Ukraine-Krieg - … Russiam delendam esse?

Westliche Publizisten spekulieren offen über einen Zerfall Russlands in Folge des Ukraine-Kriegs. Aber was würde das eigentlich bedeuten? Und haben Europäer und Amerikaner die gleichen Interessen?

Überreste eines zerstörten russischen Militärfahrzeugs im südukrainischen Gebiet Cherson im November 2022 / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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In den USA wird nicht um den heißen Brei herumgeredet: „Vorbereitung auf die endgültige Zerstörung der Sowjetunion und die Auflösung der Russischen Föderation.“ So ist ein Thesenpapier von Luke Coffey überschrieben, Analyst für internationale Beziehungen in der konservativen Washingtoner Denkfabrik Hudson Institute. Der Titel passt zur Denkweise in konservativen Kreisen diesseits und jenseits des Atlantiks: Der Zerfall der russischen Föderation ist als Folge des Ukraine-Kriegs wahrscheinlich, wünschenswert und Schlusspunkt einer historischen Entwicklung, die 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion nur ihren Anfang genommen hat.

Aber auch in Europa wird darüber inzwischen offen diskutiert: „Russlands unausweichlichen Kollaps“ beschreiben vor einigen Wochen die ehemalige polnische Außenministerin Anna Fotyga von der Kaczynski-Partei PiS und Batu Kutelia, ehemals stellvertretender Sekretär des georgischen Nationalen Sicherheitsrats, in einem gemeinsamen Beitrag auf Euractiv. Auch in Frankreich befasste sich vor einigen Tagen die Denkfabrik „Institut Montaigne“ mit „The Fall of Russia“. Gemeinsam haben die meisten Texte, dass sie davon ausgehen, dass die Belastungen durch den Ukraine-Krieg früher oder später den Zusammenbruch des Putin-Regimes und die Auflösung des russischen Staates zur Folge haben werden.

Gefahr einer Auflösung ist real

Die Möglichkeit einer Desintegration des russischen Staats und bürgerkriegsähnlicher Zustände ist mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs tatsächlich gewachsen: Russland ist durch die in der Nachkriegsgeschichte beispiellosen Sanktionen und die gleichzeitig sehr hohen Ausgaben für den Krieg in der Ukraine – mit etwa 90 Milliarden US-Dollar gibt Russland 2022 fast fünf Prozent seines BIP für Rüstung aus – wirtschaftlich geschwächt. Politisch hat Putin mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs alles auf eine Karte gesetzt: Schon das Scheitern des Plans, Kiew im Handstreich zu erobern, war eine Niederlage. Zehntausende Tote in einem bald zehnmonatigen Krieg werden an der russischen Gesellschaft nicht spurlos vorbeigehen. Zur Erinnerung: Der Afghanistan-Krieg (1979-1989), der insgesamt knapp 15.000 sowjetische Soldaten das Leben kostete, trug maßgeblich zum Untergang der Sowjetunion bei. Nicht zu vergessen ist zudem, dass mit dem Ukraine-Krieg hunderttausende Männer, meist aus provinziellen Regionen, derzeit Kampferfahrung sammeln – und damit in ihre Heimatregionen zurückkehren. Auch private Militärunternehmen wie die berüchtigte Wagner-Truppe stellen das staatliche Gewaltmonopol in Frage. Das erhöht im Falle einer politischen und wirtschaftlichen Krise das Risiko von Gewaltausbrüchen.

Dass eine Desintegration Russlands als Folge des Ukraine-Kriegs aus amerikanischer Perspektive wünschenswert ist, erklärt Hudson-Analyst Coffey aus einer geostrategischen Perspektive: „Der Erfolg der Ukraine auf dem Schlachtfeld gegen Russland könnte eine einmalige Möglichkeit bieten, um Russland für eine Generation in seine geopolitische Kiste zurückzustecken.“ Dieser Logik folgen auch die Texte georgischer oder polnischer Experten: Ein Zusammenbruch Russlands reduziert die Bedrohung durch den direkten und militärisch überlegenen Nachbarn. Die Argumentation ist jedoch fast deckungsgleich mit der russischen Propaganda, wo der Ukraine-Krieg als Verteidigungskrieg gegen die angelsächsische Dominanz auf dem europäischen Kontinent dargestellt wird, als Kampf gegen den Erzfeind USA, der nur davon träume, Russland zu zerschlagen.

Ist ein Staatszerfall wünschenswert?

Doch wenn es um die Folgen eines Staatszerfalls östlich von Polen geht, unterscheidet sich die amerikanische und die europäische Perspektive massiv: Schon der Zerfall des vergleichsweise kleinen Jugoslawiens führte zu massiven Flüchtlingsströmen – von denen eben die europäischen Nachbarn betroffen waren, nicht aber das jenseits des Atlantiks liegende Amerika. Dasselbe gilt im übrigen für die Kriege in Syrien, im Irak und in Afghanistan.

Verschiedene Kommentatoren knüpfen in ihrer Argumentation an die aus Kalter-Kriegs-Rhetorik bekannte Erzählung des „Völkergefängnisses“ an – übertragen vom Zarenreich und später der Sowjetunion auf das heutige Russland. Aber sind Tataren, Jakuten, Burjaten und Angehörige der nordkaukasischen Völker gefangen in Russland und warten nur auf einen Moment der Schwäche, um sich zu befreien? In Prag versammelten sich im Juli Vertreter nationaler Minderheiten Russlands, die sich „Free Nations of Russia" nannten, und veröffentlichen eine Karte, auf der Russland aus 34 Einzelstaaten besteht. Der Begriff des Staatszerfalls wird hier durch jenen der „Dekolonisierung“ Russlands aufgehübscht. 

Am stärksten sind Sezessionstendenzen im Nordkaukasus, wo Russland in zwei blutigen Kriegen nach dem Ende der Sowjetunion den Traum der Tschetschenen von einer unabhängigen Republik zerschlagen hat. In dieser Region ist der Anteil der ethnisch russischen Bevölkerung einstellig, dominiert werden sie von kaukasischen, meist muslimischen Völkern. Gleichzeitig werden gerade diese Regionen von Moskau „gefüttert“: Sie haben ein sehr hohes Bevölkerungswachstum, sind aber ökonomisch schwach und wären wohl unabhängig von Moskau kaum lebensfähig.

Zugleich will man sich kaum vorstellen, zu welchen Konflikten „Befreiungskriege“ hier führen würden: Nach der Auflösung der Sowjetunion kam es in Tschetschenien zu Plünderungen, Gewalt und Morden an ethnischen Russen. Die meisten von ihnen flohen schließlich aus dem Land. Auch unter den nordkaukasischen Völkern gibt es Konflikte, etwa im Fall der christlichen Osseten und muslimischen Inguscheten auf religiöser Ebene. Andere „Republiken“ wie Dagestan sind ein kaum aufzulösendes Völkergemisch.

Naive Vorstellungen

Aus amerikanischer Perspektive heißt es dazu, etwa bei Luke Coffey: „Es ist im Interesse Amerikas, dass Kämpfe und Konflikte innerhalb der heutigen Grenzen der Russischen Föderation bleiben und keine benachbarten Länder beeinflussen.“ Diese Vorstellung ist allerdings hochgradig naiv: Schon der jetzige russische Krieg gegen die Ukraine hat – obwohl auf russischem Territorium nicht gekämpft wird – eine Fluchtbewegung von Hunderttausenden Menschen aus Russland ausgelöst. An Russland direkt angrenzende Staaten wie Georgien oder Kasachstan, aber natürlich auch die EU werden bei einem Zerfall Russlands und Bürgerkriegen in mehreren Regionen massiv Folgen zu spüren bekommen.

Im Falle der zentralasiatischen Staaten kommt hinzu, dass Millionen Gastarbeiter in Russland arbeiten. Ein russischer wirtschaftlicher Zusammenbruch würde die sozio-ökonomische Lage in diesen Ländern drastisch verschlechtern. Vorstellbar ist auch, dass die usbekischen und tadschikischen Gastarbeiter versuchen würden, Richtung Westeuropa weiterzuziehen.

Relativ blank sind die Analysten, die vom russischen Staatszerfall träumen, bei der Frage, was in diesem Fall mit dem riesigen Arsenal an konventionellen, aber insbesondere Atom-, Chemie- und biologischen Waffen passieren wird, über das Russland verfügt. Wer glaubt, man könnte dem Waffenschmuggel durch Kontrollen an den Grenzen Einhalt gebieten, kennt die über 22.000 Kilometer Landesgrenzen der Russischen Föderation schlecht.

Ein jahrzehntealter Disput

Mit der Diskussion über den russischen Staatszerfall kehrt man wieder zu einem westlichen Disput zurück, der Anfang der 90er-Jahre zwischen Dick Cheney und George Bush geführt wurde: Cheney, damals Verteidigungsminister, plädierte für einen schnellen Zerfall der Sowjetunion, Präsident Bush wollte diesen zumindest nicht befördern, weil er sich Sorgen um den Verbleib insbesondere der Atomwaffen machte.

Zu jenen, die vor einer Auflösung des russischen Staates warnen, gehört der ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger: Im Spectator gab er vor kurzem zu bedenken, dass die nuklearen Fähigkeiten Russlands auch bei einer Schwächung seiner konventionellen militärischen Möglichkeiten bestehen blieben, zum anderen würde ein Zerfall das russische Territorium zu einem „umstrittenen Vakuum“ machen, auf das auch Nachbarstaaten Anspruch erheben könnten.

Aus europäischer Perspektive erscheint eine Entwicklung wünschenswert, die Marlene Laruelle vor kurzem in Foreign Affairs skizziert hat: eine „Reföderalisierung“ Russlands. Gemeint ist, dass das Land zu der in seiner nach 1991 in der Konstitution festgeschriebenen föderalen Verfasstheit zurückkehrt, die von Putin nach seinem Machtantritt Schritt für Schritt ausgehöhlt wurde. Zwar heißen 22 der 85 Regionen „Republiken“, in denen es Verfassungen und zum Teil eigene Präsidenten gibt. De facto ist Russland heute jedoch ein hochgradig zentralisierter Staat. Putin setzt Gouverneure ein und entlässt sie. Der Kreml lenkt die Geldströme, was die Loyalität der Eliten in den Regionen sicherstellt: Wer sich gegen Putin stellt, bekommt kein Geld mehr aus dem Zentrum.

Eine Föderalisierung und damit einhergehend eine Dezentralisierung der Macht, so die Idee, würde zwar den Vielvölkerstaat Russland an sich und auch seinen Status einer Regionalmacht erhalten, ihn jedoch von seinem imperialen Drang befreien, der nun mit dem Krieg gegen die Ukraine in aller Brutalität zum Ausdruck gekommen ist. Den Kritiken, die nun einwerfen, dass der Vielvölkerstaat Russland ohne den imperialen Gedanken nicht existieren kann, weil er das ist, was das Land zusammenhält, sei gesagt: Ob es uns gefällt oder nicht – über die Frage, ob dieses Land weiter in dieser Form existieren wird, müssen seine Bewohner am Ende selbst bestimmen.

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