Die Türkei in der Krise - Erdogans Endspiel

In der Türkei geht die Inflationsrate durch die Decke, die Landeswährung verliert immer mehr an Wert. Doch Präsident Recep Tayyip Erdogan verteidigt seine Wirtschaftspolitik, und zwar neuerdings auch mit religiösen Gründen. Die Unzufriedenheit im Land wächst, 2023 wird gewählt. Hat Erdogan überhaupt noch eine Chance?

Der türkische Staatspräsident Erdogan bei einer Zeremonie anlässlich des 83. Todestages von Mustafa Kemal Atatürk im November / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

So erreichen Sie Hilal Khashan:

Anzeige

Die Türkei befindet sich in einer tiefen Finanzkrise. Die Inflation erreichte Ende November 21,3 Prozent und wird voraussichtlich bis Ende Dezember auf 25 Prozent steigen. Schätzungen zufolge wird die durchschnittliche Inflation im nächsten Jahr 10,8 Prozent und im Jahr darauf 5,1 Prozent betragen. Auch der Wert der Landeswährung ist im vergangenen Jahr stark gesunken. 

Viele machen Präsident Recep Tayyip Erdogan für die Krise verantwortlich, weil er auf eine Senkung der Zinssätze drängt. Während die großen Zentralbanken in der ganzen Welt versuchen, die Zinsen zu erhöhen, um die steigende Inflation einzudämmen, steht Erdogan mit seiner Niedrigzinspolitik allein da. Er hat auch nach Finanzmanagern gesucht, die mit seinen Ansichten konform gehen. So hat er in den letzten zwei Jahren drei Zentralbankgouverneure entlassen und erst vor wenigen Wochen seinen Finanzminister ausgewechselt. Erdogan hat dem internationalen Finanzsystem im Grunde den Krieg erklärt, und da er sich 2023 den Wahlen stellen muss, wird seine beispiellose Politik noch genauer unter die Lupe genommen werden.

„Mutter und Vater allen Übels“

Anfang dieses Monats senkte die Zentralbank den Zinssatz auf 14 Prozent, nachdem sie ihn zwischen August und November von 19 Prozent auf 15 Prozent gesenkt hatte. Diese Änderungen erfolgten auf Betreiben des Präsidenten, der die Zinssätze als „Mutter und Vater allen Übels“ bezeichnete. In einem offensichtlichen Appell an seine konservativ-religiöse Basis hat er die Zinssätze als unislamisch dargestellt.

Erdogan ist sich der möglichen politischen Risiken einer starken staatlichen Steuerung der Wirtschaft bewusst. Die Türkei blickt auf eine lange Geschichte der zentralisierten Kontrolle der Wirtschaft zurück, die mit dem Gründer des Landes, Mustafa Kemal Atatürk, begann. Als populistischer Führer gab Atatürk einen bestimmten Kurs vor, der von den nachfolgenden Staatschefs (einschließlich Erdogan) verfolgt wurde. Im Gegensatz zu Atatürk rechtfertigt Erdogan seine Maßnahmen jedoch mit religiösen Gründen. Zur Verteidigung der Entscheidung, die Zinsen zu senken, sagte Erdogan vor kurzem: „Als Muslim werde ich weiterhin tun, was der Nas verlangt“, womit er sich auf die islamischen Lehren bezog.

Erdogan glaubt, dass sein Ansatz das Wachstum fördern wird. Er hat argumentiert, dass westliche Investmentbanken die Hauptnutznießer der hohen Zinssätze seien, die die Staatsverschuldung und das Haushaltsdefizit erhöhen würden. Wirtschaftsexperten haben Erdogans Politik abgelehnt, doch der Präsident beharrt darauf, dass eine Senkung der Zinssätze die Inflation eindämmen wird – im Gegensatz zu den klassischen Wirtschaftstheorien.
 
Erdogan ist offenbar auch nicht besorgt über den rasanten Verfall der Lira, da er glaubt, dass ein wettbewerbsfähiger Wechselkurs Investitionen fördern und mehr Arbeitsplätze schaffen wird. Anfang dieser Woche hat die türkische Zentralbank Maßnahmen ergriffen, um die Währung zu stützen, welche am Montag um 30 Prozent an Wert gewann. Ad-hoc-Maßnahmen wie diese sind jedoch finanzpolitisch nicht tragfähig. Eine ähnliche Strategie wurde in den 1990er-Jahren von Ministerpräsidentin Tansu Ciller versucht, als der Zinssatz auf 500 Prozent stieg, sowie von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Jahr 2002, als er 50 Prozent erreichte.

Profiteur der weltweiten Finanzkrise

Der wirtschaftliche Erfolg der Türkei im ersten Jahrzehnt der AKP-Regierung, die 2002 begann, war teilweise auf die solide Politik der Partei zurückzuführen. Nach der weltweiten Finanzkrise 2007 bis 2008 wollten viele Investoren den US-Markt meiden und suchten nach neuen Orten, an denen sie ihr Vermögen anlegen konnten. Ein Großteil des Geldes floss in Schwellenländer wie die Türkei, wo hauptsächlich in den Bau- und den Tourismussektor investiert wurde – und die Regierungskumpane profitierten kräftig. Doch 2015 hatten sich die westlichen Volkswirtschaften von der Rezession erholt, und die Gelder begannen wieder aus den Schwellenländern in die Industrieländer zurückzufließen, was zur Währungskrise in der Türkei beitrug.

Die türkische Wirtschaft, deren nominales Volumen sich auf rund 800 Milliarden Dollar pro Jahr beläuft, ist bei der Herstellung von Waren in hohem Maße von importierten Rohstoffen abhängig. Zu den wichtigsten Einfuhren gehören organische Chemikalien, mineralische Brennstoffe, Eisen und Stahl, pharmazeutische Erzeugnisse und elektrische Maschinen. Im Jahr 2020 beliefen sich die Einfuhren auf über 220 Milliarden Dollar und die Ausfuhren auf 170 Milliarden Dollar. Ein zentraler Bestandteil von Erdogans Wirtschaftsplan ist die Umkehrung dieses Handelsungleichgewichts bis 2023.

Sein Vorgehen in der Finanzkrise erinnert an die Politik von Ministerpräsident Turgut Özal in den 1980er-Jahren. Özal wertete die Lira ab, förderte eine exportorientierte Wirtschaft, tat wenig, um den Preisanstieg zu stoppen, und unterstützte die Politik des freien Marktes. Er transformierte die türkische Wirtschaft und wurde von Experten gelobt. Dies gelang ihm dank der Unterstützung des Westens und der Zusage der türkischen Armee, die öffentlichen Proteste gegen seine Finanzmaßnahmen einzudämmen. Erdogan hat ebenfalls die volle Unterstützung des Militärs.

Allgegenwärtige Korruption

Allerdings muss er mit einigen Hindernissen rechnen. Erdogan und seine Familie sind wegen angeblicher Korruption in die Kritik geraten. In Wahrheit ist die Vetternwirtschaft in der politischen Klasse der Türkei weit verbreitet. Der ehemalige Präsident Süleyman Demirel saß einige Zeit im Gefängnis, weil er Millionen von Dollar veruntreut hatte. Die Premierminister Mesut Yilmaz und Tansu Ciller wurden beschuldigt, öffentliche Gelder gestohlen zu haben. Auch Familienmitglieder von Ministerpräsident Necmettin Erbakan, der 1987 vom Militär zum Rücktritt gezwungen wurde, gerieten wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder unter Beschuss. In der Türkei wird die Korruption häufig durch eine populistische Politik begünstigt, die den demokratischen Übergang verzögert und strukturelle Wirtschaftsreformen erschwert hat.

Wenn sich Erdogan im Jahr 2023 zur Wiederwahl stellt, werden eine der wichtigsten Wählergruppen die jungen Türken sein, von denen neun Millionen wahlberechtigt sein werden. Die Jugendarbeitslosigkeit in der Türkei zählt mit etwa 25 Prozent zu den höchsten der Welt. Viele junge Türken, die einen Arbeitsplatz haben, werden schlecht bezahlt und wollen auswandern. Diese Bevölkerungsgruppe wird Erdogan nur schwer für sich gewinnen können.
 
Obwohl Erdogan der dienstälteste Amtsträger der Türkei seit der Gründung des Landes im Jahr 1923 ist (er hat sogar Atatürk um vier Jahre übertroffen), ist sein Durchhaltevermögen eher auf die Zersplitterung der Opposition und weniger auf seine eigene politische Kompetenz zurückzuführen. Hochrangige AKP-Mitglieder haben ihn bereits gewarnt, dass seine unorthodoxe Finanzpolitik und die öffentliche Unzufriedenheit die Opposition ermutigen. Erdogan hat dies jedoch nicht beachtet, da er glaubt, dass seine Arbeiterbasis ihn unterstützen wird, egal wie viel die Lira wert ist. Doch die öffentliche Unterstützung für die AKP ist von 40 Prozent im Jahr 2018 auf heute 30 Prozent gesunken und wird wahrscheinlich weiter zurückgehen, wenn es der Regierung nicht gelingt, die Inflation einzudämmen.

Zersplitterte Opposition

Bei den Kommunalwahlen 2019 haben die Republikanische Volkspartei (CHP) und die „Gute Partei“ (IYI) gemeinsam die Kandidaten der AKP in Istanbul, Ankara und Izmir, den drei größten Städten der Türkei, besiegt. Sie hoffen, ihr Bündnis auf sechs Parteien auszuweiten und Erdogan im Jahr 2023 oder in einer vorgezogenen Wahl abzusetzen, solange die Wirtschaftskrise noch andauert. Doch die zersplitterte Opposition hat außer dem Wunsch, Erdogan und die AKP zu stürzen, wenig gemeinsam und wird wahrscheinlich zu politischen Auseinandersetzungen zurückkehren, wenn sie ihn stürzt – zumal sie das unter Erdogan eingeführte Präsidialsystem rückgängig machen und das parlamentarische System wieder einführen will, das die ideologischen und ethnischen Spaltungen der Türkei noch verschärft hat.
 
Für Erdogan geht es bei der bevorstehenden Wahl nicht nur um seine Wiederwahl, sondern auch um sein Vermächtnis als dienstältester Staatschef der Türkei und als Architekt der türkischen Wirtschaftsmacht. Mit seiner Strategie der Diversifizierung der Wirtschaft durch das Modell der Importsubstitution will er wirtschaftliche Souveränität erreichen. Ob er damit Erfolg haben kann, steht noch zur Debatte – und die Wähler werden im Jahr 2023 das letzte Wort haben.

In Kooperation mit

 

Anzeige