Ukraine - Ein vaterländischer Krieg Teil 2 - Hass auf die Russen

Sollte Russland mit seinen Schiffen weiter die ukrainischen Häfen blockieren, könnten die Folgen für die weltweite Versorgung mit Getreide dramatisch sein. Auch für die Produzenten in der Ukraine selbst ist die Blockade der Häfen dramatisch.

Der Unabhängigkeitsplatz in Kiew Ende März: Direkt dahinter liegt die Präsidialverwaltung / Moritz Gathmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Wut, ja blanker Hass auf die Russen hat sich bei den Ukrainern seit dem 24. Februar angestaut, und mit jeder Nachricht über Vergewaltigungen durch russische Soldaten, Morde an Zivilisten und Raketenangriffe auf zivile Gebäude wächst er. Die meisten Ukrainer haben es aufgegeben, mit Verwandten, Bekannten und ehemaligen Schulfreunden in Russland über den Krieg zu diskutieren. „Wir erzählen ihnen, wie bei uns die Bomben der Russen fallen, und sie sagen uns, das könne nicht sein“, erzählt Sascha Ende März, ein Kiewer in seinen Mittsechzigern, der mit seiner Frau Karina seinen Wohnblock in Kiew verlassen hat, nachdem im Nachbarhaus eine Granate eingeschlagen war. Seitdem wohnen sie im Wochenendhaus an der südlichen Ausfahrt der ukrainischen Hauptstadt. 

Im Küchenschrank steht noch ein Kaffeebecher mit der Aufschrift „Moskau“ und einer Abbildung des Kreml, den der langjährige russische Freund ihnen einst geschenkt hat. „Den kann ich eigentlich nicht mehr benutzen. Aber man muss sich vorstellen, dass man das Blut derer trinkt, die da im Kreml sitzen, dann geht es“, sagt Karina. Beide sind russischsprachig, groß geworden in der Sowjetunion, der sie keine Träne hinterherweinen. Aber Hass auf die Russen verspürten sie nicht. Bis jetzt. 

Die Ukrainer stehen der Verweigerungshaltung der Russen fassungslos gegenüber, die eher ihrem Präsidenten und dem Fernseher glauben als ihren Verwandten und langjährigen Freunden in der Ukraine. „Alle Russen sind Feinde für die Ukraine im Moment“, hat Andrij Melnyk, ukrainischer Botschafter in Deutschland, im April der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagt – und dafür viel Kritik erfahren. Dabei hat er nur widergespiegelt, welche Stimmungslage in weiten Teilen der ukrainischen Bevölkerung inzwischen dominiert.

Parallelen zum Zweiten Weltkrieg

Das Mitleid mit den jungen russischen Soldaten, die erzählten, sie hätten nicht gewusst, dass sie in den Krieg geschickt wurden, es ist verflogen. Die derzeitige Rhetorik lässt eher Erinnerungen wach werden an den berühmten Artikel des sowjetischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg aus dem Sommer 1942, mit dem er die Soldaten der Roten Armee vor unnötigem Humanismus gegenüber den Eroberern „heilen“ wollte (gekürzt): „Wir haben verstanden: Die Deutschen sind keine Menschen. Wir werden töten. Wenn Du den Deutschen nicht tötest, wird er Dich töten. Töte einen Deutschen, darum fleht Dich das Kind an. Töte einen Deutschen, schreit Deine Heimat­erde. Schieß nicht daneben. Töte!“

Ein Kaffeebecher mit der Aufschrift
„Moskau“ und den Türmen des Kreml
in einer Kiewer Wohnung
/ Moritz Gathmann

Die Rhetorik der Invasoren steht dem in nichts nach: In der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti heißt es in einem im April erschienenen Kommentar über die Denazifizierung der Ukraine: „Die Nazis, die Waffen in die Hände genommen haben, müssen maximal auf dem Schlachtfeld vernichtet werden. Man sollte auch keine sonderlichen Unterschiede zwischen den ukrainischen Streitkräften, den sogenannten ,Nationalbataillonen‘ sowie den Bürgermilizen machen, die sich diesen zwei Militärformationen angeschlossen haben.“ Dass die russischen Soldaten in Butscha und anderen Städten offenbar jeden Zivilisten, der in irgendeiner Form unter Verdacht stand, den ukrainischen Verteidigern zu helfen, unter Feuer nahmen oder bei ihrem Abzug gefangene Zivilisten erschossen, spiegelt eine Abwendung von Kriegsregeln wie der Genfer Konvention wider. Und auch dies erinnert an den Zweiten Weltkrieg, als deutsche Einheiten als Antwort auf Partisanenangriffe in ukrainischen und belarussischen Dörfern Vergeltung an Zivilisten übten.

Der Hass gegenüber den Russen hat sich auch auf Menschen verbreitet, die nicht unmittelbar von den Raketenangriffen und Granateinschlägen betroffen sind. Die Fluchkanonade, die Wiktor Wassiljewitsch über den russischen Präsidenten niedergehen lässt, ist vielseitig und deftig. „Danke, Putin“, ist das Einzige, was zitierfähig ist. „Man schlägt uns, aber wir lassen uns den Humor nicht nehmen“, ist die Devise von Wiktor Wassiljewitsch, zu Sowjetzeiten verantwortlich für den Fuhrpark der einstigen Geflügelfabrik. Der raubauzige, humorvolle Ukrainer ist Ende 60, bestellt zusammen mit seinem Enkel Maxim 130 Hektar Land und steht nun vor einem Haufen von 70 Tonnen Sonnenblumenkernen in seiner Lagerhalle.

Die wirtschaftliche Bedeutung des Kriegs

Eigentlich würde der Bauer aus dem Dorf Perschotrawnewe östlich von Odessa die nun verkaufen, dann würden Lastwagen kommen und sie in den zehn Kilometer entfernten Schwarzmeerhafen bringen, auf Schiffen exportieren oder in der Ölmühle zu Sonnenblumenöl verarbeiten. Aber seit dem 24. Februar, seit dem Beginn der russischen Invasion, hat kein Schiff mehr den Hafen verlassen, diesen Hafen nicht und keinen anderen Hafen der Ukraine, weil russische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer stehen, weil die Ukrainer in Erwartung eines Angriffs das Meer vermint haben – und in dieser Situation kein Schiffseigentümer der Welt ein Schiff durch diese Krisenzone fahren lassen würde. Auch die Ölmühle nahe dem Hafen steht still, weil sie für den Export produzierte. Putin hält die Wirtschaft des Landes im Würgegriff.

Sollte Russland mit seinen Schiffen weiter die ukrainischen Häfen blockieren, könnten die Folgen für die weltweite Versorgung mit Getreide dramatisch sein. Heute kommen etwa 11 Prozent des weltweit gehandelten Getreides aus der Ukraine, bei Sonnenblumenöl ist der Anteil der Ukraine 55 Prozent. Besonders afrikanische und arabische Länder sind auf die ukrainischen Getreideexporte angewiesen. Auch für die Produzenten in der Ukraine selbst ist die Blockade der Häfen dramatisch: „Samen haben wir noch, aber der Diesel kostet jetzt 30 Prozent mehr. Dünger kostet doppelt so viel wie vor dem Krieg“, erzählt Wiktor Wassiljewitsch. Das liegt vor allem daran, dass der Dünger aus Belarus kommt: Die Grenze ist seit Beginn des Krieges geschlossen.

Weizenkörner auf dem Schreibtisch von
Bürgermeister Witalij Chmilenko / Moritz
Gathmann

Zwei Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche hat das Gebiet Odessa: Auf etwa einer Million wird Getreide angebaut, dann folgen mit 450 000 Hektar Sonnenblumen, dann Raps und in kleineren Mengen Mais, Flachs und anderes. Wer Anfang April über Land fährt, sieht Wintersaat, die jetzt die Felder grün werden lässt, woanders wird der Boden gepflügt. Die wirkliche Saatsaison beginnt frühestens Mitte April, wenn der Boden wärmer geworden ist. „Die Bauernregel heißt: Wenn die Aprikosen blühen, kann man säen“, sagt Wassilij Chmilenko, Bürgermeister von Perschotrawnewe, 3600 Einwohner, zu denen auch Wiktor Wassiljewitsch und sein Enkel Maxim gehören.

Der Ruin steht bevor

Chmilenko, am Jackett das ukrainische Staatswappen angesteckt, der selber einen Betrieb mit 90 Hektar Land bewirtschaftet, erklärt die prekäre Lage der Bauern: „Hier ist zwar Schwarzerdegebiet. Aber die Ernte war in den letzten zwei Jahren wegen der Trockenheit schlecht. Eigentlich verkaufen sie jetzt ihre Sonnenblumenernte, weil die Preise im März hoch sind. Wenn das jetzt nicht möglich ist, haben sie keine finanziellen Mittel mehr“, erklärt der studierte Agronom, der in den letzten Jahren für eine Reihe westlicher Firmen aus der Agrarbranche gearbeitet hat. 

Es droht zwar kein Hunger in dieser Gegend: Das Dorf liegt in der Nähe von Odessa, viele Menschen arbeiten in der Stadt oder in einem der vielen Betriebe rund um den Hafen. Und die Silos sind voll: Im Hafen selbst stehen sie, 20, 30 Meter hohe metallene Zylinder, in denen Weizen und anderes Getreide gelagert wird. Das neueste Getreideterminal, erst vor zwei Jahren vom amerikanischen Konzern Cargill fertig gebaut, steht still wie die anderen auch. Im Hafen liegt noch die 230 Meter lange „Star Laura“, am 22. Februar eingelaufen, um Getreide zu laden. Ausfahren konnte sie nicht mehr, denn am Morgen des 24. schlugen die ersten russischen Raketen in der Ukraine ein.

Die direkte militärische Bedrohung ist hier momentan weniger dramatisch als vor drei Wochen, als die Befürchtung bestand, dass die russischen Truppen durch Mykolajiw durchbrechen könnten: Dann wäre der Weg für Bodentruppen nach Odessa frei gewesen, dann hätten auch die Schiffe vor der Küste angegriffen. Aber spätestens im Herbst, wenn die Ernte verkauft werden muss, wird sich für die Bauern die Existenzfrage stellen: Sind die ukrainischen Häfen weiter blockiert, stehen sie vor dem finanziellen Ruin.

Der Export mit Bahn oder LKW ist keine realistische Alternative: Ein Schiff lädt etwa 50 000 Tonnen, auf einen Zug mit 20 Waggons passen 3000 Tonnen. Und am Ende muss das Getreide ja doch in einen Hafen gebracht werden, um dann nach Afrika oder in den Nahen Osten zu kommen. Die riesigen Transportkosten würden das Geschäft also unrentabel machen, abgesehen davon, dass so viele Transportzüge überhaupt nicht zur Verfügung stehen.

Rückkehr nach Kiew

Auf der Fahrt zurück ins Bürgermeisteramt sitzt Chmilenko schweigend am Steuer seines Jeeps, dann sagt er nachdenklich: „Gerade erst haben wir hier begonnen, wieder ganz ordentlich zu leben, gerade waren wir dabei aufzusteigen. Und jetzt wurden uns die Flügel abgebrochen.“ Er sagt das ohne Mutterflüche in Richtung Putin, aber er meint dasselbe wie Wiktor Wassiljewitsch.
Zurück nach Kiew, wo sich das Leben nach dem Abzug der russischen Truppen wieder normalisiert: Menschen kehren aus Europa, aus Lemberg und von ihren Datschas zurück in ihre Stadtwohnungen. 

Lena Grosowska ist die ganze Zeit in der Stadt geblieben, hat die Galerie Partkom, die sie zusammen mit ihrem Mann Ljonja betreibt, zu einem Bombenkeller umfunktioniert. Die 49-Jährige mit den hochgesteckten blonden Haaren ist Künstlerin und Musikerin, man kann sich auf Youtube fröhliche Videos ihrer Band GrasovSka anschauen. Aber das scheint Lichtjahre entfernt. Sie hat sich nach den ersten Tagen des Schocks bei der Armee gemeldet, um zu kämpfen. Genommen wurde sie nicht – nur Ukrainer mit Kampferfahrung, oder zumindest militärischer Ausbildung, werden derzeit gebraucht. Ihre Band ist zerfallen – die einen sind geflohen, die anderen jetzt Mitglieder der Bürgermilizen. Grosowska organisiert deshalb Hilfe für die Armee und die Flüchtlinge.

Kampf der Systeme

„Ich will keine Musik machen. Und ich kann jetzt auch nicht malen“, sagt sie. Organisatoren einer Ausstellung in Prag baten sie um ein Bild, in dem sie die Erlebnisse des letzten Monats verarbeiten sollte. „Aber alles ist noch lebendig. Die Zeit der Reflexion ist noch nicht gekommen“, sagt sie. Lena hat den Kuratoren vorgeschlagen, einfach eine Luftalarmsirene aufzustellen. „Das reicht, um einen Eindruck unseres Lebens zu vermitteln.“ Lena glaubt, sie erlebten jetzt „einen Moment der Wahrheit: Wir sehen das Böse in Reinform.“

Die Künstlerin und Musikerin Jelena
Grosowska auf einem Kiewer Hinterhof / 
Moritz Gathmann

Ihr Mann Ljonja, auch er Künstler, etwas älter als seine Frau, mit ergrautem Vollbart, spricht von einer Weggabelung, an der sich die Menschheit befinde: „Hier die Demokratie, dort das autoritäre System. Lange Zeit schienen Übergänge von einem in das andere System möglich. Aber das ist jetzt vorbei: Die beiden Systeme sind aufeinandergeprallt. Und der Ausgang dieses Krieges wird unsere Zukunft auf Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, bestimmen.“

Auch Ljonja hat sich bei der Armee gemeldet, eine militärische Ausbildung hat er, allerdings macht ihm sein Bein Probleme, deshalb hat er eine Absage bekommen. Auch er kann nicht an Kunst denken, auf seinem Handy scrollt er eine Kriegsmeldung nach der anderen durch. „Ich verspüre nur Zorn. Großen Zorn. Ich will nur noch schießen.“

 

Den ersten Teil dieser Geschichte finden Sie hier: https://www.cicero.de/aussenpolitik/ukraine-vaterlandischer-krieg-schuld-westen

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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