Ukraine-Krieg - Der Blutzoll der Burjaten

Burjatien – kaum ein Westeuropäer kennt diese russische Region in Fernost, die an die Mongolei grenzt. Dabei sind es vor allem Burjaten, die in der Ukraine an die vorderste Front geschickt werden und dort hohe Verluste erleiden. Auch wenn die Unterstützung für den Krieg nach wie vor groß ist, macht sich dort langsam Unmut breit.

Trauer am „Tag des Sieges“: Eine Mutter und ihre Tochter weinen in Ulan-Ude um ihren gefallenen Sohn / 09.05.2022, dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Die deutsche Perspektive auf Russland ist insbesondere durch Moskau und St.-Petersburg geprägt. Das erstaunt wenig  – schließlich sind sie die Zentren der russischen Staatsmacht, in die die meisten Gelder fließen. Auf den Schlachtfeldern in der Ukraine werden aber fast gar keine Soldaten aus den „zwei Hauptstädten“ eingesetzt.

Es sterben vor allem junge Männer aus armen Regionen, für die die Karriere als Berufssoldat einer der wenigen Wege zum sozialen Aufstieg ist. Wie etwa aus Burjatien, das eine der am stärksten abgehängten Regionen ist. Von den 85 russischen Regionen belegt es den 81. Platz, was das Wohlstandsniveau angeht. Zwanzig Prozent der Burjaten leben unter der Armutsgrenze. 

Es ist deswegen kein Zufall, dass es oft Burjaten sind, die sich an Plünderungsaktionen in der Ukraine beteiligen: Wer noch nie eine Waschmaschine oder eine Toilettenschüssel bei sich zuhause hatte, der wird sich wenigstens darum bemühen, eine im Krieg zu erbeuten.

„Aus Moskau oder St.-Petersburg stirbt kaum jemand in der Ukraine“

Die soziologischen Ursachen der hohen Verluste bringt die burjatische Journalistin Alexandra Garmazhapova gut auf den Punkt:

„Burjatien ist eine sehr arme Region. Die Männer haben im Prinzip zwei Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Entweder, indem sie im Schichtdienst nach Norden gehen, oder indem sie den Vertragsdienst in der Armee antreten. Wenn wir uns die Sterbestatistiken für Burjaten in der Ukraine ansehen, sehen wir, dass alle von ihnen in der Spalte ‚Geburtsort‘ Dörfer angegeben haben. Das heißt, das sind Leute aus der Provinz, die, wie sie meinen,  sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen wollen. Viele unterzeichneten Verträge, weil dies die einzige Chance war, eine Wohnung zu bekommen. … Es sterben die Söhne der ärmsten Regionen. Kaum jemand aus Moskau oder St. Petersburg. Das bedeutet, dass der Lebensstandard in diesen Regionen so niedrig ist, dass die Menschen solche ‚Jobs‘ zwangsläufig annehmen müssen.“

Ein hoher Blutzoll

Dazu kommt die Problematik, dass der russische Ethnonationalismus zutiefst moskau-zentriert ist: Wer aus der Peripherie des Imperiums kommt, gilt in Russland als Mensch zweiter Klasse. Und nichtrussische Sprachen wie etwa Tatarisch, Kalmückisch oder Burjatisch wurden vom Lehrplan der staatlichen Schulen in den jeweiligen Regionen entfernt. 

Stattdessen wird den ethnischen Minderheiten der soziale Aufstieg durch Assimilation versprochen. Deshalb erhoffen sich viele Burjaten, durch ihren Blutzoll an der Front Teil der „russischen Nation“ zu werden. Eine fatale Illusion, wie  Alexandra Garmazhapova zu berichten weiß, die im Prager Exil die Antikriegsstiftung „Free Buryatia“ gegründet hat. In ihren Worten:

„Ich kenne keinen Burjaten, der in St. Petersburg oder Moskau Sätze wie ‚Geh zurück nach China‘ oder ‚Jetzt sind auch noch die Schlitzaugen hergekommen‘ noch nie gehört hat. Vielleicht ist ein psychologischer Faktor im Spiel. Die Burjaten glauben, dass sie sich durch ihre Teilnahme am Krieg zu Russen ‚erheben‘ können. Sie sind dazu bereit, ihre Diskriminierungserfahrungen zu vergessen, damit die Russen sie im Kampf gegen die ‚bösen Ukrainer‘ als Gleichberechtigte anerkennen. Anders kann ich es mir nicht erklären.“

Bewältigung durch Verdrängung

Alexandra Garmazhapovas Mutmaßung teilen auch andere Korrespondenten aus der Region. Vor drei Wochen sprachen die Lokaljournalistinnen Elena Trifonova, Olga Mutovina und Karina Pronina im Podcast des lettischen Online-Portals Meduza über die Situation in Burjatien. 

Wie sie berichten, kommt ein weiterer relevanter psychologischer Aspekt hinzu: Und zwar der extrem schwer zu gehende Schritt, sich einzugestehen, dass das eigene Kind umsonst gestorben ist. Viele Eltern reden sich ein, ihr Sohn sei als Held im Kampf gegen die „Kiewer Faschisten“ gestorben. Kaum einer will sich der schrecklichen Erkenntnis stellen, dass es ein kolossaler Fehler war, das eigene Kind ins Gefecht zu schicken. 

Dabei hat Burjatien mit Putins Vision der „russischen Welt“ kulturell am allerwenigsten zu tun. Auch wenn es – zusammen mit dem kaukasischen Dagestan und den zwangseingezogenen Soldaten aus den ukrainischen Donbass-„Volksrepubliken“ – prozentual die höchsten Verluste verzeichnet.

Das burjatische Volk blutet aus

Garmazhapova zufolge wurden Burjaten schon 2014/15 vonseiten Russlands verdeckt im Donbass-Krieg eingesetzt. Eine Verbesserung ihrer sozialen Situation in Russland hatte das nicht zur Folge. Ganz im Gegenteil: Der soziale Aufstieg blieb aus, während die Burjaten in der Ukraine schnell den Ruf erwarben, Putins Fußsoldaten zu sein: Die „Kampfburjaten“ wurden zum ukrainischen Internet-Meme. Sie sind schließlich überproportional in der Infanterie und den mechanisierten Brigaden vertreten, während in den russischen Seestreitkräften, der russischen Luftwaffe und Artillerie eher ethnische Russen dienen.

Dabei umfasst das gesamte burjatische Volk – von dem auch viele Angehörige in anderen russischen Regionen leben – nicht einmal 500.000 Menschen. Und es stellt in Burjatien selbst nur noch die Minderheit der Bevölkerung, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl ethnisch russisch dominiert ist. Hohe Verluste machen sich also weitaus stärker in der Statistik bemerkbar als in anderen Volksgruppen.

Fast jede Familie in Burjatien kennt jemanden, der im Einsatz ist, der verwundet oder getötet wurde, stellt Garmazhapova fest: 

„Unsere Analystin Maria Vyushkova ist der Ansicht, dass wir, was den prozentualen Anteil der burjatischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung betrifft, in dieser traurigen Sterbestatistik ganz vorne liegen.“

Man will nicht mehr ein Mensch zweiter Klasse sein

Als der Schamane Alexander Gabyschew durch die Lande zog, um den „Dämonen Putin“ aus dem Kreml zu vertreiben, erfuhr er in Burjatien breite Unterstützung. Aber er wurde schnell zu einem Psychiatrieaufenthalt verurteilt und ist seither nicht mehr in der Öffentlichkeit zu sehen. Genauso wie er müssen all jene mit Repressionen rechnen, die auch nur im Geringsten des „Separatismus“ verdächtigt werden. Man erinnerte sich kaum mehr an Gabyschew, als der Ukraine-Krieg ausbrach und die Kriegseuphorie bis Burjatien vordrang.

Der Kriegsenthusiasmus der Anfangsphase wurde aber durch einen Eklat getrübt, den der Pressesprecher des Operntheaters in der burjatischen Hauptstadt Ulan-Ude verursacht hatte. In einer Sitzung des Theaters prangerte er vor russischen Kulturschaffenden offen den Rassismus Moskaus an: „Am Ewigen Feuer halten schöne blauäugige Russen Wache. Aber wenn es ums Sterben geht, dann sind wir dafür zuständig.“ Sein Mikrofon wurde sofort abgeschaltet und er wurde als „Verräter“ diffamiert. Trotzdem hinterließ sein Statement einen bleibenden Eindruck.

„Ich bin gegen den Krieg“

„Die Burjaten bereiten sich darauf vor, die Russische Föderation zu verlassen. Die Ukraine hat den Gefangenen des Völkergefängnisses eine Chance auf Freiheit gegeben“, heißt ein YouTube-Video, das innerhalb der letzten vier Tage schon mehr als 300.000 Aufrufe gesammelt hat. Darin ist eine Straßenumfrage in Burjatien über die hohen Verluste im Krieg zu sehen.

Ein junger Mann erklärt sich darin die hohen burjatischen Verluste mit dem asiatischen Aussehen der Soldaten: „Die Russen und Ukrainer sehen doch alle gleich aus. Aber die Burjaten erkennt man sofort. Bumm – und das war’s.“ Eine ältere Dame beklagt sich darüber, dass die Soldaten der ersten Kriegsphase schlecht ausgebildet gewesen seien und als Kanonenfutter an die Front geschickt wurden. Erst später habe man sich dazu entschieden, die Afghanistan- und Tschetschenienveteranen an die Front zu schicken.

Eine andere erinnert sich, dass die Burjaten als erste die russisch-ukrainische Grenze überschritten hätten und fest damit rechneten, bald eine Siegesparade in Kiew veranstalten zu können: „Das hat leider nicht geklappt. Unsere Jungs, die Wehrpflichtigen, haben so einen Widerstand nicht erwartet.“ Und eine jüngere Frau zieht den Vergleich zu Moskau und St.-Petersburg: „Die Elitetruppen, die sich in Moskau und St.-Petersburg befinden, sind noch in der Reserve. Erst einmal sind die Kräfte aus der Provinz im Einsatz.“ Damit dürften die Truppen aus Burjatien gemeint sein.

Was aus den Videos herausgeschnitten wurde: Von denjenigen, die für die Straßenumfrage gefilmt wurden, unterstützen vor allem ältere Menschen den Krieg gegen die Ukraine („die Nazis gehören zerschlagen“) – und sie geben in der traditionell buddhistisch geprägten burjatischen Gesellschaft den Ton an. Die Jugend weicht entweder der Frage nach ihrer Meinung aus („mir fehlt die Kompetenz, um diese Frage zu beantworten“), sie überfärbt sie religiös („wir sind Buddhisten, wir glauben an die Reinkarnation“) oder sie stellt sich sogar offen gegen den Krieg („es ist schlimm, dass unsere burjatischen Jungs sterben“, „ich bin gegen den Krieg“). 

Die Videokampagnen von „Free Buryatia“

Bislang beschränkt sich der Protest eher auf die digitale Sphäre; auf der Straße geht kaum mehr jemand demonstrieren. Aber auch der wenige digitale Widerstand sollte nicht unterschätzt werden. Alexandra Garmazhapovas Aktion „Free Buryatia“ beispielsweise begann ursprünglich mit einem Zoom-Meeting von zehn Personen, die in den USA, Finnland, der Tschechischen Republik und im Vereinigten Königreich leben. Sie waren es, die im Video „Burjaten gegen den Krieg“ aufgetreten sind.

Garmazhapova erinnert sich gut an die Vorbereitungsphase für das Video:

„Zuerst mussten wir persönlich auf dem Video zu sehen sein, damit wir nicht wie Kunstfiguren aussahen. Zweitens mussten wir den Satz ‚Ich bin ein Burjate‘ oder ‚Ich komme aus Burjatien‘ sagen. Und drittens mussten sie sagen: ‚Ich bin gegen den Krieg‘. Wir haben sofort beschlossen, dass wir keine zahnlosen Phrasen wie ‚Ich bin für Frieden auf der ganzen Welt‘ oder ‚Ich bin gegen die Spezialoperation‘ brauchen. Wir mussten den Krieg einen Krieg nennen – das war die Hauptforderung.“

Rechtsbeistand, Sozialforschung, Sanktionsforderungen

Gleichzeitig bemüht sich Garmazhapova um Rechtshilfe für die Mütter, Ehefrauen und Schwestern burjatischer Vertragssoldaten, die um Rat fragen. Dabei haben sie verschiedene Anliegen – Garmazhapova nennt darunter folgende:

„‚Mein Sohn will zum Beispiel keinen Vertrag unterschreiben. Wie kann er das ablehnen? Kann er es tun, wenn er bereits in der Ukraine ist? Würde man das als Fahnenflucht ansehen?‘ Dann begannen wir mit der aktiven Suche nach Anwälten, die sich mit Militärrecht auskennen, und wir fanden mehrere davon.“

Der Hintergrund: Solange in Russland keine Generalmobilmachung gilt, ist es formal möglich, den Vertrag zum Kriegseinsatz in die Ukraine nicht zu unterzeichnen oder ihn mitten im Einsatz aufzukündigen, ohne dass das als Fahnenflucht gelten würde. Trotzdem trauen sich bislang nur sehr wenige zu diesem Schritt, weil er eine zukünftige Karriere im russischen Staat oder Militär quasi unmöglich macht. Zudem kennt kaum einer der Soldaten seine Rechte.

Ein weiterer Bereich ihrer Organisation ist die Sozialforschung. Sie berichtet:

„Wir bereiten einen Bericht über Verluste unter ethnischen Minderheiten in der Ukraine vor. Deshalb müssen wir eine klare Statistik führen. Wir gleichen unsere Daten mit dem Material von Menschenrechtsaktivisten und investigativen Journalisten ab. Wir wollen zum Beispiel verstehen, was in Butscha passiert ist, denn über kremlnahe Telegrafenkanäle wurde die Information verbreitet, dass die russischen Slawen nicht so brutal mit den ukrainischen Slawen hätten umgehen können. Und hier hat uns Arestovitsch (ein Berater Selenskyjs, Anm. d. Red.) ein wenig geholfen, als er sagte, dass auch Soldaten mit slawischen Wurzeln dort sehr brutal vorgegangen sind.

Wir sagen nicht: Lasst uns alles auf die Slawen schieben. Aber wir wollen das vom Kreml verbreitete Narrativ zurückschlagen. Und wir wollen einen vollständigen Bericht über die Verluste erstellen, den wir über die Medien verbreiten und internationalen Gremien vorlegen können. Wir glauben, dass Russland nicht nur die Ukrainer ausrottet, sondern auch seine eigene Bevölkerung. Wir wollen diese Opfer zeigen. Wenn wir hören, dass ein Burjate gestorben ist oder zwei getötet wurden, dann ergibt diese Information kein Gesamtbild. Aber wenn es Hunderte von Menschen sind, ist es etwas ganz anderes. Das ist so, als ob es im Zentrum von Ulan-Ude einen Terroranschlag gegeben hätte und einhundert Menschen gestorben wären. Die Reaktion darauf wäre wahrscheinlich erschütternd. Und ich denke, wir sollten diese Reaktion hervorrufen.“

Außerdem setzt sich ihre spendenfinanzierte Organisation für Sanktionen gegen die politische Führung Burjatiens ein:

„Wir sind für Sanktionen gegen die Führung Burjatiens. Wir glauben, dass sie direkt für das Geschehen verantwortlich ist. Das Oberhaupt der Republik hat die Aufgabe, seine Bürger zu schützen. Alexej Tsydenov erfüllt diese Funktion eindeutig nicht. Im Gegenteil, er ermutigt die Menschen zum Sterben. Er ist daher direkt für diese Tragödie verantwortlich. Deshalb stellen wir jetzt Sanktionslisten zusammen, die auch internationalen Gremien vorgelegt werden.“

Garmazhapova erhält durchweg positive Rückmeldungen

Garmazhapova findet in Burjatien immer mehr Gehör. Wie sie im Interview berichtet, erhält sie täglich positive Nachrichten von Burjaten, die sich nicht mehr allein fühlen:

„Nachdem wir die Stiftung eingerichtet hatten, kamen viele Burjaten zu uns. Ich erhalte täglich Nachrichten von ihnen, und ich habe noch nie eine schlechte gesehen. Die Leute schreiben: ‚Ich dachte, ich wäre allein, ich habe es so satt, diese Z’s um mich herum zu sehen. Danke, dass Sie sagen, was ich denke.‘ Normale Menschen haben das Gefühl, dass es nicht genug von ihnen gibt, weil sie verstreut sind. Aber das ist nicht wirklich der Fall.

Innerhalb von zwei Wochen habe ich 250 Menschen aus Burjatien mehr als Abonnenten auf meinem Instagram-Account gehabt. Das ist ein natürliches Wachstum, und ich verstehe, warum es so ist. Wir bieten auch psychologische Unterstützung für Menschen an, die diesen Krieg verurteilen, damit sie sich nicht als Verräter fühlen. Das bedeutet, dass wir neben den drei Arbeitsbereichen noch zwei weitere, sehr wichtige Funktionen haben, nämlich zu vereinen und zu unterstützen.“

Die nationalistische Opposition in Russland interessiert sich kaum für die Regionen

Russische Demografie-Forscher haben errechnet, dass die Sterblichkeit der Burjaten innerhalb der ersten 53 Kriegstage extrem gestiegen ist: Was die Männer zwischen 18 und 30 Jahren betrifft, ist sie um den Faktor 3,7 gestiegen. Die nationalistische russische Opposition – die sich um derart prominente Figuren versammelt wie Alexej Nawalny, Michail Chodorkowski, Leonid Volkov oder Oleg Kaschin – scheint sich dafür nicht zu interessieren. Oleg Kaschin beispielsweise sucht die Schuld am Krieg bei den Tschetschenen oder den Armeniern, während Nawalnys populistischer Ansatz vor allem in der Skandalisierung von Korruptionsfällen besteht.

Die imperiale Agenda Putins spielte in Nawalnys letzter Rede vor Gericht überhaupt keine Rolle, was die regional verwurzelte Opposition wenig überrascht hat: Schließlich war Nawalny schon lange vor seiner Verhaftung mit fremdenfeindlichen Äußerungen aufgefallen. Und er posierte prominent auf den „Russischen Märschen“, die insbesondere von russischen Monarchisten und Ethno-Chauvinisten besucht werden.

Alle Macht den Regionen?

Während Garmazhapova für ein freies und demokratisches Burjatien im Rahmen der Russischen Föderation eintritt, äußern User der Facebook-Gruppe „Unser Haus Burjatien“ bereits den Wunsch nach einer nationalen Selbstbestimmung außerhalb der Russischen Föderation. Das heißt: Die ersten russischen Oppositionellen machen sich bereits darüber Gedanken, ob es nicht besser wäre, wenn die Russische Föderation in mehrere Staaten zerfallen würde. Alexander Etkind beispielsweise publizierte einen Essay, in dem er dieses Szenario meint vorhersagen zu können. Auch der prominente Historiker Kamil Galeev hält das für möglich – wenngleich er davon überzeugt ist, dass nur eine Soldatenrevolution in Moskau einen Machtwechsel herbeiführen kann. 

Doch auch bei Befürwortern einer radikalen Regionalisierung der Russischen Föderation stößt die Idee eines Zerfalls Russlands auf Bedenken. Sie ruft die Angst vor blutigem Chaos oder sogar vor einem noch aggressiveren Zentralstaat wach, der sich schneller als alle regionalistischen Bewegungen organisieren könnte. Der Telegram-Kanal „Tozhe Rossiyane“ („Ebenfalls russische Staatsbürger“) beispielsweise kommentiert Etkinds Essay am 24. April mit den folgenden Worten:

„Ich persönlich finde diese Aussicht beängstigend. Nicht, weil ich Angst davor habe, über Veränderungen nachzudenken. Und nicht, weil Russland als solches irgendeinen Wert hat. Der Grund für meine Befürchtungen ist eher, dass der Zerfallsprozess nicht schmerzlos und unblutig verlaufen kann (die Struktur der Staatsmacht und vor allem des Kapitals ist nicht mit der der späten UdSSR vergleichbar). Dies gilt umso mehr, als es keine regionalen Eliten gibt (es gibt nur Handlanger des Kremls), kein nennenswertes lokales Kapital und keine größeren regionalen Basisbewegungen. Die Politik wurde zu gründlich gesäubert, die lokalen Behörden wurden bestochen und unterworfen, Kapitalien wurden beschlagnahmt und absorbiert (der letzte wirklich große regionale Wirtschaftsfaktor Tatarstan TAIF wurde letzten Herbst von SIBUR übernommen und vor 4 Tagen von TAIF in SIBUR RT umbenannt). Gleichzeitig haben alle von Moskau genug. Der ‚Durchschnittsrusse‘ verfügt jedoch praktisch über keinerlei Fähigkeiten zur Selbstorganisation. Ein Zusammenbruch des Zentrums könnte in einer solchen Situation zu Chaos (aber nicht zu Anarchie) führen.

Und wir müssen dringend eine Art regionalistische Bewegung aufbauen und die bestehenden Kräfte ergänzen, denn in der Perspektive eines Zusammenbruchs (auch wenn er nur eine Option ist), ist das Vorhandensein einiger Kristallisationspunkte für Menschen, die zur Selbstorganisation und zum Verhandeln fähig sind, äußerst wichtig... Aber werden wir dafür überhaupt genug Zeit haben?“

Und weiter: 

„Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es zwei Alternativen zu einem schmerzhaften Zusammenbruch gibt (an den ich immer noch nicht so recht glaube, ich ziehe ihn lediglich als Option in Betracht).

Die erste Alternative besteht darin, in einem peripheren Einheitsstaat zu bleiben, der wirtschaftlich isoliert ist, schnell verarmt und die Schrauben anzieht, bis der Faden reißt (und dann, Jahre oder Jahrzehnte später, kommt ein weiterer Zusammenbruch – nur auf blutigere Art und Weise, weil er aufgeschoben wurde). Das Imperium wird seinen rachsüchtigen Revanchismus, der nach dem berüchtigten Krieg noch verstärkt wurde, nach innen richten. Wer zu den ‚Verrätern‘ erklärt werden wird, kann ich nicht vorhersagen. Es hat keinen Sinn, darauf zu hoffen, dass irgendeine der regierenden oder oppositionellen metropolitanen Eliten irgendwie ihren Kurs ändern wird. Der liberale Mainstream, der von Oleg Kaschin bis Xenia Sobtschak darüber diskutiert, dass ‚Putin die leuchtenden Ideale der russischen Welt verraten hat‘, wird diesen Kurs fortsetzen. Nawalny, der liberale Oppositionsführer und Organisator der Russischen Märsche, wird seinen Kurs beibehalten.

Die zweite Alternative ist eine Art Wunder, bei dem Russland wieder föderalisiert wird und verschiedene Akteure lernen, miteinander auszukommen, während die imperiale Arroganz zum Teufel geht. Nur gibt es solche Akteure nicht mehr – sie sind alle aus dem Apparat ‚herausgesäubert‘ worden. Die Politiker der Großstädte sind es nicht gewohnt, mit den Provinzbewohnern der ‚toilettenlosen Dörfer‘ auf Augenhöhe zu sprechen. Sie können ihnen nur ihre Agenda diktieren. Wer von den prominenten großstädtischen Oppositionellen hat auch nur einen Laut von sich gegeben, als das Abkommen zwischen der Zentralregierung und der Autonomen Republik Tatarstan, das durch alle demokratische Verfahren abgesichert war, nicht verlängert wurde? Mit Subalternen auf Augenhöhe zu verhandeln – daran können sie nicht einmal denken. Und es ist nicht nur der Kreml, der einen Zusammenbruch wahrscheinlich macht. Sondern auch ein Großteil der liberalen Opposition, die weiterhin die schwachen Stimmen aus der Provinz ignoriert.“

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