Terroranschlag in österreichischer Hauptstadt - Wien galt als „Insel der Seligen“ - Eine trügerische Illusion

Nun ist der Terror auch in der österreichischen Hauptstadt angekommen: Wien wurde von einem für die Stadt beispiellosen Terroranschlag erschüttert. Am Tag nach dem Attentat steht die Stadt unter Schock. Aus Wien berichtet Simone Brunner.

Wolfgang Sobotka, Präsident des österreichischen Nationalrates, Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Bundeskanzler Sebastian Kurz gedenken der Opfer bei einer Kranzniederlegung in Wien / dpa
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Simone Brunner lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien. Sie hat in Sankt Petersburg und in Wien Slawistik und Germanistik studiert und arbeitet seit 2009 als Journalistin mit Fokus auf Osteuropa-Themen.

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Als die „Minute des stillen Gedenkens“ um Punkt 12:00 Uhr beginnt, schlagen die Kirchenglocken los. Auch hier, auf der Wiener Ringstraße, die den ersten Bezirk, die „Wiener City“, von den Nachbarbezirken trennt. Die Autos donnern heute zwar wie üblich über die dreispurige Fahrbahn, doch Passanten gibt es kaum, die Bürgersteige sind verwaist. Als eine Radfahrerin in das Regierungsviertel einbiegen will, wird sie von einem Polizisten mit Sturmwaffe abgewunken. Eine Straßenbahn donnert vorbei. Sie ist fast leer.  
 
Es ist der erste Tag nach dem schwersten Terroranschlag, den Österreich in den vergangenen Jahren erlebt hat. Am Montagabend um 20:00 fielen die ersten Schüsse im Wiener „Bermudadreieck“, einer bekannten Ausgehmeile in der Nähe des Schwedenplatzes im ersten Wiener Gemeindebezirk. Vier Zivilisten sind inzwischen an Schussverletzungen gestorben. Der mutmaßliche Attentäter wurde von Wega-Sonderpolizei erschossen, seine Leiche lag stundenlang vor der katholischen Ruprechtskirche, der ältesten Kirche der Stadt, weil erst ein Sonderkommando ausrücken musste, um einen Sprengstoffgürtel, den der Mann trug, zu sichern. Eine Attrappe, wie sich später herausstellte.  

Gespenstische Stille

Es war der letzte Abend vor einem landesweiten, wochenlangen Lockdown, um die zuletzt stark steigenden Covid-19-Pandemie in Österreich einzudämmen. Warme, spätsommerliche Temperaturen von bis zu 20 Grad tagsüber haben viele Menschen an diesem Montagabend auf die Straße gelockt, um noch einen letzten Drink zu nehmen oder eine letzte Vorstellung zu besuchen, bevor alle Lokale und Kulturbetriebe im Land wieder für zumindest vier Wochen dicht machen. Vor dem Burgtheater, dem bekanntesten Theater der Stadt, hängt noch das Plakat, das die Vorstellung des Vorabends ankündigt: „Das Himmelszelt.“ Hunderte Theaterbesucher mussten hier stundenlang ausharren, bevor sie evakuiert werden konnten, wie in vielen anderen Spielstätten und Konzertsälen in der „Wiener City“ auch, dem kulturellen Herz der österreichischen Hauptstadt. 

Eine gespenstische Stille hängt derweil über der Stadt: Rund um das Parlamentsgebäude, das gerade renoviert wird, sind nur einige wenige Bauarbeiter im Einsatz. Der Volksgarten, ein beliebter Park im ersten Bezirk, ist abgesperrt, an der gleichnamigen U-Bahn-Station patrouillieren schwer bewaffnete Polizisten mit Sturmwaffen und Schutzhelmen.  Die Regierung hat eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen, viele Gebäude haben die schwarze Fahne gehisst.

Immer wieder heulen die Sirenen

Am Nachmittag haben Bundeskanzler Sebastian Kurz und Präsident Alexander Van der Bellen Kränze an einem der Tatorte niedergelegt, um an die Opfer zu gedenken. Nur selten stehen kleine Gruppen zusammen, die wenigen Menschen, die unterwegs sind, sind alleine. Immer wieder heulen die Sirenen der Einsatzfahrzeuge durch die Innenstadt, ein Geräusch, das die Wiener Innenbezirke die ganze vergangene Nacht begleitet hat, wie auch das Brummen der Hubschrauber.  

Die Schüsse und die Rotorenblätter sind zwar inzwischen verhallt, doch Wien hielt bis zuletzt den Atem an. Handelte es sich beim Anschlag um einen Einzeltäter? Oder waren es mehrere Täter? Quälende Fragen, zu denen Innenminister Karl Nehammer erst im Laufe des Nachmittags vorsichtig Entwarnung geben konnte: Zwar seien die Ermittlungen noch im Gange, doch inzwischen gehen die Behörden nur noch von einem Einzeltäter – dem Toten – aus, der die Gewalttat verübt haben soll.

Der Attentäter wurde in Wien geboren

Am Vorabend wurde noch von bis zu vier möglichen Attentätern gesprochen, die ganze Nacht wurde nach den Mittätern gefahndet. Inzwischen soll es 18 Hausdurchsuchungen in Wien und Niederösterreich gegeben haben, 14 Personen aus dem Umfeld des mutmaßlichen Attentäters wurden festgenommen, berichtete die Polizei. Die gute Nachricht: 22 zum Teil schwerverletzte Passanten wurden in die Wiener Spitäler behandelt, doch inzwischen sind sie alle außer Lebensgefahr. „Kein Terroranschlag wird es schaffen, dass unsere Gesellschaft zerrissen wird“, so der Innenminister Karl Nehammer bei der Pressekonferenz.  

Beim getöteten Attentäter soll es sich um einen 20-jährigen Mann mit österreichisch-nordmazedonischer Doppelstaatsbürgerschaft handeln. Der in Wien geborene Mann war offensichtlich ein Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) und wurde im Vorjahr von einem österreichischen Gericht zu 22 Monaten Haft verurteilt, weil er versucht hatte, nach Syrien auszureisen, um sich dort dem IS anzuschließen. Er war jedoch im Dezember 2019 vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Wie war es ihm gelungen, „das Deradikalisierungsprogramm der österreichischen Justiz zu täuschen“ (Nehammer), wo er doch in Wirklichkeit zum Äußersten bereit zu sein schien? Das wird wohl noch für viel Diskussionsstoff in Österreich sorgen.  

Wien ist von den großen Terroranschlägen der vergangenen Jahre verschont geblieben, vielen galt Österreich sogar als eine „Insel der Seligen.“ Eine trügerische Illusion. Wien gilt als eine der sichersten Großstädte der Welt, in der der Bundespräsident seinen Hund schon mal im Park vor der Präsidentschaftskanzlei Gassi führt oder in der Pizzeria ums Eck auf ein Getränk Wein geht. Doch der Anschlag vom 2. November wird wohl auch hier das Sicherheitsgefühl nachhaltig verändern.

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