Supermacht China? - Unangenehme Wahrheiten

China gilt als die kommende Weltmacht. Doch beim näheren Blick zeigen sich viele gesellschaftliche Risse: Minderheiten werden unterdrückt, Frauenrechte spielen keine Rolle, die Kluft zwischen Arm und Reich wächst immer weiter. Und die Klasse der Kreativen fühlt sich an den Rand gedrängt. Eine gefährliche Mischung.

Skyline von Chongqing, der südwestchinesischen Metropole mit mehr als 30 Millionen Einwohnern / Davide Monteleone
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Elizabeth Economy ist Senior Fellow für Chinastudien beim Council on Foreign Relations.

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Xi Jinping befindet sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Der Glanz von Chinas frühem wirtschaftlichen Aufschwung und der Eindämmung von Covid-19 verblasst mittlerweile. Die internationalen Medien sind dazu übergegangen, die Wirksamkeit der Impfstoffe und die Durchimpfungsraten anderswo zu feiern, und andere Volkswirtschaften haben begonnen, solide Wachstumsraten zu verzeichnen.

Dennoch fährt Präsident Xi Jinping fort, ein Narrativ von chinesischem Exzeptionalismus und Überlegenheit zu verbreiten. „Der Osten steigt auf, und der Westen geht nieder“, trompetete er voriges Jahr während einer Rede. Hochrangige chinesische Beamte und Analysten haben Xis Botschaft aufgegriffen und verstärkt, indem sie auf den relativen Rückgang der Anteile Europas und Japans an der Weltwirtschaft hinwiesen und die rassistische und politische Polarisierung der Vereinigten Staaten hervorhoben.
Der frühere stellvertretende Außenminister He Yafei hat unumwunden behauptet, dass die Vereinigten Staaten „feststellen werden, dass ihre Stärke zunehmend hinter ihren Ambitionen zurückbleibt, sowohl innenpolitisch als auch international. […] Das ist der große Trend der Geschichte. […] Das globale Gleichgewicht der Kräfte und die Weltordnung werden sich weiter zugunsten Chinas verschieben, und Chinas Entwicklung wird unaufhaltsam sein.“

Getroffene Hunde bellen

Doch hinter solch triumphalistischer Rhetorik verbirgt sich eine unbequeme Wahrheit: Chinas eigene Gesellschaft ist auf komplexe und herausfordernde Weise zersplittert. Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit ist weitverbreitet, verstärkt durch zunehmend nationalistische und hasserfüllte Rhetorik im Internet. Die kreative Klasse liegt mit kleinlichen Bürokraten im Clinch. Und die Ungleichheit zwischen Stadt und Land ist nach wie vor groß. Diese Spaltungen verhindern die volle Beteiligung wichtiger Teile der Gesellschaft am intellektuellen und politischen Leben Chinas und haben, wenn sie nicht behoben werden, das Potenzial, die wirtschaftliche Vitalität des Landes zu untergraben.

Während Xi versucht, die Innovationskraft vor Ort sowie den inländischen Konsum zu fördern, hängt sein Erfolg von der intellektuellen und wirtschaftlichen Unterstützung genau jener Bevölkerungsgruppen ab, die er mit seiner Politik kujoniert. Und während er das „chinesische Modell“ als nachahmenswert anpreist, trüben dieselben Gräben Chinas Attraktivität und untergraben Pekings Einfluss. Wenn Xi nicht schnell handelt, um die Risse zu kitten, wird sein chinesischer Traum von der „großen Verjüngung der chinesischen Nation“ genau das bleiben: ein Traum.

Während chinesische Offizielle häufig auf die rassistische Spaltung verweisen, die die Vereinigten Staaten plagt, sind sie weniger offen mit Blick auf die wachsende Polarisierung, die sie in ihrem eigenen Land über ethnische und geografische Grenzen hinweg gefördert haben. Sie haben versucht, mehrere der autonomen Regionen des Landes – Xinjiang, Tibet und in geringerem Maße die Innere Mongolei – ihrer religiösen und kulturellen Praktiken zu berauben und sie (wie auch die Sonderverwaltungsregion Hongkong) einem außerordentlichen Maß an Überwachung und polizeilicher Kontrolle zu unterwerfen, um die politische Stabilität zu erhalten. 

Unterdrückte Uiguren

Im Jahr 2019 gab China umgerechnet 216 Milliarden Dollar für die innere öffentliche Sicherheit aus, einschließlich Staatssicherheit, Polizei, Überwachung im Inland und bewaffnete Zivilmiliz – mehr als das Dreifache der entsprechenden Regierungsausgaben ein Jahrzehnt zuvor und etwa 26 Millionen Dollar mehr, als für die Volksbefreiungsarmee vorgesehen sind.
In Xinjiang sind bis zu einer Million uigurische Muslime in Arbeits- und Umerziehungslagern inhaftiert. Die Provinz ist die 21st-größte Provinz Chinas gemessen an der Einwohnerzahl, steht aber bei den Ausgaben für die öffentliche Sicherheit an dritter Stelle. Die Uiguren in Xinjiang und andere türkisch-muslimische Gruppen leiden seit langem unter verschiedenen Formen der Diskriminierung, beispielsweise sind sie von Hotelbesuchen oder bestimmten Arbeitsplätzen außerhalb der Region ausgeschlossen. 

Nur selten melden sich chinesische Experten zu Wort. Wie ein Gelehrter in einem Interview mit der South China Morning Post bemerkte: „Manchmal war unsere Politik zu großzügig und bot eine Menge Vorzugsbehandlung, aber die Auswirkungen waren nicht gut. Doch manchmal waren wir auch zu hart in unserem Durchgreifen. Wir hatten also kein gutes Gespür für die Politik, und die Ausführung war schlecht.“

...und Frauen

Für Frauen war Xis Amtszeit bisher ähnlich unfreundlich. Nur eine Frau sitzt in der obersten Führungsriege der Kommunistischen Partei Chinas (KP), wozu die 25 Mitglieder des Politbüros und seines Ständigen Ausschusses gehören. Und Frauen machen nur 4,9 Prozent der nächsten 204 mächtigsten Mitglieder des Zentralkomitees aus. Selbst unter den rund 90 Millionen KP-Mitgliedern liegt der Frauenanteil bei nur 27,9 Prozent.

Der „Global Gender Gap Report 2021“ des Weltwirtschaftsforums, der die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern anhand einer Reihe wirtschaftlicher, politischer, bildungsbezogener und gesundheitlicher Kriterien bewertet, stuft China auf Platz 107 von 144 Ländern ein – gegenüber Platz 69 im Jahr 2013, dem ersten vollen Jahr von Xis Amtszeit.

Auch die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist rapide gesunken. Wie ein Bericht des Peterson Institute for International Economics zeigt, hat sich die Kluft zwischen den Geschlechtern bei der Erwerbsbeteiligung in China von 9,4 Prozent im Jahr 1990 auf 14,1 Prozent im Jahr 2020 erhöht, und chinesische Frauen verdienen etwa 20 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Mehr als 80 Prozent der weiblichen Hochschulabsolventen berichten, dass sie bei der Arbeitssuche auf geschlechtsspezifische Diskriminierung stoßen; nicht selten werden Stellen nur für Männer ausgeschrieben oder es wird von Bewerbern verlangt, dass sie verheiratet sind und Kinder haben, damit ihre Amtszeit nicht durch eine Schwangerschaft unterbrochen wird.

Feministinnen werden blockiert

Der nationale Diskurs über solche Themen ist zunehmend polarisiert. Feministische Kommentare werden oft mit bissigen nationalistischen Angriffen beantwortet. Die Nachrichtensprecherin Bai Ge beschuldigte Frauenrechtlerinnen, „das Land zu infiltrieren und Konflikte zwischen dem Volk und der Regierung zu provozieren […] und ihre antichinesische Agenda voranzutreiben“. Im April schloss die Social-Networking-Plattform Douban die Konten von zehn feministischen Gruppen – von denen einige Mitglieder dafür plädierten, nicht zu heiraten, keine Kinder zu bekommen oder keine Beziehungen zu Männern zu haben –, weil sie angeblich extremistisches Gedankengut verbreiteten. 

Chinas größte Messaging-Plattform Weibo hat ebenfalls die Konten von Feministinnen geschlossen mit der Begründung, sie würden „illegale und schädliche Informationen“ veröffentlichen. Wang Gaofei, der CEO von Weibo, griff den Aufruf persönlich auf und behauptete, dass Feministinnen „zu Hass und Geschlechterdiskriminierung anstiften“ würden. Chinesische Aktivistinnen bleiben dennoch standhaft. Einige haben Weibo verklagt und daraufhin ihre Accounts zurückbekommen – und der Hashtag „Frauen halten zusammen“ erreichte fast 50 Millionen Aufrufe, als er auf Weibo kursierte.

Anfang dieses Jahres schuf eine Gruppe von Künstlerinnen eine Installation, bei der sie einen Hügel mit mehr als tausend beleidigenden Internetnachrichten bedeckten, die an Feministinnen geschickt worden waren – ein „Museum der Gewalt im Internet“. Aber das Versagen der Regierung, dem übergriffigen Verhalten auf Onlinekanälen entgegenzuwirken, wird weithin als stillschweigende Unterstützung für die aggressive Rhetorik verstanden. Es ist in der Tat so, wie die Aktivistin Leta Hong Fincher anmerkte: Frauen, die öffentlich sagen, dass sie nicht heiraten oder Kinder haben wollen, gelten als Usurpatorinnen wider die Interessen des chinesischen Staates, der angesichts dramatisch sinkender Geburtenraten eifrig die Erhöhung der Geburtenraten fördert.

Unfreischwebende Intelligenz

Eine ähnliche polarisierende Dynamik hat sich zwischen Chinas Bürokraten und der kreativen Klasse entwickelt. Xis Entschlossenheit, dafür zu sorgen, dass alles Denken den Interessen der KP dient, beschränkt die Produktivität der kreativsten Menschen des Landes (einschließlich seiner Wissenschaftler und Unternehmer), wenn sie über die engen Vorgaben der KP hinausgehen. Xi hat die Universitäten dazu aufgerufen, „Hochburgen der Parteiführung“ zu sein, und das Bildungsministerium hat deutlich gemacht, dass „ideologische und politische Leistung“ die wichtigsten Elemente bei der Bewertung von Fakultäten sind. 
Die KP hat Universitätsstudenten sogar dazu ermuntert, ihre Professoren anzuzeigen, wenn diese mit ihren Äußerungen die Partei-Orthodoxie infrage stellen; zahlreiche Akademiker wurden kritisiert oder entlassen, weil sie „unkorrekte Äußerungen“ zu Themen im Zusammenhang mit Hongkong, Japan und Covid-19 veröffentlicht hatten. Indem Peking die Bandbreite der Stimmen einschränkt, begrenzt es aber gleichzeitig seine Fähigkeit, fundierte Entscheidungen zu treffen.

Einige Intellektuelle haben sich dagegen gewehrt. Der bekannte Wirtschaftswissenschaftler Chen Wenling zum Beispiel hat argumentiert, dass das Land mehr „Toleranz, Flexibilität und Freiheit für Chinas Akademiker“ braucht, wenn es ein globales ideologisches und intellektuelles Kraftzentrum werden will. Jia Qingguo, Professor an der Peking-Universität (und Mitglied eines hochrangigen Beratungsgremiums der KP), hat vorgeschlagen, einige der bürokratischen Beschränkungen für die Zusammenarbeit chinesischer Wissenschaftler mit ihren ausländischen Kollegen aufzuheben. „Die bürokratische Handhabung des Austauschs mit dem Ausland ist über ein vernünftiges Maß hinausgegangen“, so Jia. Denn dadurch werde „die Qualität der Einschätzung von Experten zu internationalen Themen und politischen Vorschlägen beeinträchtigt“. 

Nach außen alles sauber

Am weitesten hinaus wagte sich das ehemalige Mitglied des Zentralkomitees der KP, Zhao Shilin, in zwei Briefen an Xi. Verfasst wurden sie auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie im März 2020; der Autor kritisierte die Praxis, nur gute Nachrichten zu veröffentlichen, und warnte gleichzeitig vor der Zerstörung von individueller „Initiative, Flexibilität, Sichtweise und Verantwortung“ in der chinesischen Gesellschaft, weil sich alles nur um die Macht an der Spitze drehe.

Der gleiche politische Säuberungsprozess ist auch in Chinas Technologiesektor im Gange. Xi ist hart gegen Inhalte von Videospielen vorgegangen, hat Tech-Unternehmen für die unzureichende Zensur von illegalem Material auf ihren Plattformen kritisiert und versucht sicherzustellen, dass die Tech-Führungskräfte des Landes nicht zu unabhängigen Quellen politischen Einflusses werden.

Zensierte Unternehmer 

Einige von Chinas bekanntesten Führungskräften der Technologiebranche haben die Eingriffe der Regierung offen bemängelt und bekamen daraufhin drakonische Reaktionen zu spüren. Als der Gründer der weltgrößten Onlinehandels­plattform Alibaba, Jack Ma, Ende 2020 die chinesische Bürokratie dafür kritisierte, zu schwerfällig bei der Regulierung komplexer Probleme zu sein und Innovationen zu ersticken, wurde der geplante Börsengang seines Fintech-Unternehmens Ant Financial nur wenige Tage später abgesagt. 

Im Mai 2021 ging Peking dann gegen Mas Universität, ein wettbewerbsfähiges Business-Trainingsprogramm für Unternehmer, vor, entfernte ihn als Präsidenten und kündigte an, den Lehrplan zu ändern. Einem Bericht zufolge war die KP besorgt, dass Ma ein exklusives Netzwerk schaffen würde, das die Partei irgendwie herausfordern könnte. Als Wang Xing, CEO des Essenslieferdiensts Meituan, ein Gedicht aus der Tang-Dynastie teilte, in dem er auf die Dummheit von Chinas erstem Kaiser hinwies, der versucht hatte, seine Macht durch das Verbrennen von Büchern und die Unterdrückung von Intellektuellen zu sichern (angeblich eine verschleierte Kritik an Xi), stürzten die Aktien von Meituan ab.

Einer nach dem anderen haben sich die führenden Technologieunternehmer des Landes – Jack Ma, Zhang Yiming von ByteDance, Huang Zheng von Pinduoduo und Pony Ma von Tencent – entweder aus der Führung der von ihnen gegründeten Firmen oder zumindest aus dem Rampenlicht der Medien zurückgezogen.

Das oberste Prozent ist ein bisschen gleicher

Die chinesische Führung hat den anhaltenden wirtschaftlichen Aufstieg des Landes mit einer Aura unvermeidlicher Nebenbedingungen verbunden. Sicherlich hat China in den vergangenen vier Jahrzehnten ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum erzielt, darunter 16 Jahre mit zweistelligen Wachstumsraten. Im Februar verkündete Xi Jinping den Sieg im Kampf gegen die absolute Armut (worunter Menschen subsummiert werden, die mit 28 Dollar pro Monat oder weniger leben müssen). Doch kurz zuvor hatte Premier Li Keqiang die chinesischen Bürger schockiert, indem er enthüllte, dass mehr als 600 Millionen Menschen – also rund 40 Prozent der Bevölkerung – mit 140 Dollar oder weniger pro Monat auskommen müssen. Was auch immer Xi behauptet: Peking war nicht in der Lage, die anhaltende Ungleichheit, die die sozioökonomische Landschaft des Landes kennzeichnet, zu beseitigen. China besteht in der Tat aus zwei Staaten.

Das oberste 1 Prozent der chinesischen Bevölkerung verfügt über einen größeren Anteil am Gesamtvermögen als die unteren 50 Prozent, und ein Bericht der chinesischen Zentralbank aus dem Jahr 2019 hat gezeigt, dass von 30 000 befragten städtischen Familien 20 Prozent insgesamt 63 Prozent des Gesamtvermögens besaßen – während für die unteren 20 Prozent nur 2,6 Prozent übrig blieben. In ganz China verdienen die obersten 20 Prozent das 10,2-Fache dessen, was die ärmsten 20 Prozent verdienen. Infolgedessen hat Chinas Gini-Koeffizient (ein Maß für die Ungleichheit, das von null bis eins reicht) einen Wert von 0,47 erreicht, der zu den höchsten der Welt zählt und weit über dem Niveau liegt, von dem chinesische Beamte selbst behaupten, dass es destabilisierend wäre.

Vergeudetes Potenzial

Eine Analyse des Internationalen Währungsfonds deutet darauf hin, dass diese Ungleichheit auf Bildungsunterschiede und anhaltende Einschränkungen der Freizügigkeit zurückzuführen ist (sowie auf technologische Veränderungen, die die Löhne von besser qualifizierten Arbeitern erhöht haben). Der Stanford-­Ökonom Scott Rozelle hat detailliert beschrieben, dass Peking es versäumt hat, Bildungsmöglichkeiten zu schaffen – sowohl in Bezug auf den Zugang als auch auf die Qualität –, die für viele Menschen im ländlichen China notwendig sind, um effektiv an der schnell voranschreitenden technologischen Revolution des Landes teilzuhaben.

Die langfristigen ­Auswirkungen sind erheblich: Ein hohes Maß an Einkommensungleichheit kann das Wirtschaftswachstum und die Zukunftsfähigkeit vermindern, Investitionen in Gesundheit und Bildung schwächen und wirtschaftliche Reformen verlangsamen.

Die Kosten einer solchen politischen und wirtschaftlichen Entmündigung wichtiger Teile der chinesischen Gesellschaft mögen subtil erscheinen, aber auf lange Sicht werden sie tiefgreifend sein. Indem Peking sich weigert, die Herausforderungen anzugehen, mit denen etwa Frauen konfrontiert sind, und ihnen die Möglichkeit verwehrt, ihren eigenen Weg zu wählen, geht es das Risiko gesellschaftlicher Konflikte ein. Die anhaltende Einkommensungleichheit wiederum steht der chinesischen Administration dabei im Wege, einen gesunden Binnenkonsum und solides Wachstum zu fördern. Nicht zuletzt birgt das ständige Einfordern ideologischer Loyalität das Risiko einer anhaltenden Abwanderung von Fachkräften. 

Brain Drain

Eine Umfrage unter Hongkongern im Alter zwischen 15 und 30 Jahren ergab, dass 57,5 Prozent auswandern würden, wenn es möglich wäre; unter Erwachsenen allein liegt dieser Anteil bei immerhin noch 42,3 Prozent. Im Jahr 2019 verließen mehr als 50 000 Menschen Hongkong aufgrund politischer Bedenken. Und Pekings ohnehin schon eingeschränkte Fähigkeit, hochkarätige wissenschaftliche und andere intellektuelle Talente anzuziehen, wird weiter leiden, wenn Ausländer die Angriffe auf Chinas führende Unternehmer und Gelehrte miterleben.

Pekings polarisierende innenpolitische Situation hat auch Auswirkungen auf seine Beziehungen zu anderen Ländern. Die schlechte Behandlung von Frauen untergräbt die Soft Power des Landes und zudem jede Vorstellung eines „chinesischen Modells“, dem viele andere Länder folgen wollen. Die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang haben multinationale Unternehmen dazu veranlasst, nach anderen Standorten für ihre Lieferketten zu suchen, und die politische Unterdrückung in Hongkong bringt ausländische Firmen dazu, ihre Betriebe an andere asiatische Standorte wie Singapur zu verlegen.

Kanada, die Europäische Union, Großbritannien und die USA haben Sanktionen gegen Personen verhängt, die direkt für diese Politik verantwortlich gemacht werden, sowie gegen Unternehmen, die in Zwangsarbeit in Xinjiang verwickelt sind; die EU hat außerdem beschlossen, dass sie die Ratifizierung des umfassenden Investitionsabkommens mit Peking nicht in Erwägung ziehen wird, solange die chinesischen Behörden die Gegensanktionen nicht aufheben. Und jede Hoffnung, die Xi dahingehend gehabt haben mag, Chinas Olympia-Triumph von 2008 bei den Olympischen Winterspielen 2022 zu wiederholen, wurde durch einen wachsenden Konsens unter vielen Ländern zunichtegemacht, die Spiele zumindest teilweise zu boykottieren.
Wenn Xi den Kurs nicht korrigiert, könnte sein chinesischer Traum zu einem Albtraum werden.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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