Russland - Die Kurtisane aus der Provinz

Anastasia Waschukjewitsch ist eine junge Frau, die sich „Fischlein“ nennt und darauf spezialisiert hat, Oligarchen um den Finger zu wickeln. Wie aus der bezahlten Affäre mit einem russischen Milliardär eine Staatsaffäre wurde, beschreibt Schriftsteller Viktor Jerofejew

Erschienen in Ausgabe
Nennt sich Milliardärsjägerin: Anastasia Waschukjewitsch / picture alliance
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Viktor Jerofejew ist einer der bekanntesten russischen Schriftsteller („Der gute Stalin“, „Die Akimuden“)

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Russland ist ein Spiel ohne Regeln. Genauer gesagt: gegen die Regeln. Regeln werden aufgestellt, um gegen sie zu verstoßen. Das tun alle, von ganz oben bis ganz unten. Der Regelverstoß ist die Norm. Ein Land der Jäger und Jägerinnen. Jeder jagt – der eine fürs Überleben, der andere für den Ruhm, der Nächste zum Vergnügen.

Wladimir Putin und seine Entourage ganz oben jagen die Chimären der „großen“ sowjetischen Vergangenheit. In verschiedenen Teilen der Gesellschaft wächst allerdings die Kritik an Putins Vernunft. Sowohl in der Mittelklasse als auch in der Intelligenzija und in der Geschäftswelt wird sie laut. Und auf einmal ist sie aus ganz unerwarteter Ecke zu vernehmen. Zu Wort gemeldet hat sich ein junges Sternchen, Nastja Rybka, die absichtlich oder unabsichtlich die putinschen Chimären entlarvt hat. Ihre Kritik trifft die da oben umso schmerzhafter, weil sie von einer Insiderin kommt, die das Privatleben der Mächtigen ausplaudert.

Niemand widerspricht Putin

Darf ich vorstellen: Nastja Rybka („Fischlein“) alias Anastasia Waschukjewitsch. Von ihren Freunden als Model bezeichnet, studierte Biologielehrerin, zitiert gern Kant. Sie verfügt über rührende, geradezu naive Gesichtszüge einer Provinzschönheit. Stammt aus der stillen weißrussischen Stadt Babrujsk. In die russische Hauptstadt gekommen, um sie zu erobern. Ihre Feinde behaupten, sie arbeite im ältesten Gewerbe der Welt. Sie selbst nennt sich Milliardärsjägerin.

Um zu verstehen, wohin Russland treibt, ob es über dem Abgrund schwebt oder einen eigenständigen Weg wählt, ob es seinen Präsidenten überleben oder in Scherben gehen wird wie die Sowjetunion, möchte ich eine beliebte russische Redensart anführen: „Lust ist stärker als Zwang.“ Das sagt man über ein Verlangen (Lust), das stärker ist als jedes Verbot (Zwang), wenn man keinerlei Angst verspürt vor irgendwelchen Konsequenzen. Das unbezwingbar mächtige Verlangen verbindet zwei gegensätzliche Pole des heutigen russischen Lebens. Der obere Pol – das ist Zar und Gott Putin, dem niemand zu widersprechen wagt. Der untere Pol ist für mich die Heldin im Rybka-Gate. So hat man den Skandal getauft, der um die Person Nastja Rybka entbrannt ist.

Alle sind dem Präsidenten untergeordnet

Die obere Welt – das sind Luxus, Glanz und Gloria, Hurrapatriotismus, zur Schau getragener Militarismus, nukleares Säbelrasseln, pathologischer und zugleich heuchlerischer Antiamerikanismus, die angeblich coolste Spiritualität der Welt, Verachtung der europäischen Schlappschwänze, die Dauerprozession der russisch-orthodoxen Kirche. Faktisch ein Nährboden für einen neuen Messianismus, begründet auf der Überlegenheit der wichtigsten nationalen Werte. Das hat Parallelen sowohl im Stalinismus als auch in anderen totalitären Systemen. Eine Art Stalinismus light. Die untere Welt – das ist die marginale Parallelwelt der Gegenkultur, die mit Gelächter, derber Erotik und obszöner Sprache am verlogenen Pathos der oberen Welt parasitiert.

Beginnen wir mit der oberen Welt. Putin spielt leidenschaftlich gern Eishockey. Manchmal hat es sogar den Anschein, er würde viel lieber Eishockey spielen als regieren. Jedenfalls finden regelmäßig abendliche Partien mit Veteranen der sowjetischen Nationalmannschaft statt. Diesen Winter auf der Eisbahn mitten auf dem Roten Platz. Die ganze Zeit ist er aufs gegnerische Tor losgestürmt, hat Tore geschossen und dann siegreich mit dem Schläger gegrüßt. Natürlich gewinnt er immer. Die Gegner kapitulieren lieber. Für Putin ist der Sieg wichtig, um jeden Preis. Und wie sollte man da nicht kapitulieren, wo er doch, ich wiederhole, Zar und Gott ist! Selbst in der totalitären Sowjetunion unterstand der Führer des Landes zumindest formal dem Politbüro. Übrigens nicht immer nur formal – Chruschtschow zum Beispiel wurde 1964 auf einer Sitzung des Politbüros gestürzt. Putin ist heute gegenüber niemandem rechenschaftspflichtig, ihm sind alle Ebenen der Macht untergeordnet, ganz Russland, von den Oligarchen bis zu den Pennern.

Zermürbender Dauerkrieg um die Krim

Darangewöhnt, dass ihm alle stets den Puck zuspielen, fing Putin an, politisches Eishockey in der internationalen Arena zu spielen. Es begann ein Spiel gegen alle Regeln, gegen internationale Normen. Zuerst gewann Putin 2008 den Krieg gegen Georgien. Der Westen spielte ihm letztlich in die Hände; negative Folgen für Russland gab es nicht. Indessen wäre es falsch zu meinen, Putin habe keine eigenen Regeln. Er hat diese in den Rang eines staatlichen Programms erhoben. Er hat seinen eigenen Verhaltenskodex, vieles davon ist geheim. Klar ist jedoch, dass Putin die Machtposition Russlands wiederherstellen, das Land wieder zu einer Supermacht machen will, und wenn er schon nicht die Grenzen der Sowjetunion realiter zurückhaben kann, so doch zumindest virtuell, in Form von Einflusszonen. Und hier stoßen wir auf die Wendung „Lust ist stärker als Zwang“.

Aus den Niederungen der Gesellschaft hat sich Putin nach ganz oben hochgekämpft, ist ein erfolgreicher Präsident geworden. Aus vielerlei Gründen hat er ein Bündnis mit dem Westen ausgeschlagen, insbesondere, weil die Modernisierung Russlands für ihn nicht zu stemmen war. Und dann wollte er stattdessen die verlorenen Gebiete wieder einsammeln und als Jäger der historischen Werte des russischen Autoritarismus auftreten. 2014 wurde die Krim zu seiner geografischen Geliebten, die er in einer forschen Aktion eroberte – einer gut durchdachten, unblutigen Spezialoperation. Eigentlich wollte er noch weiter ukrainisches Gebiet erobern und den moskaufreundlichen Staat Neurussland gründen, unter dem Applaus russischer Nationalisten. Doch nicht alles gelang, im Donbass entwickelte sich ein zermürbender Dauerkrieg, aber die Krim hat er behalten (und gibt sie zu seinen Lebzeiten nicht wieder her).

Putin dachte, der Westen würde ihm abermals in die Hände spielen. Und man muss sagen, er lag damit nicht ganz falsch. Der Westen schwankte. Doch dann gab er sich doch nicht freiwillig geschlagen. Allerdings wirkt die westliche Mannschaft nicht gerade geschlossen. Nichtsdestoweniger begann man, Sanktionen zu verhängen. Russland fand sich in Isolation, verlor das Vertrauen des Westens. Und es wird unmöglich sein, dies unter Putin wiederherzustellen. In Russland werden die Sanktionen als Rache verstanden.

Ungewöhnliche Figuren machen Karriere

Weiter ging es bergab. Erfolge auf dem Weg zur Wiederherstellung von Einflusszonen sind nicht zu vermelden. Selbst die ehemaligen Sowjetrepubliken erkannten die Annexion der Krim nicht als rechtmäßig an. Die Ukraine warf sich vor lauter Angst nicht Russland, sondern dem Westen in die Arme und erhält von Amerika militärische Unterstützung. Die Sanktionen des Westens, ein neuer Kalter Krieg, Wettrüsten, das militärische Eingreifen in Syrien und so weiter – all das kann nicht ohne Auswirkung auf die russische Wirtschaft bleiben. Die Realeinkommen der Bevölkerung sinken stetig seit fünf Jahren. Das Rating des Präsidenten fällt ebenfalls, aber sein Potenzial ist dennoch unbegrenzt. Putin hat sich mit „Silowiki“, Geheimdienstlern und Militärs, umgeben, wichtige Posten mit früheren Kollegen vom KGB besetzt und das Land so in eine belagerte Festung verwandelt.

Eine abgeschottete Politik gebiert Monster. Das politische Leben in Russland ähnelt einem Unterwasserreich, an dessen Oberfläche sich von Zeit zu Zeit erstaunliche Figuren zeigen. So war es vor der Revolution, als sich unter Nikolaus II. Rasputin zum Propheten erklärte. So war es zu Sowjetzeiten, beginnend mit der Revolution, als Lenin und Trotzki an der Oberfläche auftauchten, und dann für längere Zeit Stalin mit seinen „Lakaien“. Unter Jelzin machte sein Leibwächter Korschakow Karriere. Unter Putin sein Koch Prigoschin.

An die Oberfläche gespült wurde auch Oleg Deripaska, der zum russischen Aluminiumkönig aufstieg, der Besitzer von Flughäfen, Versicherungsgesellschaften und noch vielem mehr wurde, 2008 als reichster Einwohner Russlands galt – ein Mann aus sehr bescheidenen Familienverhältnissen, der sein Arbeitsleben als Elektrikergehilfe in einer Fabrik begonnen hatte. Und jetzt ist er von den amerikanischen Sanktionen betroffen wegen des Verdachts, die Präsidentschaftswahlen in Amerika 2016 beeinflusst zu haben.

Die Milliardärsjägerin

Nastja Rybka hat nicht die oberen Etagen der Macht erklommen, ist jedoch überraschenderweise eine mediale Berühmtheit in einem riesigen politischen Sexskandal geworden, der mit eben diesem Oleg Deripaska in Verbindung gebracht wird. Nastja Rybka, unsere Heldin der Welt hinter den russischen Spiegeln, kam im Januar 2019 aus einem thailändischen Gefängnis frei, wo sie fast ein Jahr verbracht hatte, zusammen mit ihrem Freund und Lehrer für „Sextraining“ Alex Lesley (eigentlich Alexander Kirillow).

Wofür waren sie in der thailändischen Hölle gelandet? Rybka bezeichnet sich selbst, wie gesagt, als Milliardärsjägerin. Man kann sich natürlich nennen wie man will, aber als Jägerin war sie tatsächlich erfolgreich. Ihre Lebensgeschichte ist der reinste Roman. Der skandalöseste Teil dieses Romans ist ihr freimütiges Buch. Das „Tagebuch der Verführung eines Milliardärs“ wurde ein Verkaufsschlager. Ort der Handlung: die Luxusjacht des Kreml-Freundes Deripaska, der sich von 19-jährigen Mädchen einer speziellen Escort-Agentur begleiten lässt. Pikant daran ist zudem, dass auch ein gewisser „Papa“ mit von der Partie war – der Vizepremier der russischen Regierung Sergei Prichodko, ein höchst einflussreicher Mann in Sachen Außenpolitik. Die Namen im Buch sind geändert, und statt der norwegischen Küsten wird Grönland beschrieben, aber jeder versteht ohnehin, worum es geht. Auf dieser Schiffsreise wird Rybka zur „Lieblingsgeliebten“ des Oligarchen. Sie erobert ihn, macht aus ihm ihren „Kleinen“, der ihr hinterherläuft wie ein verliebter Bengel.

Es gehe ihr nicht ums Geld

Wie sie den Oligarchen erobert? Sie verstößt gegen Regeln. Sie spielt die Verliebte, ist im Bett besser als er, schickt Konkurrentinnen, Betreuerinnen und Leibwächter in die Wüste. Für den Sieg ist sie zu allem fähig: Schwindeleien, heimliche Beratungen per Handy mit Alex Lesley, Zynismus, falsche Zärtlichkeiten, Risikobereitschaft. Sie weiß sehr gut, dass sie, wenn der Betrug auffliegt, den norwegischen Fischen zum Fraß vorgeworfen wird. Das Leben einer Mätresse ist auf so einer Jacht nichts wert.

Doch wozu erobert sie den Oligarchen? Will sie Geld? Nein, beteuert Rybka. Der Oligarch träumt von einer Fortsetzung der Affäre, lädt sie ein zu einer Reise nach Japan, aber sie läuft ihm davon. Sie hat ihn gehabt und zeigt ihm die kalte Schulter, die Rollen sind vertauscht. In ihrem Buch beschreibt sie gnadenlos ihren Oligarchenliebhaber, zieht ihn nackt aus und nimmt jedes Detail unter die Lupe. Gnadenlos beschrieben wird auch „Papa“.

Rybka erzählt praktisch von Leibeigenschaft, die auf der Jacht herrscht, von der Rechtlosigkeit der Escort-Mädchen, von den Übergriffen der Männer, ihren zynischen Witzen, der Überheblichkeit, ihrem niederträchtigen Charakter. Der Gutsbesitzer des 21. Jahrhunderts und seine rechtlosen Hofschranzen, Lakaien, Verwalter. Stinklangweilige luxuriöse Gelage, bei denen kein einziges Wort gesprochen wird. Geheime Gespräche der Männer, bei denen sie als anerkannte Geliebte anwesend sein darf.

Wie es um die Moral in Russland steht

Sie zeigt, dass Russland nicht von tugendhaften Menschen regiert wird, sondern von üblen Gestalten ohne jede Moral. Unglaublicher Reichtum der einen und vollkommene Rechtlosigkeit der anderen. Das Buch erweist sich als Bloßstellung von Putins Russland, obwohl Rybka nie Dissidentin war. Sie entlarvt die Scheinheiligkeit der Herrschenden, die durch ihre Propagandisten ihre ach so hohe Spiritualität verkünden lassen, doch in Wirklichkeit ist alles nur leere Hülle. Die Propagandisten glauben ihr eigenes Wort nicht, und die russische Welt auf der Jacht hat wenig Ähnlichkeit mit einer russisch-orthodoxen Utopie. Wenn also Putin der Garant für Russlands Stärke ist, dann ist Rybka die Zerstörerin des Landes. Antipoden, kurz gesagt. Aus Sicht der russisch-orthodoxen Kirche ist sie nicht nur eine Sünderin, sie setzt auch die Provokationen von Pussy Riot fort.

Wie es um die Moral in Russland steht, das ist eine Frage für sich. Nicht anders als in jeder autoritären Gesellschaft existiert auch hier eine Ebene unter und eine über der Oberfläche. Putin hat sich total eingemauert, und sein Privatleben verstehen zu wollen, heißt, in Gerüchte einzutauchen, die ihn unglaublich ärgern. Alle Informationen über seine Familie gelten nahezu als militärisches Geheimnis, was übrigens für einen früheren KGB-Offizier normal ist. Im Privatleben des Präsidenten sollte man besser nicht herumstochern – die Journalisten, die versucht haben, Nachforschungen anzustellen, waren mit ernsthaften Problemen konfrontiert.

Das ihm untergebene Land selbst frönt im Prinzip einem relativ freien Sexualleben. Jedenfalls folgt es nicht den konservativen Prinzipien der Kirche. Rybka, von der Skandalwelle hochgespült, ist zum Symbol für freien Sex geworden. Ihre Geschichte zeugt von der unglaublichen Instabilität des russischen Staates. Von seiner Heuchelei. Von seinen Klippen und Stolpersteinen.

Steckt der Oligarch dahinter?

Kaum war Rybkas Buch erschienen, brach ein Sturm los. Der wichtigste Oppositionelle Russlands, Alexei Nawalny, machte sich den Skandal zunutze. Er stellte eine Videobotschaft ins Netz, in der er die korrupte Verflechtung von Oligarchentum und Staatsmacht aufzeigte. Der Kremlfunktionär Pri­chodko erscheint in dem veröffentlichten Videomaterial als Besitzer eines luxuriösen Anwesens, einer teuren Wohnung und weiterer Reichtümer, die zu seinem offiziellen Einkommen nicht passen wollen. Nawalny hat zwar keine besonders gute Meinung von Rybka, doch er sieht in ihr ein Opfer.

Seit Erscheinen dieses Videos fürchtet Rybka die Rache des von ihr bloßgestellten Deripaska und ging nach dem Motto vor: Angriff ist die beste Verteidigung. Sie erklärte öffentlich, auf der Jacht von dem Oligarchen und dem Politiker vergewaltigt worden zu sein. Doch schon am nächsten Tag distanzierte sie sich von ihren Worten und behauptete, das sei „Trolling“ gewesen. Deripaska verklagte Rybka und Lesley dennoch wegen gesetzwidrigen Eindringens in sein Privatleben. Zusammen mit ihrem „Lehrer“ und faktisch dem Leiter einer Sexsekte flüchtet Rybka vorsichtshalber nach Thailand. Doch dort werden die beiden festgenommen und landen im Gefängnis, unter der Anschuldigung, illegales „Sextraining“ angeboten zu haben.

Nawalny ist davon überzeugt, dass der Oligarch dahintersteckt. In einem weiteren Video führt er ein abgehörtes Telefonat (das ihm gewisse Geheimdienstler zugesteckt haben sollen) von Mitarbeitern des Oligarchen an, in dem diese die thailändischen Behörden bedrängen, Rybka einzusperren. Die Geschichte wird zur internationalen Angelegenheit. Um sich den Hals zu retten und nicht für lange Zeit im Gefängnis zu verschwinden, wendet sich Nastja an amerikanische Behörden mit der Bitte um Hilfe. Sie ist bereit, ihnen von jenen geheimen Gesprächen zu erzählen, die die mächtigen Männer über die Rolle Russlands bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen geführt haben. Die Amerikaner lehnen es ab, Nastja anzuhören – sie wandert hinter Gitter. Im Gefängnis muss sie auf dem nackten Betonboden schlafen, mit 90 Frauen in einem Raum. So vergehen zehn Monate.

Die Rekonstruktion der Sowjetunion

Aber kehren wir zurück zu Putin. Der Sieg auf der Krim war nicht schwierig, doch die Folgen erwiesen sich als unkalkulierbar. Ehrlich gesagt, auch ich selbst habe bis zum letzten Moment nicht an die Einnahme der Krim durch Putin geglaubt; ich habe das für Bluff gehalten, für ein Ass im Dialog mit der neuen Staatsmacht in Kiew. Aber dann gehörte die Krim plötzlich ihm, und es wurde klar: Er tickt vollkommen anders, er legt es darauf an, die Gegner auszutricksen, unter Anwendung aller verfügbaren Mittel. Es gibt da etwas im putinschen Machtsystem, etwas bislang nie Dagewesenes: Nicht einmal unter Stalin haben die Geheimdienstler eine solche Rolle gespielt wie heute.

Damals kämpfte man für den Frieden in der Welt (obwohl auch das ein „Fake“ war), man trat gegen mittelalterlichen Obskurantismus auf. Putin aber hat keine Angst vor einem Weltkrieg, denn eine Welt, in der es für Russland keinen Platz als Großmacht gibt, kommt für ihn nicht infrage. Zu diesem Bild gibt es einen metaphysischen Zusatz, den Putin neulich lieferte: Wenn auf der Erde alle umkommen, dann werden nur die Russen im Himmel Erlösung finden und ins Paradies eingehen, alle anderen werden einfach „krepieren“.

Putins Spiel: Das ist Rekonstruktion, reale oder virtuelle, der Sowjetunion, ihrer Macht, ihres Großmachtstatus. Nastja Rybkas Spiel: Das ist der Verstoß gegen alle Konventionen, Lust um der Lust willen, Jagd auf Oligarchen mit dem Wunsch, Idioten aus ihnen zu machen. Ihre Kultur heißt Hedonismus ohne Grenzen. Das Ziel: einen „Brüller“ zu produzieren. Nur ihrem „Lehrer“ treu, hat Rybka ein kraftvolles, talentiertes Buch geschrieben. Im Übrigen ist ihre wichtigste Triebfeder weniger der Wunsch nach Freiheit, sondern Macht, die Manipulation von Menschen, Befriedigung der Eitelkeit. Hinzu kommt eine leichte Verachtung gegenüber den Verführten.

Die liberale Öffentlichkeit ist außer sich

Nach zehn Monaten der Hölle des thailändischen Gefängnisses wird Nastja in die Heimat abgeschoben – nach Belarus. Umsteigen in Moskau. Beim Umsteigen ein weiterer Coup: Im Transitbereich des Flughafens Scheremetjewo angekommen, hätte sie sich eigentlich in Sicherheit befinden müssen. Doch mehrere Männer in Zivil stürzen sich auf sie, setzen sie mit Gewalt in einen Rollstuhl und bringen sie – nach Russland. Sie behaupten frech, in Scheremetjewo gebe es keinen Transitbereich.

Klar, wenn man dem Nachbarn die Krim wegnehmen kann, warum dann nicht erklären, es gebe in Scheremetjewo keinen Transitbereich? Dem Video nach zu urteilen, das im Internet zu sehen ist, hat Rybka sich gewehrt, kam aber gegen die Männer in dunklen Jacken nicht an. Jetzt sitzt sie also abermals im Gefängnis. Diesmal in Moskau. Sie wird beschuldigt, Mädchen zur Prostitution gezwungen zu haben. Diese Anklage haben ihre Freundinnen erhoben. Offenbar auf Druck der Behörden. Der Rachefeldzug geht weiter. Die beiden mächtigen Männer würden allzu gern mit ihr abrechnen. Sie hat sie vor deren Familien kompromittiert. Mehr noch, sie hat ganz Russland in einem hässlichen Licht erscheinen lassen.

Die liberale Öffentlichkeit in Moskau ist außer sich. Manche befürchten, die Gefängniswärter könnten Rybka und ihren Freund klammheimlich in ihrer Zelle aufhängen und das als Selbstmord deklarieren. Der clevere Lesley erklärte vor Gericht, dass an ihrem Schlamassel in Thailand Nawalny und das amerikanische Außenministerium schuld seien. Nawalny widersprach nicht – er versteht, dass es hier um Kopf und Kragen geht. Und merkt an, dass nicht Rybka andere zur Prostitution animiert habe, sondern im Gegenteil ihre „Freunde“ auf der Jacht sie dazu bewegt hätten. Vor Gericht erklärte Rybka, sie besitze keine kompromittierenden Details gegen Deripaska und bitte ihn um Entschuldigung. Als sich schließlich ankündigte, dass alles im Fall Rybka aufs Waschen schmutziger Wäsche des Staatsbeamten und des Oligarchen hinauslaufen würde, entließ das Gericht Rybka in die Freiheit. Unter der Auflage, jederzeit nach Aufforderung bei der Polizei vorstellig zu werden. Sie und Lesley mussten unterschreiben, keinerlei Details des Falles preiszugeben. Eine Art Kuhhandel.

Kein Aufbegehren der verarmten Massen

Rybka besitzt also (so behauptet sie zumindest) kompromittierendes Material gegen Trump. Was das wohl sein mag? Seine mögliche Verbindung zu den Russen, die ihm helfen sollten, die Wahlen zu gewinnen? Trump hängt nach wie vor an einem seidenen Faden. Putin braucht bloß mit dem Finger zu schnipsen, und der Faden reißt. Trump weiß das. Auch wenn Putin einfach nur bluffen sollte. Aber auch Rybkas Geständnisse könnten eine nicht geringe Bedeutung haben: Prichodko und Deripaska, die über Trumps Wahl auf der Jacht sprechen – das sind Schlüsselfiguren im russisch-amerikanischen Backstage-Bereich.

Nach der Gerichtsverhandlung ist Rybka auf Tauchstation gegangen. Genau da befindet sie sich jetzt. Dort, am Grund, erwacht angeblich ihre Sehnsucht nach Deripaska. Sie gesteht, dass sie ihn vermisst, dass sie überlegt, wie sie ihn erreichen kann, auf seinen Anruf wartet. Was soll sie auch tun? In den Westen reisen und dort auf die Jagd gehen? Aber der Westen ist nicht der beste Ort für die russische Jagd. Wie geht es weiter? Vermutlich wird man über die Angelegenheit Gras wachsen lassen und alles tun, damit Rybka alsbald in Vergessenheit gerät. Ihre härteste Strafe, das ist die Geschichte von Aschenputtel – nur ohne glückliches Ende.

Und Putin? Das chronische Absinken des Lebensstandards in Russland wird eher keine revolutionären Aktionen der Massen hervorrufen, obwohl die Massen tatsächlich in Armut leben, und der En­thusiasmus in Sachen Einverleibung der Krim passé ist. Höchstwahrscheinlich wird Putin bis zum Ende seiner Tage als Zar weiter regieren oder höchstens aus gesundheitlichen Gründen abtreten. Wird Russland ihn überleben? Der Verstoß gegen internationale Normen ist selbst für Putin alles andere als einfach. Er herrscht mit eiserner Hand, von ihm hängen alle wichtigen Entscheidungen ab. Eine solche Machtfülle wird keiner seiner potenziellen Nachfolger auf einen Schlag erhalten. Wer auch immer das sein mag, ein extremer Reaktionär, ein Konservativer oder ein heimlicher Liberaler. Die Dynamik, die entsteht durch das Abnehmen der Angst, könnte Russland dahin bringen, wo die Sowjetunion geendet hat. Früher oder später. Putin hat die Rolle Stalins in der Epoche des Internets angenommen. Putin ist der Harnisch Russlands, Rybka die Diagnose seiner Heuchelei.

Der Putinismus wird sich nicht halten

Ministerpräsident Dmitri Medwedew, kontaminiert vom Putinismus, wartet geduldig, bis er wieder an der Reihe ist. Er könnte plötzlich dastehen wie Chruschtschow nach Stalins Tod. Wahrscheinlich ist er der einzige Kanal, durch den Russland in eine anständige Zukunft gelangen kann. Medwedew könnte wohl die Macht in Händen halten und gleichzeitig die Beziehungen zum Westen verbessern. Jedenfalls wäre er eine Übergangsfigur.

Nach Putin wird sich der Putinismus nicht halten. Es wird irgendetwas anderes geben. Bei einer ungeschickten Machtübergabe könnte Russland aus der festen Umklammerung der Staatsmacht gleiten und zerbrechen. Was mit den Scherben tun? Ehrlich gesagt, ich würde wollen, dass das Land erhalten bleibt. Ich denke, dass auch der Westen nicht begeistert wäre über einen Scherbenhaufen. Aber wie es erhalten? Auf diese Frage wird man aus historischer Perspektive gesehen antworten müssen: ziemlich bald.

„Jetzt will ich Putin verführen!“, ertönt (in einem frischen Internet-Interview) von ganz unten die Stimme der unbezwingbaren Nastja Rybka. Na dann, Rybka, dawaj! Oder wie die junge Generation in Russland sagen würde: Die Fahne hoch, auf geht’s ohne Rücksicht auf Verluste!

Aus dem Russischen von Beate Rausch

Dies ist ein Artikel aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.










 

 

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