen Haus. Sah ich auf hundert Metern doch mal jemanden auf dem Bürgersteig entgegenkommen, wechselte ich sofort die Straßenseite.

Man ging sich aus dem Weg, wenn man überhaupt irgendwo hinging. Der Übergang von „Oh Gott, der trägt Maske, der muss infiziert sein” zu „Warum trägt der Idiot keine Maske wie alle anderen?” war relativ fließend. Gleichzeitig schnellten die Infektionszahlen in die Höhe. Aus New York kamen Horrormeldungen von Kühlcontainern, wo die Toten aufbewahrt werden mussten, weil die Leichenhallen in den Krankenhäusern überfüllt waren.

Weltmacht im freien Fall 

Als die Opferzahl von Tausenden in die Zehntausenden überging und irgendwann die Rede von Einhunderttausend bis Jahresende war, suchte ich nach einem So-groß-wie-Saarland-Einordnungsvergleich. Der hatte sich schnell überholt, es dauerte nicht lang, bis die Marke geknackt war und man mit 200.000 Toten rechnen musste. Heute sind es mehr als 300.000, oder: als ob man halb Düsseldorf einfach von der Landkarte streichen würde. 

Was macht das mit einem Land, wenn innerhalb von Monaten derart viele Menschen sterben? Ich weiß gar nicht, ob es darauf schon eine befriedigende Antwort gibt. Und trotzdem haben sich die USA in diesem vergangenen Jahr verändert. Die Untergangsformel von der „Weltmacht im freien Fall” ist natürlich zu dick aufgetragen, aber die verblichene Größe war und ist ihr anzumerken. 

Chaos, Skandale, Tweets 

Nach einigen Monaten zuhause in Washington fuhr ich wieder los, Florida, Texas, Kalifornien, Rostgürtel, Mittlerer Westen. Es fand dann doch so etwas wie Wahlkampf statt. Für die Menschen, auf die ich traf, war entweder klar, dass es trotz oder gerade wegen des gescheiterten Amtsenthebungsverfahrens alle auf Trump abgesehen hatten.

Oder sie waren es, auf der anderen Seite, nur noch leid, Trumps Unvereinbarkeit mit politischen Normen noch länger ansehen zu müssen. Das tägliche Chaos, die Skandale, die Tweets, die Agitation. Vier lange Jahre. Das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten hat in der Zeit einen Knacks bekommen. Überall auf der Welt lachen sie über den Präsidenten, der bis zu Trumps Einzug ins Weiße Haus immer für ein amerikanisches Ideal stand. Und einige beklatschen ihn nach wie vor. 

Nicht für Biden, aber gegen Trump 

Dass das Land in zwei Lager gespalten ist, ist keine neue Beobachtung, das ist lang und breit erzählt worden. Was anders wirkte in diesem Jahr, war der Umstand, dass der erschöpften Duldung der Trump`schen Eskapaden ein echter Wille nach Veränderung gewichen war, unter moderaten wie linken Demokraten.

Obwohl Joe Biden die Wahl gewonnen hat, sucht die Partei immer noch nach einer politischen Richtung für 2021 und danach, und dennoch stellten die Anhänger sich geschlossen auf, zumindest vor Ort, on the road, da draußen im Land. Der linke Flügel um Bernie Sanders zog sich zurück und vermied innerparteiliche Störfeuer. Sie waren nicht unbedingt für Biden, aber definitiv gegen Trump. „Den um jeden Preis loswerden, dann sehen wir weiter”, schien das Motto zu sein. 

Neustart mit altem Personal 

2018, bei den Zwischenwahlen, war die Mobilisierung auch groß, aber da wirkte die Motivation wie ein bloßer Denkzettel ohne unmittelbare Konsequenzen für den Präsidenten. Jetzt gibt es also einen Neustart mit Biden, der keiner ist, weil er mit altem Personal geführt wird, mit lauter Gesichtern aus Obama-Tagen, und einer moderaten Politik für die Mitte, wie schon 2008 bis 2016. 

Im kommenden Jahr werden Journalisten wie ich wieder beschreiben, wie die Regierung ihre Arbeit aufnimmt – und wie es mit Trump weitergeht, ob er sich zurückzieht oder weitermacht als politische Figur. 

„Er war von der Welt enttäuscht“

In „Citizen Kane“, Orson Welles’ Film von 1941, den ich in Vorbereitung auf David Fischers „Mank“ vor ein paar Wochen noch einmal angeschaut habe, fällt an einer Stelle ein Satz über den zur Selbstüberschätzung neigenden Millionär Charles Foster Kane, der auch an Trumps Gebaren erinnert: „Er war von der Welt enttäuscht, also hat er sich seine eigene aufgebaut.”

2020 hat Amerika ihn fallengelassen, sie ist nach vier Jahren eingerissen worden, Trumps Parallelwelt im Oval Office aus Lügen und verdrehten Fakten. Mal schauen, ob er sie wieder aufbaut. 

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