„Strategischer Kompass“ - Bundesregierung: Ohne Strategie und ohne Kompass

In den Beratungen der EU-Staaten zur gemeinsamen Verteidigungsfähigkeit sowie in der Belarus-Krise stoßen die Bundesregierung und die geschäftsführende Kanzlerin wieder einmal durch Gleichgültigkeit und Eigenmächtigkeit die Partnerregierungen vor den Kopf. Mehr außenpolitischer Schaden lässt sich in einer Woche kaum anrichten.

Wichtigeres zu tun? Bei den Beratungen in Brüssel ließ sich Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vertreten / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Die EU-Staaten beraten derzeit unter dem Label „Strategischer Kompass“ wieder einmal darüber, wie sie ihr in der bestehenden internationalen Ordnung partiell untaugliches Konzept, als Zivilmacht (soft power) die eigenen Interessen autonom vertreten zu können, erweitern wollen. Parallel dazu bleibt an der Ostgrenze der Europäischen Union eine brisante sicherheitspolitische Lage bestehen, die an mehreren Stellen das Potential zur Eskalation birgt. Der Bundesregierung gelingt es, in beiden Fällen die pragmatische Gleichgültigkeit beizubehalten, die das vorgebliche Krisenmanagement der letzten Jahre ausgezeichnet hat und das im Innern gerade wieder durch die „gefährliche Tatenlosigkeit“ (Jochen Bittner) in der Pandemie bezeugt wird. In Brüssel führt der stärkste Staat der EU den Strategischen-Kompass-Prozess nicht an, die Verteidigungsministerin lässt sich sogar vertreten. Und mit Blick auf den Grenzkonflikt stößt die geschäftsführende Bundeskanzlerin die Regierungen der betroffenen EU-Staaten vor den Kopf und zeigt ihnen, wie gleichgültig sie der Bundesregierung sind. Mehr außenpolitischer Schaden lässt sich in einer Woche nur schwer anrichten.

Unterschiedlich beurteilt wurde, dass Frau Merkel mit dem Machthaber in Weißrussland, dem die EU die Anerkennung als Präsident wegen Wahlmanipulation verweigert, telefonierte. Während die Grünen, deren Führungspersonal mutmaßlich die zukünftige deutsche Außenpolitik prägen wird, über dieses Verhalten erbost waren und es als informelle Anerkennung der Präsidentschaft Lukaschenkos werteten – es wurde als „verheerend“ (Omid Nouripour) eingeschätzt –, schien die Sprachlosigkeit anderer Parteien Frau Merkels Vorgehen gegenüber dem „ganz schlimmen Diktator“ (Olaf Scholz) zumindest zu akzeptieren. Dabei wurde die eigentlich viel verheerendere Dimension ihres Vorgehens ausgeblendet, die darin lag, dass sie über die Köpfe der polnischen, lettischen und litauischen Regierungen hinweg und ohne sich mit diesen abgestimmt zu haben, mit Lukaschenko gesprochen hat. Das fällt in der europapolitisch abgestumpften Diskussion in Deutschland gar nicht auf.

Europapolitisches Porzellan zerschlagen

Alle drei EU-Regierungen wurden lediglich mit kurzer Frist informiert. Das zerschlug mehr europapolitisches Porzellan, als der Strategische Kompass kurzfristig kitten kann. Denn es führte die Eigenwilligkeit und Unberechenbarkeit der Bundesregierung gegenüber den übrigen EU-Staaten vor Augen, die in Merkels Amtszeit schon Griechenland und andere Staaten erfahren haben. Der dominante Staat in der EU handelt erneut, als brauchte er die Zustimmung der anderen nicht. Die Entscheidung für Nord Stream 2 wird im Frühjahr dieses Image Deutschlands erneut bestätigen. Dass Polens Regierung Merkels Vorgehen aktuell mit den Worten kommentierte, dies sei „kein guter Schritt“, markiert, diplomatisch verkleidet, eine gehörige Distanz. Die EU-Staaten derart entzweit zu haben, ist die wichtigste sicherheitspolitische Folge, die der Grenzkonflikt schon jetzt hat. Andere werden folgen.

Denn unklar ist, wie mit den Flüchtlingen an der Grenze weiter verfahren wird. Verschiedene Vorschläge werden intensiv diskutiert: Ihr Asylverfahren soll in der Ukraine stattfinden; sie sollen zurück in ihre Heimatländer geflogen werden; asylberechtigte Familien sollen identifiziert und in die EU verbracht werden; sie sollten keinesfalls in die EU einreisen dürfen; die ukrainische Fluglinie Belavia bringt sie auf Einladung nach München. Wie immer diese Frage (von wem?) entschieden wird, die Entscheidung wird die EU-Staaten weiter spalten. Das haben sie sich einerseits selbst zuzuschreiben, weil sich die EU-Regierungen seit sechs Jahren davor drücken, asyl- und migrationspolitische Entscheidungen zu treffen. Andererseits ist bei der Entscheidung mitzudenken, welche Auswirkungen sie in den anderen Grenzräumen der EU haben. Wolfgang Schäubles Vorschlag, Migranten an der EU-Ostgrenze einmalig in die EU zu lassen, geht fehl, weil für Libyen nichts anderes gelten kann als für Weißrussland.

Unterschiedliche Bewertung von Eskalationspotentialen

Unterschiedlich werden die mit der Verlegung von militärischen Einheiten in die Grenzräume von Polen, Weißrussland und der Ukraine verbundenen Eskalationspotentiale bewertet. Dass die Lage in der Ukraine mit dem Grenzkonflikt verbunden wird, hat zwei Ursachen. Die erste ist die Einschätzung, dass in Weißrussland ein Ablenkungskonflikt provoziert werde, um den Weg zur weiteren Destabilisierung der Ukraine zu ebnen. Die zweite lautet, dass Russland einer engeren Anbindung der Ukraine an die EU und die USA zuvorkommen will. Dagegen spricht, dass ein militärischer Konflikt, der andere Dimensionen hätte als die Destabilisierung Georgiens oder die Annexion der Krim, für Russland große Unwägbarkeiten bereithält und die wirtschaftliche Entwicklung brüsk abstürzen ließe. Die weitere Destabilisierung der Ostukraine – insbesondere über die Einbürgerung ihrer Einwohner nach Russland – und die Intensivierung der staatlichen Verbindungen zu Weißrussland sind aber deutlich zu erkennen. Dass Russland die Entwicklung eines gemeinsamen Staates mit Weißrussland – der schon 1999 verabredet wurde und seither vor allem von Weißrussland abgewehrt wurde – intensiver anstrebt, ist den Äußerungen von Präsident Putin zu entnehmen. Die Frage für Moskau ist lediglich, wie dies angesichts der bestehenden Lage – der mangelnden Legitimität der weißrussischen Regierung und der zunehmenden Abhängigkeit des Landes von Russland – taktisch klug umgesetzt werden kann, sodass es nicht nach einer rabiaten Übernahme, sondern nach einer freudigen Wiedervereinigung aussieht.

Inkonsistenzen der EU-Außenpolitik

Für die Ukraine stellt sich diese Frage schärfer, weil sie derzeit stärker nach Westen orientiert ist. Das muss nicht so bleiben. Die USA und die EU sind bestrebt, diese Haltung zu verfestigen. Die USA und die Ukraine verstehen ihre Beziehungen als strategische Partnerschaft, in der die USA die Ukraine auf allen Gebieten unterstützen, sodass deren europäische und euro-atlantische Wünsche in Erfüllung gehen, wie es in einer gemeinsamen Erklärung vom September 2021 nochmals ausführlich verlautbart wurde. Ähnlich steht die EU in einem Zielkonflikt mit Russland, der mit dem Assoziierungsabkommen 2017 verfestigt wurde. Das 23. Gipfeltreffen zwischen der EU und der Ukraine im Oktober 2021 in Kiew band die Ukraine durch weitere Abkommen enger an die EU. Dass gleichzeitig Deutschland durch die Pipeline Nord Stream 2 in der Einschätzung vieler Beobachter zu zukünftigem Druckpotential Russlands auf die Ukraine beiträgt, gehört zu den bestehenden Inkonsistenzen der EU-Außenpolitik – und ist ein Mittel in der Hand Russlands, die unterschiedlichen Eskalationsbereitschaften hinsichtlich der Ukraine ausloten zu können.

Die Lage an der Ostgrenze der EU trägt derzeit zu Zerwürfnissen in der EU bei, erschwert die Suche nach einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und eröffnet Russland Handlungsspielräume, die es – sofern das Vorgehen der letzten 20 Jahre fortgeführt wird – taktisch geschickt und mit Überraschungen für die EU-Regierungen nutzen wird.

 

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