Großbritannien - Tony Blair - Die Rückkehr des Meisters

Der frühere britische Premierminister Tony Blair ist wieder da: Mit mutigen Reformen will er die „radikale Mitte“ gewinnen und seiner Labour-Partei zum Wahlsieg verhelfen.

Großbritanniens Ex-Premierminister Tony Blair / dpa
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Autoreninfo

Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

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Es fühlte sich an, als balanciere man eine Ming-Vase über den Marmorfußboden. So beschrieb Tony Blair den Weg zu seinem grandiosen Wahlsieg 1997. Kein Patzer, kein unvorsichtiger Schachzug war erlaubt, um den Erfolg nicht noch zu gefährden. Dabei lag Blairs Labour-Partei seinerzeit 30 Prozentpunkte vor den Konservativen. Heute beträgt der Vorsprung 15 Prozent – und Parteichef Keir Starmer schneidet in Umfragen nur wenig besser ab als Premierminister Rishi Sunak.

Damit der Sieg in den letzten Monaten bis zur Wahl 2024 nicht noch gefährdet wird, hat Starmer jetzt Tony Blair als Ideengeber zurückgeholt, der nach 1997 noch zweimal eine Mehrheit gewann und als Premierminister zehn Jahre lang das Vereinigte Königreich regierte. Das macht ihn zum erfolgreichsten Politiker in den Annalen seiner Partei.

In der „radikalen Mitte“ zu Hause

Wie schon in den 1990er Jahren richtet Blair auch heute wieder den Blick auf die aufstrebende Mittelklasse, die Wähler der Konservativen, die Labour für einen Sieg bei den Wahlen im kommenden Jahr braucht. In diesen Kreisen werde kompetente Wirtschafts- und Finanzpolitik erwartet, keine Woke-Mentalität, schärft Blair jetzt in Gesprächen den Parteistrategen ein

Zum Gefangenen der Ideologen hat er sich nie gemacht, und die Empfindlichkeiten der Parteilinken kümmern ihn wenig. Der Aktivist und Politikberater Neil Lawson empörte sich gar, Blair sei längst bei der politischen Rechten angekommen. Tatsächlich forderte er jüngst die Teilprivatisierung des maroden nationalen Gesundheitsdiensts, der eine Warteliste von sieben Millionen Patienten vor sich herschiebt und hintere Plätze im Ländervergleich der Krankenversorgung belegt. Blair will Patienten für bessere Behandlung künftig zahlen lassen.

 

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Sein Credo: Je mutiger eine Reform­idee, desto besser. Die „radikale Mitte“ ist sein Zuhause, damals wie heute. Dafür bekam er auch von politischen Gegnern Anerkennung: Blair verdiene den Respekt der Konservativen, befand Michael Gove einmal, heute dienstältester Minister der Tories. Vom früheren konservativen Premier David Cameron hieß es, er regiere wie ein Jünger Blairs, und sein Finanzminister George Osborne nennt ihn, wenn keine Journalisten dabei sind, einfach nur „den Meister“, der mit unkonventionellen Ideen schon als Premierminister das ideologische Koordinatensystem der britischen Politik durcheinanderwirbelte.

Die alte Garde kehrt zurück

Tony Blair überwand den Thatcherismus, indem er Thatchers kühne Privatisierungspolitik und radikale Marktliberalisierung mit dem Sozialstaat versöhnte. Nach der politischen Polarisierung in den Jahren seit dem Brexit-­Votum 2016 wird jetzt der Ruf laut nach einer Rückbesinnung auf den magischen Mittelweg Blairs: Der entfesselte die Finanzindustrie und bewahrte einen verantwortungsvollen Sozialstaat. Er öffnete die Grenze für 900 000 polnische Gastarbeiter und bekämpfte illegale Migration. Er hielt das Land auf europäischem Kurs und stand loyal zum atlantischen Bündnis. Mit dieser Rezeptur ist er zum Mann für die Heimatlosen geworden: Millionen Wähler, die sich nicht zwischen rechten und linken Ideologen entscheiden wollen.

Die Koordinierung zwischen Partei und Blair hat längst begonnen. Lord Mandelson, sein alter Vertrauter und Architekt des Sieges von 1997, ist ebenfalls in den engsten Kreis der Labour-Führung zurückgekehrt. Nicht zufällig wird Blairs Bericht über Energiesicherheit just an dem Tag veröffentlicht, an dem Labour-Chef Starmer zum Thema redet. Auch bei der Rentenreform sind sich die beiden einig. Fonds sollen in die darbende Infrastruktur des Landes investieren. Es geht ihnen um radikale Modernisierung, einen starken Staat und darum, politische Widerstände zu überwinden. 

Hassfigur für Rechtsaußen

Für Blair ist die Rückkehr als Ideengeber von Labour mehr als eine unerwartete politische Renaissance. Er therapiert damit auch sein ewiges Trauma, vom Schreibtisch in der Downing Street 10 zu früh verdrängt worden zu sein, weil 2007 sein Nachfolger Druck machte und die Parteilinke sich entnervt von dem eifrigen Reformer abwandte.

Als Hassfigur dient Blair heute vor allem eifernden Brexit-Befürwortern am rechten Rand der konservativen Partei und den Anhängern des Populisten Nigel Farage. Die sehen in dem Freund der EU eine Inkarnation des privilegierten, liberalen Establishments. In ihrer Wut schwingt ein besorgter Unterton mit. Von einem „Albtraum“ spricht deshalb Peter Hitchens, Kolumnist für die rechte Tageszeitung Daily Mail, wenn er an eine politische Rückkehr Blairs denkt. Der sei fit, gebräunt, schrecklich gelangweilt, reise um die Welt und halte Reden darüber, was er in einer Regierung machen würde. 

Zudem, warnt Hitchens seine Leser, sei Blair elf Jahre jünger als Joe Biden.

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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