Südostasiatischer Frühling in Myanmar und Thailand? - Hungrig nach Freiheit

In Myanmar geht die Militärjunta brutal gegen Demonstranten vor. Dennoch nehmen die Proteste gegen den Putsch kein Ende. Und auch auf den Philippinen und in Thailand gehen die Menschen gegen autoritäre Regime auf die Straße. Kommt es zu einer Art südostasiatischem Frühling?

Eine Demonstrantin protestiert vor dem Verteidigungsministerium in Bangkok gegen die thailändische Militärregierung / Reuters
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Felix Lill ist als Journalist und Autor spezialisiert auf Ostasien.

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Skyler streckt drei Finger in den Himmel. Hinter ihr, vor ihr und neben ihr machen es die anderen genauso. „Ihr habt euch mit den Falschen angelegt!“, wird gerufen. In Mandalay, einer der größten Städte von Myanmar, herrscht dieser Tage die Wut. „Wir wollen Demokratie und sonst nichts“, sagt die 22-Jährige, die zu ihrer eigenen Sicherheit nur ihren englischen Namen angibt, am Abend nach dem Aufmarsch per Videointerview. „Und wir werden nicht aufgeben. Bis wir die Freiheiten haben, die uns zustehen.“

Der Dreifingergruß, den die Zehntausenden an diesem Tag einmal mehr nutzten, stammt aus dem Blockbuster „Die Tribute von ­Panem – The Hunger Games“. In dem Film von 2013 benutzen ihn Repräsentanten unterdrückter gesellschaftlicher Kasten, um sich gegen ein ausbeuterisches System zu solidarisieren. „Unter den jüngeren Menschen in Myanmar kennen ihn fast alle“, sagt Skyler und lacht ungewollt auf. „Sogar meine Eltern, weil ich den Film so oft gesehen habe. Und wir alle erkennen uns darin irgendwie wieder.“

Hunger Games in Myanmar?

Zunächst wirkt die Parallele, die die junge Skyler andeutet, reichlich übertrieben. Der einstige Kassenschlager handelt davon, dass bestimmte Bezirke des imaginären Staates Panem jährlich junge Menschen für einen im Fernsehen übertragenen Gladiatorenkampf opfern müssen – von denen am Ende nur eine Person überleben soll. Das im Film als „Hunger Games“ umjubelte TV-Format sieht es also vor, dass sich diese Jugendlichen – zum Entertainment einer privilegierten Klasse – gegenseitig abschlachten.

Die Realität in Myanmar stellt sich etwas anders dar: Anfang Februar putschte sich das Militär an die Macht, nachdem es der demokratisch gewählten Regierung Wahlbetrug vorgeworfen hatte. Beweise für ihre Behauptungen haben die Männer um Oberbefehlshaber Min Aung Hlaing nicht vorgelegt. Die erst im November wiedergewählte Staatsrätin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi wurde trotzdem festgenommen. Nach gut zehn Jahren schrittweiser Demokratisierung ist das südostasiatische Entwicklungsland damit um Jahrzehnte zurückgeworfen. Von 1962 bis 2011 regierte hier das Militär, und mit dem Putsch vom Februar tut es dies erneut.

Nach dem Militärputsch

Das Staatsfernsehen steht wieder unter der Kontrolle des Oberbefehlshabers, der unterdessen die Proteste auf den Straßen gewaltsam unterdrücken lässt. Panzer rollen, Wasserwerfer und Gewehre kommen zum Einsatz. Häuser brennen, Demonstranten sind gestorben. Das Militär erlaubt es sich, ohne Gerichtsbeschluss Häuser zu durchsuchen. Bürger hingegen müssen theoretisch jeden nächtlichen Gang vor die Tür vorab anmelden. In der Praxis erlebt das Land mit 54 Millionen Einwohnern Generalstreiks, aus Zehntausenden Protestierenden werden Millionen.

Solch ein Chaos bricht in „Die Tribute von ­Panem“ zumindest im ersten Teil der Filmreihe nicht aus. Und auch umgekehrt ist unwahrscheinlich, dass sich Myanmars Militärelite über die Gewalt auf den Straßen so köstlich amüsiert, wie es in der Fiktion die privilegierte Klasse beim Zuschauen der „Hunger Games“ tut. Doch beim Dreifingergruß, den die junge Skyler und ihre Mitstreiter auf den Straßen von Mandalay einsetzen, geht es nicht um tiefer gehende Parallelen. Das Gefühl systematischer und brutaler Unterdrückung, das eben auch in den „Hunger ­Games“ zentral ist, reicht ihnen aus, um sich angesprochen zu fühlen. „Und die Pose sieht cool aus“, gesteht Skyler.

Aufruhr in ganz Südostasien

Zumal der Gruß in der wahren Welt nicht erst von den Demonstranten in Myanmar eingesetzt wurde. Ob in Hongkong, Thailand oder den Philippinen: An mehreren Orten im Südosten Asiens kam es zuletzt zu großen Protesten – und immer wieder sah man diese Pose aus nebeneinander ausgestreckten Ring-, Mittel- und Zeigefingern. Auch wenn sich diese Länder kulturell, historisch und in ihren Entwicklungsniveaus stark voneinander unterscheiden: Der gemeinsame Gruß offenbart eine gemeinsame Sprache.
Den Anfang machte Bangkok, als sich im Frühjahr 2014 das Militär an die Macht geputscht hatte – einmal mehr. Seit Thailand 1932 die absolute Monarchie abschaffte, hat das Land zwölf Staatsstreiche erlebt. In den vergangenen 15 Jahren geschah dies zweimal, stets ging es dabei um die Rivalität zwischen zwei Strömungen, die sich in Rothemden und Gelbhemden aufteilen.

Die Roten kommen tendenziell aus der Peripherie, sind Arbeiterinnen oder Landwirte und wollen mehr Staatsausgaben für Bildung und Gesundheit. Gelbe Hemden trägt dagegen eine Allianz aus Militär und Teilen der wohlsituierten Mittelklasse, für die solche Entwicklungsprogramme weniger Vorteile bieten als die mitunter dekadente Verehrung des Königshauses. Während die Kandidaten der Rothemden seit 2001 jede Wahl gewonnen haben, rissen die Gelbhemden immer wieder die Macht an sich. 
„Wir wollen den König nicht, wir wollen Demokratie!“, schimpft Napassorn Saengduean. Die Proteste gegen den letzten Staatsstreich erlebte die heute 20-jährige Studentin noch als pubertierende Schülerin. Jetzt gehört sie zu den Mitorganisatorinnen neuer Proteste. Die nahmen im Herbst vergangenen Jahres wieder Fahrt auf. Der für seine Extravaganzen verschriene König Maha Vajiralongkorn hatte seine Residenz in Bayern verlassen, um seinen Untertanen daheim einen Besuch abzustatten.

Der bayerische König Thailands

Das Volk begrüßte Vajiralongkorn zehntausendfach auf der Straße – mit klaren Forderungen: Das ihn stützende Regime solle zurücktreten, gefolgt von einer Verfassungsreform. Und sein verschwenderisches Königshaus möge reguliert werden. In dem Land mit seinen 70 Millionen Einwohnern sind solche Ideen nicht nur für ihre Adressaten gefährlich. Aufgrund eines gesetzlichen Verbots, die Monarchie zu kritisieren, sind immer wieder Menschen für ihre Meinungsäußerungen ins Gefängnis gegangen. 
So haben auch Thailands Zeitungen zuerst kaum, dann nur sehr vorsichtig über die Proteste berichtet. Doch die jungen Menschen, die die gegenwärtigen Unruhen antreiben, beeindruckt das nicht. „Ich habe keine Angst vorm König“, sagt Napassorn Saengduean an einem Abend in einem Café im Zentrum Bangkoks. „Er ist ein Nichtsnutz.“ Und sie wisse, dass sie mit diesen Worten vielen Menschen aus dem Herzen spreche. Sie hat es nämlich gelesen. 

Anfang letzten Jahres gründete der in Thailand bekannte politische Flüchtling Pavin Chachavalpongpun eine Facebook-Gruppe, deren Namen sich mit „Königlicher Marktplatz“ übersetzen lässt und die bald eine Million Mitglieder zählte. Denn sie bot eine Plattform für etwas, das es in Thailand nicht geben darf: den offenen Austausch über die Monarchie. „Ich selbst musste Thailand vor einigen Jahren verlassen, weil ich mich kritisch über das Königshaus geäußert hatte“, berichtet Chachavalpongpun, der nun als Politikprofessor an der Universität Kyoto in Japan arbeitet.

Zensur des Internets

Auch die Facebook-Gruppe musste bald verschwinden, nachdem die thailändische Regierung dem US-amerikanischen Konzern gedroht hatte, andernfalls im Land Facebook komplett zu sperren. Dass dies keine leere Drohung war, offenbarte sich gegen Ende des Jahres, als die Regierung plötzlich die Pornoplattform Pornhub sperren ließ, nachdem sie dort ein Video des thailändischen Königs bemerkt hatte. 

Dabei scheint Thailands Regime ein paar Sachen nicht recht verstanden zu haben. Es ist insofern wie im westlich benachbarten Myanmar: Die jungen Menschen, die im Vergleich zur Generation ihrer Eltern viel häufiger eine Universität besuchen, der englischen Sprache mächtig sind und das Internet nutzen, lassen sich nicht einfach kontrollieren. Auf die Sperrung von Pornhub hin solidarisierten sich die thailändischen Demonstranten plötzlich mit der ansonsten umstrittenen Plattform: „Rettet Pornhub!“ war im November auf Bannern und online zu lesen. 

„Ich mag Pornhub nicht, weil da viele sexistische Inhalte und sogar Vergewaltigungsvideos gepostet werden“, sagt die Aktivistin Saengduean. „Aber es zu blockieren, nur weil da der König zu sehen ist, ist doch lächerlich. Außerdem haben wir in Thailand eine große Sexindustrie. Viele Menschen brauchen die Plattform für ihr Einkommen.“ Ohnehin war der Versuch des harten Durchgreifens nur mäßig erfolgreich. Ein VPN-Anbieter, durch den man länderspezifische Blockaden umgehen kann, berichtete kurz nach der Sperrung durch die Regierung, dass Pornhub-Anfragen um 640 Prozent gestiegen waren.

Der Geist ist aus der Flasche

Ähnlich ist es mit „Königlicher Marktplatz“, der blockierten Gruppe auf Facebook. Längst gibt es eine neue mit ähnlichem Namen und mehr als doppelt so vielen Mitgliedern. Neben dem Austausch von Informationen über das Königshaus wird hier gelästert und gespottet. Der neuerliche Gruppengründer Pavin Chachavalpongpun gibt ein Beispiel mit historischem Bezug: „Im Jahr 1946 wurde König Rama der Achte tot aufgefunden. Die Leute glauben, dass er von seinem Bruder getötet wurde, dem darauffolgenden König. Aber man darf nicht darüber sprechen. In der Gruppe wurde dann begonnen, über die Pistole zu reden: Sie sei noch in gutem Zustand und wir könnten sie verkaufen.“ Daraufhin breche das virtuelle Publikum in Gelächter aus. Als Nächstes soll es auf die Plattform Clubhouse gehen.

„So locker über diese Themen zu sprechen, gibt ein Gefühl der Freiheit, das neu ist in Thailand“, sagt Chachavalpongpun. Zugleich ist zumindest die Idee von Meinungsfreiheit etwas, das der Generation der Digital Natives auch in Südostasien in die Wiege gelegt wurde. Selbst wenn das Internet hier und da kontrolliert wird, ist kaum eine Regierung in der Lage, eine Firewall aufzubauen, die jeden kritischen Inhalt unsichtbar macht. Und natürlich haben die jungen Menschen aus Thailand über die sozialen Medien bemerkt, wie ihr Gruß aus den „Hunger Games“ schon bald in Hongkong aufgegriffen wurde. 

Hongkong von China vereinnahmt

Die 1700 Kilometer nordöstlich von Bangkok gelegene Halbinsel an der Südküste Chinas wurde im vergangenen Sommer erneut zum Krisengebiet. Seit Juli gilt in der Millionenmetropole das „nationale Sicherheitsgesetz“, das nicht etwa von Hongkongs Stadtparlament verabschiedet wurde, sondern vom Nationalen Volkskongress in Peking. Die wesentliche Änderung der rechtlichen Lage lautet seitdem: Dissens ist strafbar. Wer die Kommunistische Partei kritisiert oder die Einheit Chinas infrage zu stellen scheint, kann für Jahre ins Gefängnis gehen.

Anders als das Entwicklungsland Myanmar und der Schwellenstaat Thailand ist Hongkong hochindustrialisiert. Mit großer Ungleichheit zwar, aber einem ausgereiften Bildungssystem und erstklassiger Infrastruktur. Was den Menschen hier allerdings genauso fehlt, ist Demokratie. Als Hongkong 1997 nach 99 Jahren unter britischer Kolonialherrschaft an China zurückgegeben wurde, sollten für zumindest 50 Jahre liberale Rechte wie die Versammlungs-, Presse- und Meinungsfreiheit gelten. Schließlich sollten auch freie Wahlen folgen.

„Aber die Regierung in Peking hat uns diese versprochenen Rechte genommen!“, sagte Joshua Wong zuletzt am Telefon. Im Moment sitzt der heute 24-Jährige, der seit Jahren zu den Köpfen der Demokratiebewegung gehört und zum internationalen Politstar avanciert ist, im Gefängnis. Er hatte Proteste organisiert, die es nicht mehr geben durfte. Und mittlerweile gibt es weniger von ihnen. Die Wasserwerfer und Zehntausenden Verhaftungen zeigen Wirkung. Aber auch wegen des Organisationstalents von Personen wie Joshua Wong haben über Jahre immer wieder Hunderttausende oder sogar Millionen Menschen demonstriert.

Parallelen zum Arabischen Frühling

Organisation, was heißt das eigentlich? Der Blick auf die Proteste, die zuletzt im Südosten Asiens losgebrochen sind, erinnert in vielerlei Hinsicht an den Arabischen Frühling, der vor zehn Jahren aufzublühen begann. Als sich von Tunesien aus über Ägypten bis nach Syrien ein Lauffeuer von Protesten ausbreitete, waren es vor allem junge, internetaffine Menschen, die sich über soziale Medien, Blogs und Handys informierten und verständigten. Im Vergleich zu 2011 ist heute die Internetdurchdringung noch einmal deutlich tiefer, Twitter hat sich weiter verbreitet, und die Nutzung von Hashtags ist quasi Common Sense. 

„Über Twitter haben wir uns immer wieder koordiniert“, erklärt Tracy Cheng an einem Mittag, als sie gerade aus einem virtuellen Meeting kommt. Die 20-jährige Jurastudentin ist Vizepräsidentin der Studierendenschaft an der Universität Hongkong. Auf dem Campus hat sie regelmäßig Aktionen organisiert, von mit Botschaften vollgeschriebenen Wänden bis zu Plakataktionen auf der Straße. Für die Mobilisierung und wichtige Sicherheitshinweise aber helfen vor allem soziale Medien. „Dass wir uns gegen die Wasserwerfer der Polizei am besten mit Regenschirmen schützen, wurde auch online gestreut.“

So erhielten die anfangs friedlichen Aufmärsche, die schon 2014 begannen, den Namen Regenschirmproteste. Sie wurden zur großen Inspiration einer Generation, nicht nur in Hongkong. „Wir haben uns für unsere Proteste genau angesehen, wie die in Hongkong es machen. Sonst hätten wir gegen das Tränengas auch sicherlich keine Gasmasken besorgt“, sagt Napassorn Saengduean aus Bangkok. Ohne irgendeinen persönlichen Kontakt zwischen den Aktivisten in Hongkong und jenen in Thailand entstand auf diese Weise eine Allianz.

Solidarisierung untereinander

Auf Twitter begannen die bekanntesten Köpfe der Bewegungen, sich mit der jeweils anderen solidarisch zu erklären. „Stand with Hong Kong“, war auf Bannern inmitten der Proteste in Thailand zu lesen. „Stand with Thailand“, hieß es in Hongkong. Joshua Wong gab vor TV-Kameras und Mikrofonen eine medienwirksame Erklärung auf der Straße ab. Auf Twitter wurde der Hashtag #MilkTeaAlliance populär – anspielend auf das Getränk, das sowohl in Thailand als auch in Hongkong beliebt ist.

Dabei war der Terminus zu eng gefasst, wie sich bald herausstellte. „Es heißt jetzt ‚MilkTeaCoffee­Alliance‘“, sagt Mel Joseph. Der junge Mann aus Cebu, einer Großstadt im geografischen Zentrum der Philippinen, kennt die Leidensgenossen in Hongkong genauso wenig persönlich wie jene aus Thailand. Aber der 21-jährige Filipino fühlt sich zugehörig. „Wir trinken hier nicht so viel Milktea, eher Kaffee. Aber ansonsten sind unsere Forderungen die gleichen.“

Diktator Duterte

Einen Putsch hat es im 107-Millionen-Land Philippinen zuletzt nicht gegeben. 2016 gewann Rodrigo Duterte die Wahl und wurde Präsident. Allerdings hat er seitdem das Land umgekrempelt, auch wenn das eigentlich niemanden überrascht haben dürfte. Duterte ist ein Freund der Familie Marcos, deren Patriarch Ferdinand von 1965 bis 1986 autoritär regierte – ein knappes Jahrzehnt davon unter Kriegsrecht. Und Duterte ähnelt Marcos durchaus. In seiner Wahlkampagne warb er damit, im Dienst der Kriminalitätsbekämpfung Drogenabhängige erschießen zu lassen. 

In gewisser Weise hat Duterte geliefert: Schon Anfang 2020 ergaben offizielle Zahlen, dass im Rahmen des „Drogenkriegs“ 6.500 Personen bei Polizeieinsätzen erschossen worden waren. Hinzu kamen mehr als weitere 20.000 Erschießungen, an denen auch häufig Polizisten beteiligt gewesen sein sollen. Wohl nicht zuletzt wegen des hierdurch erwirkten Abschreckungseffekts haben viele Arten von Kriminalität seitdem nachgelassen – abgesehen natürlich vom Töten.

Die zivilisatorische Katastrophe der Philippinen, wo eine inmitten von Ungleichheit und Elitismus desillusionierte Gesellschaft einen Populisten wählt, der mit dem Erschießen der eigenen Bevölkerung wirbt, nimmt ihren Lauf. Der 75-jährige Präsident führt Fehden mit politischen Gegnern und Kritikern, brandmarkt sie gern als Staatsfeinde, um dann einen nach dem anderen hinter Gitter zu bringen. Dafür wurde immer wieder das Recht kreativ ausgelegt oder gleich ganz ignoriert. Wobei seine Regierung zuletzt auch neue Regeln geschaffen hat. 

Unterdrückte Proteste in den Philippinen

Im Sommer verabschiedete das Parlament in Manila ein Antiterrorgesetz, das es mit dem „nationalen Sicherheitsgesetz“ aus Hongkong durchaus aufnehmen kann. Juristen kritisieren, dass darin Terrorismus nur vage gefasst und nicht klar von Dissens abgegrenzt wird. Außerdem können verdächtige Personen für längere Zeit auch ohne Haftbefehl festgehalten werden. Wer konkret als Terrorist gilt, entscheidet ein Antiterrorismusrat, der aus Kabinettsmitgliedern besteht.

„Seit Sommer haben wir dagegen protestiert“, berichtet Mel Joseph, der an der University of the Philippines in Cebu die Studentenzeitung verantwortet. „Aber die Regierung geht gegen uns vor. Sie haben uns sogar schon als Kommunisten gebrandmarkt, nachdem wir einen kritischen Artikel veröffentlicht haben. Und das ist wirklich beängstigend.“ Beängstigend vor allem deshalb, weil Duterte auch den Kommunisten im Land den Krieg erklärt hat. Wer als solcher bezeichnet wird, lebt damit in Gefahr. Diese Praxis, Gegner zu brandmarken, hat in den Philippinen schon einen Namen: „red-tagging“ – als rot kennzeichnen.

„Wir sind keine Kommunisten“, sagt Mel Joseph. „Wir bestehen nur auf unser Recht auf Meinungsfreiheit.“ Dafür gehen er und andere Studenten auch auf die Straße, verteilen Flugblätter, vernetzen sich im digitalen Raum. Den Dreifingergruß aus den „Hunger Games“ sieht man hier schon seit 2017. Gegen das Antiterrorgesetz sind 37 Petitionen eingereicht worden. Dennoch haben die Proteste in den Philippinen nicht das Ausmaß erreicht, das in Hongkong, Thailand oder zuletzt Myanmar verzeichnet worden ist. Ein Grund hierfür ist die Pandemie. Als die Regierung von Rodrigo Duterte im vergangenen Jahr eine Ausgangssperre verhängte, wurde auch gleich die Drohung ausgesprochen, auf Regelbrecher würde geschossen. In so einem Kontext sind wohl schon die Gruppen Hunderter Demonstranten bemerkenswert.

Unterstützung aus China

Ob die Proteste stärker Fahrt aufnehmen werden, sobald die Pandemie unter Kontrolle ist, steht in den Sternen. Schließlich ist Duterte durch sein Image als kompromissloser Anti-Establishment-Politiker in einigen Schichten höchst populär. Kontrovers ist der Populist aber aus einem weiteren Grund, der auch in den anderen regionalen Krisenherden Menschen gegen ihre Regierung aufbringt: die zunehmenden Verzahnungen mit der Regierung in China.

„Ich verstehe, dass unsere neue Regierung freundlich gegenüber China gestimmt ist, aber ich denke, es sollte eine klare Grenze geben, was den Schutz unserer Territorien und Souveränität angeht.“ Vor eineinhalb Jahren kritisierte Leni Robredo, Vizepräsidentin und zugleich Oppositionsführerin der Liberalen Partei, den philippinischen Präsidenten mit diesen Worten. Länger schon wird Duterte nachgesagt, er sei bei seiner siegreichen Wahlkampagne von Peking unterstützt worden.

Im Oktober 2020 sagte der sonst konfliktfreudige Duterte dann in Bezug auf einen territorialen Streit um Inseln in der Region, die auf wichtigen Handelsrouten liegen und über Öl- und Gasvorkommen verfügen: „China beansprucht sie. Wir beanspruchen sie. China hat die Waffen. Wir haben sie nicht. So einfach ist es. Sie sind im Besitz von Grund und Boden.“ Unterdessen hat sich Duterte zusehends China anvertraut und mit deutlichen Worten vom bisherigen Partner USA abgewandt: „Amerika hat verloren.“

Gespielte Zurückhaltung

Aus Peking heißt es oft, man suche nur Partnerschaften und werde sich politisch nicht einmischen. Dort, wo es zuletzt so ungemütlich geworden ist, sieht es nicht immer danach aus. Um das zu erkennen, muss man den Blick nicht gleich nach Hongkong richten, das – auch wenn das Versprechen zur Autonomie gebrochen wurde – schließlich chinesisches Territorium ist. 

Nachdem der Militärputsch in Bangkok von 2014 bei westlichen Ländern auf große Kritik stieß, fand Chinas Regierung offensichtlich wenig Schlimmes daran. Man bot rasch Panzer und U-Boote an, unterzeichnete mehrere Waffendeals. Der wichtigste Partner Thailands sind zwar weiterhin die USA. Den überwiegend jungen Demonstranten auf den Straßen aber fällt vor allem auf, wie ein Regime, das mit dem Staatsstreich einen neuen Freund in Peking gefunden hat, nun Proteste niederschlägt.

Das erinnert an die Situation in Myanmar. Während alle möglichen Länder der Welt den Putsch verdammen, bezeichneten ihn Staatsmedien aus China Anfang Februar nur als „größere Kabinettsumbildung“. Weiter hat sich die chinesische Regierung nicht klar gegen den Putsch positioniert. Unter den Demonstranten in Myanmar geht das Gerücht um, dass mit chinesischer Hilfe nun eine Firewall errichtet wird, die das Internet kontrollieren wird. 

Sprengstoff zur Genüge da

Sollte es wirklich dazu kommen: Ist es dann vorbei mit den unüberhörbaren Rufen nach Demokratie? „Es mag sein, dass die jungen Menschen von heute zu viel Games zocken und die Zeitungen nicht lesen“, sagt Soe Myint, Gründer und Chefredakteur des unabhängigen Medienunternehmens Mizzima, das seit dem Putsch aus dem Untergrund berichtet. „Aber sie alle wollen ihre Freiheit. Und das gilt für alle Länder in der Region.“ 

So käme es nicht unerwartet, sollten sich die Proteste regional weiter ausweiten. Grund zur Aufregung gibt es auch in den autoritär regierten Ländern Malay­sia, Laos, Kambodscha, Vietnam oder Indonesien. Überall hat sich eine demografische Gruppe über die letzten Jahre multipliziert: junge Menschen, die eine Universität besuchen und auch noch Zugang zum Internet haben.
 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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