Ukrainekonflikt - Der ewige Pufferstaat

Der Konflikt zwischen Moskau und dem „Westen“ schwelt weiter, befürchtet wird eine russische Invasion. Dabei wird immer wieder die Rolle der Ukraine als „Pufferstaat“ hervorgehoben. Das Problem besteht darin, dass die Regierung in Kiew kaum andere Optionen hat, als der Spielball widerstreitender Interessen zu sein.

Ukrainische Soldaten patrouillieren entlang der Trennlinie zu den prorussischen Rebellen / picture alliance
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Autoreninfo

Victoria Laura Herczegh, die fließend Mandarin, Spanisch, Französisch und Englisch spricht, ist Analystin bei Geopolitical Futures und Doktorandin für Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft der Corvinus-Universität in Budapest.

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Im Oktober 1994 traf der ukrainische Außenminister Borys Tarasyuk in Washington mit dem damaligen stellvertretenden Außenminister Strobe Talbott zusammen, um die Frage der Nato-Erweiterung zu erörtern. Tarasyuk brachte seine wachsende Unzufriedenheit mit der Nato zum Ausdruck und erkundigte sich nach der amerikanischen Vision für sein Land. Es sei bereits ein inoffizieller Pufferstaat, aber was genau würde das bedeuten? Eine Pufferzone oder eher eine Grauzone für die USA, um den neu gebildeten russischen Staat in Schach zu halten? Talbott sagte, er habe noch nicht die richtige Antwort, werde aber hoffentlich im Laufe der Zeit eine finden.

In jeder Publikation, die sich mit Geopolitik befasst, einschließlich Geopolitical Futures, ist irgendwann von einem sogenannten Pufferstaat die Rede. Dabei handelt es sich um Länder, die zwischen Großmächten liegen und deren Schicksal es ist, Feindseligkeiten und mögliche Zusammenstöße zwischen größeren Rivalen zu verhindern. Pufferstaaten sind in der Regel entmilitarisiert, d.h. sie beherbergen nicht das Militär einer der rivalisierenden Mächte. Wenn eine Großmacht in einen Pufferstaat eindringt, bricht in der Regel ein Krieg mit einem der Rivalen aus.

Die lange Geschichte der Pufferstaaten

Pufferstaaten lassen sich bis zu den Anfängen der internationalen Beziehungen zurückverfolgen; einige der ersten wurden während der römisch-persischen Kriege (54 v.Chr.–628 n.Chr.) eingesetzt. Seitdem hat sich das Konzept natürlich weiterentwickelt und wurde schließlich zu einem wesentlichen Bestandteil der Theorie des Gleichgewichts der Kräfte, die die europäische Politik seit Beginn des 18. Jahrhunderts prägte.

Es überrascht nicht, dass Pufferstaaten einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, von umliegenden Mächten übernommen zu werden, die glauben, Autorität über den Pufferstaat ausüben zu müssen, weil anderenfalls ihr Rivale genau dies mit Sicherheit tun werde. Pufferstaaten als solche mögen für die Verhinderung von Kriegen wichtig sein – aber was, wenn überhaupt, haben sie zu gewinnen? Könnte ein Nicht-Pufferstaat, der einen Pufferstatus erhält, eine multilaterale Krise lösen?

Die letztgenannte Frage ist besonders wichtig im aktuellen Patt zwischen Russland und der Ukraine, einem prototypischen Pufferstaat, der schon immer zwischen Russland und dem Westen feststeckte. Geografisch gesehen hatte die Ukraine nie die Möglichkeit, neutral zu bleiben, so dass ihre politische Stellung und Stabilität schon immer prekär waren.

Durch die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde die Lage für die Ukraine noch unsicherer. Die Ukraine ist immer noch kein Mitglied der Nato und hat somit kein stabiles Bündnis mit dem Westen. Einfach ausgedrückt: Weder die Nato noch die Europäische Union würden der Ukraine direkt helfen. Seit der Annexion der Krim haben mehrere Wissenschaftler eine umstrittene Lösung vorgeschlagen, die nicht nur den Konflikt beenden, sondern die Ukraine auch in eine sicherere internationale Position bringen würde: Die Ukraine offiziell als Pufferstaat zwischen Russland und dem Westen zu benennen.

Will sich die Ukraine überhaupt verwestlichen?

Ist das die Antwort auf die Frage, die Tarasyuk 1994 Talbott stellte? Nicht ganz. Vielmehr gab es eine ganze Reihe von Ideen bezüglich der Ukraine, die von den USA zu verschiedenen Zeiten ausprobiert wurden. Es gab den Plan, dass die Ukraine zur Begrenzung der russischen Macht dienen sollte, aber Kiew wurde bald als zu schwach dafür angesehen. Kurze Zeit später kam die Idee auf, die Ukraine zu verwestlichen und ihre Entwicklung hin zu einem stabilen, unabhängigen, demokratischen Staat mit einer wachsenden Marktwirtschaft und engeren Beziehungen zum Westen zu unterstützen. Auch diese Idee war verführerisch, aber letztlich erfolglos, da es im Osten der Ukraine ständig zu militärischen Konflikten kam, Russland sich vehement gegen die Erweiterung der Nato und der EU wehrte und die Beziehungen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten auf Eis lagen.

Und es stellte sich heraus, dass die Ukraine nicht unbedingt verwestlicht werden wollte; ihre sprachliche, ethnische und religiöse Vielfalt zwingt sie dazu, zwischen Ost und West zu schwanken. Anstatt sich zwischen einem sicheren, aber begrenzten westlichen Status oder einem bloßen Anhängsel Russlands zu entscheiden, hätte die postsowjetische Ukraine den Weg gehen können, den Kanada oder die Schweiz eingeschlagen haben: wirtschaftlich und militärisch starke Länder, die praktikable Wege gefunden haben, sprachliche, ethnische und regionale Unterschiede miteinander in Einklang zu bringen.

Leider ist die Ukraine weder besonders mächtig oder einflussreich, noch ist ihre geografische Lage für die Art von Autonomie geeignet, die Kanada und die Schweiz genießen. (Die Ukraine wurde in diesem Jahr nicht einmal zum 31. Nato-Gipfel eingeladen.) Eine zu offensichtliche oder zu schnelle Annäherung an eine der beiden Seiten könnte sich als katastrophal erweisen – wie etwa im Fall der Krim-Krise im Jahr 2014. Die Lage ist einfach zu prekär. Der Konflikt im Donbass bleibt eingefroren. Die Aufstockung der russischen Truppen entlang der Grenze zeigt nur allzu gut, wie fragil der Status quo ist. Der Kreml hat kürzlich (erneut) seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass die Ukraine kein eigener Staat sein sollte.

Nach der Wahl von US-Präsident Joe Biden, der als Vizepräsident die Ukrainepolitik Washingtons leitete und das Land sechsmal besuchte, erwartete Kiew eine bessere Zusammenarbeit mit den USA. Der Optimismus ist jedoch einer gewissen Skepsis und Enttäuschung gewichen. Trotz der Besorgnis über Russlands militärische Aufrüstung im Schwarzen Meer sagten die Vereinigten Staaten die Entsendung von zwei Kriegsschiffen ab; die Regierung Biden befürchtet, dass Russlands Aufrüstung in der Nähe der Ukraine neue russische Militärangriffe auf dieses Land auslösen könnte. Seit dem Ausbruch der ersten Kämpfe in der Ostukraine nach dem Einmarsch Russlands im Jahr 2014 haben sich die von Russland kontrollierten (und russischen) Streitkräfte mit der ukrainischen Armee hauptsächlich durch Scharfschützen und Granatenbeschuss entlang der Frontlinien auseinandergesetzt. Seit Sommer 2014 gab es keine nennenswerten militärischen Zusammenstöße mehr, obwohl nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis Februar 2020 mehr als 13.000 Menschen getötet wurden, darunter auch Zivilisten.

Ein „Entweder, oder“ ist keine Option

Ohne große Unterstützung durch ihre stärkeren „Verbündeten“ ist die Ukraine lediglich ein Werkzeug für die individuellen Interessen mächtigerer Staaten, das nicht genug Gegenleistungen bietet, um in einem Bündnis gleichberechtigt zu sein. Sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden, ist so riskant, dass es fast gar keine Option darstellt. Würde also die formale Anerkennung der Ukraine als Pufferstaat ihre Position zumindest vorübergehend festigen?

Das Problem besteht darin, dass dies noch nie die sicherste Lösung für geopolitische Krisen gewesen ist. Ein Pufferstaat, vor allem ein relativ schwacher, kann schnell zwischen seinen rivalisierenden Nachbarn aufgerieben werden und sieht sich der ständigen Gefahr eines Angriffs, einer Invasion oder sogar der Zerstörung ausgesetzt. Außerdem ist die Ukraine selbst unter den potenziellen Pufferstaaten einzigartig. Denn sie hat nicht nur eine mit Russland eng verflochtene Geschichte. Noch dazu ist der „andere“ Staat als Gegenpol zu Russland überhaupt kein Staat, sondern das, was wir kollektiv als den „Westen“ bezeichnen. Sich mit derart vielen unterschiedlichen Interessen zu verbünden, ist an sich schon problematisch.

Eine Politik der Blockfreiheit – eine weitere mögliche Lösung für die Probleme der Ukraine – könnte ebenfalls verlockend sein. Aber selbst das wäre keine kurzfristige Lösung. Finnland zum Beispiel, ein Land, in dem die gut etablierte und sorgfältig gepflegte Neutralität die Grundlage eines erfolgreichen Verteidigungsmodells ist, hat jahrzehntelang daran gearbeitet, seinen derzeitigen Status zu behaupten.

Das größte Hindernis besteht wahrscheinlich darin, dass jede Lösung ein gewisses Maß an Stärke erfordert, über das die Regierung in Kiew aber einfach nicht verfügt. Sie kontrolliert nicht einmal das gesamte ukrainische Staatsgebiet. Um sich über ihre aktuelle Position zu erheben, muss die Ukraine strategischer und subtiler auf die beteiligten Parteien zugehen, anstatt bloß ein Ball in deren Spiel zu bleiben.

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