Russische Truppen an der Grenze zur Ukraine - Der On-Off-Krieg

Hunderte Verstöße gegen die Waffenruhe, russische Truppenbewegungen im Grenzgebiet zur Ukraine und auf der annektierten Krim: Die Lage in der Ukraine droht, wieder zu eskalieren.

Ukrainische Soldaten reagieren auf russische Truppenbewegungen im Grenzgebiet / dpa
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Autoreninfo

Simone Brunner lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien. Sie hat in Sankt Petersburg und in Wien Slawistik und Germanistik studiert und arbeitet seit 2009 als Journalistin mit Fokus auf Osteuropa-Themen.

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Es sind Bilder, die böse Erinnerungen wachrufen: Schwere Geschütze, Kolonnen an Panzer und Militärfahrzeuge auf dem Weg in das russisch-ukrainische Grenzgebiet. Sogar die 76. Luftlandedivision aus Nordrussland soll auf dem Weg auf die russisch annektierte Halbinsel Krim sein. Eine Elite-Einheit, die schon im Jahr 2014 in der Ostukraine im Einsatz war, als der Krieg im Donbass losbrach und die damals in ihrer nordrussischen Heimatstadt Pskow, 1500 Kilometer von der Front entfernt, für Aufsehen sorgte, als dort plötzlich still und heimlich einige Soldaten zu Grabe getragen werden mussten.

Alles nur eine Übung?

Es ist ein mehr schlecht als recht verdeckter Krieg, den Moskau seit 2014 in der Ukraine führt, dem Jahr der russischen Krim-Annexion und dem Kriegsausbruch im Donbass, als pro-russische Separatisten, mit maßgeblicher Schützenhilfe aus Russland, gegen die Ukraine in den Krieg zogen. Kein Wunder also, dass dieser Tage wieder die Alarmglocken schrillen. Seit Wochen rüstet das russische Militär auf der annektierten Halbinsel Krim und im ukrainisch-russischen Grenzgebiet auf. Wie Aufnahmen zeigen, mit überklebten Nummerntafeln oder notdürftig abgedeckter Artillerie. „Eine ähnliche Konzentration der russischen Kräfte an der Grenze zur Ukraine haben wir seit 2014/2015 nicht mehr gesehen“, schreibt das Conflict Intelligence Team, das Open Data analysiert. 

13.000 Todesopfer hat der Krieg im Donbass, der bald in sein achtes Jahr geht, laut UN-Angaben bisher gefordert. Zugleich ist der Krieg fast vollständig aus der öffentlichen europäischen Wahrnehmung verschwunden. Zur Rolle als Kriegspartei bekennt sich der Kreml, jeder Logik, allen Recherchen und den Nachforschungen wie etwa des 350-köpfigen internationalen Ermittlerteams zum Abschuss der Passagiermaschine MH17 zum Trotz, bis heute nicht. Moskau beschwichtigt auch diesmal: Alles nur eine Übung. Doch die große Militärübung „Sapad“ (Westen), die Russland mit Belarus gemeinsam ausrichtet, ist eigentlich erst für September geplant.   

Eigentlich herrscht Waffenruhe

Seit Sommer 2020 gilt im Donbass eigentlich eine Waffenruhe. Die erste seit Kriegsausbruch, die zumindest dafür gesorgt hat, dass die Kämpfe zwischen den pro-russischen Separatisten und dem ukrainischen Militär zwar nicht vollständig beendet, aber zumindest stark eingedämmt wurden.

Doch seit einigen Wochen schwellen die Kämpfe an der Frontlinie, die sich 450 Kilometer durch den Donbass zieht und teilweise durch bewohntes Gebiet verläuft, wieder an. Die Beobachter der OSZE-Sondermission dokumentierten dieser Tage fast 1500 Verstöße gegen die Waffenruhe pro Tag, auch mit schweren Waffen, zehn Mal mehr, als zuletzt üblich. Vier ukrainische Soldaten sind diese Woche schon bei Kämpfen gestorben.

Was für ein Timing 

Warum eskaliert die Lage ausgerechnet jetzt? Von einer „Krise im Verhandlungsprozess“, dem so genannten Normandie-Format, dem neben der Ukraine und Russland noch Deutschland und Frankreich als Vermittler angehören, spricht der Kiewer Politologe Wolodymyr Fesenko gegenüber Cicero Online. „Russland ist unzufrieden, dass sich der ukrainische Präsident Selenskyj geweigert hat, direkte Verhandlungen mit den pro-russischen Separatisten zu ermöglichen.“ 

Kiew sieht darin den Versuch, die Separatisten zu legitimieren und Russland aus der Verantwortung für die Lage in der Ostukraine zu nehmen. Die Eskalation sei ein Versuch, seine Bedingungen im Normandie-Format zu diktieren, glaubt Fesenko. Und die pro-russischen Separatisten? Machen die ukrainischen Regierungstruppen für die Eskalation verantwortlich. Doch selbst die Information, zuletzt sei ein fünfjähriger Bub von einer ukrainischen Drohne getötet worden, entpuppte sich als Fake.  

Von einem „Signal gegenüber der Ukraine und dem Westen“ spricht der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in einem Interview gegenüber der französischen Tageszeitung Libération. „Einerseits ist das ein Signal an die Ukraine und ein Versuch, uns einzuschüchtern und gefügiger bei den Verhandlungen zu machen. Andererseits nutzt Russland diese Eskalation als eine Möglichkeit, seine Position im Normandie-Format zu stärken“, so Kuleba. 

Die wahren Gründe kennt nur Putin 

Eskalieren, um dann selbst zu de-eskalieren – es ist eine Taktik, die Moskau immer wieder bei Krisen anwendet. Doch denkbar sind auch noch andere Faktoren: Die erst unlängst in Kiew beschlossenen Maßnahmen gegen den Putin-nahen ukrainischen Oligarchen Wiktor Medwedtschuk, der drei pro-russische Fernsehsender kontrolliert und Wladimir Putin nahe steht, der russische Präsident ist der Taufpate seiner Tochter.

„Außerdem sind die Spannungen im Konflikt im Donbass wohl auch ein politischer Test für den neuen US-Präsidenten Joe Biden“, sagt Fesenko. Oder der Versuch, vor den russischen Dumawahlen im Herbst – die Kreml-Partei Einiges Russland kämpft mit schlechten Umfragewerten – außenpolitisch zu punkten? Oder ein Vorwand, um so genannte „Friedenstruppen“ im Donbass dauerhaft zu stationieren und das Gebiet, das ohnehin unter Moskaus Kontrolle gibt, noch mehr einzuverleiben? 

Die wahren Gründe kennt wohl nur Wladimir Putin selbst. Aber sie zeigen einmal mehr, worum es Moskau in der Ostukraine geht: Nicht etwa darum, den Konflikt zu lösen und die Region zu befrieden, sondern je nach Bedarf für seine eigenen Ziele zu instrumentalisieren, sei es für seine Politik nach außen oder innen. Als „außenpolitisches Asset“ bezeichnet den Krieg der Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). Ein schlummernder Konflikt, der zwar nie vollständig schläft, aber immer wieder aktiviert werden kann. Ein On-Off-Krieg.

Die große Eskalation bleibt aus 

Kommt es zu einer großen Eskalation? Daran glaubt der Kiewer Politologe Wolodymyr Fesenko dennoch nicht. „Ähnliches (Kämpfe und Truppenbewegungen, Anm.) haben wir auch früher immer wieder gesehen“, sagt er Cicero Online. „Aber eines ist offensichtlich: Die diplomatischen Bemühungen müssen erhöht werden, um eine mögliche Eskalation des Konfliktes in der Ostukraine zu verhindern.“

Er glaubt, eine große Eskalation, die neue westliche Sanktionen nach sich ziehen würde und vielleicht auch Nord Stream gefährde, sei nicht in Russlands Interesse. Doch bei Putin weiß man nie. Die EU und die Länder des Westens wären gut dabei beraten, Moskau so klar wie möglich zu machen, welchen hohen Preis eine Eskalation hätte, bevor es zu spät ist und Russland wieder mit Waffengewalt neue Fakten auf europäischem Boden schafft. 

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