Russland - In den Untergrund gedrängt

Oppositionsarbeit als „Extremismus“, geflohene Kritiker, marginalisierte Medien: Wenige Monate vor den Parlamentswahlen in Russland weiten sich die Repressionen gegen Politiker, Aktivisten, Journalisten aus – und Putin trifft seinen US-Amtskollegen Biden in Genf.

Das Graffiti in Genf zeigt den russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny Foto: Martial Trezzini/dpa
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Autoreninfo

Simone Brunner lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien. Sie hat in Sankt Petersburg und in Wien Slawistik und Germanistik studiert und arbeitet seit 2009 als Journalistin mit Fokus auf Osteuropa-Themen.

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Wladimir Putin ist noch nicht da, aber Alexej Nawalny schon. Bevor morgen US-Präsident Joe Biden in Genf erstmals auf seinen russischen Amtskollegen Putin trifft, ist auf der Rue de Lyon eine Wandmalerei mit dem Konterfei des russischen Regimekritikers aufgetaucht. Eine Schwarz-Weiß-Malerei des russischen Oppositionellen, die Finger zu einem Herzen geformt. Überschrift: „Ein Held unserer Zeit.“

Die Causa Nawalny mag Putin gerade dann verfolgen, wenn er westliche Regierungschefs trifft. Doch zu Hause macht er mit Nawalny und seinen Anhängern üblicherweise kurzen Prozess. Graffiti oder Wandbilder, die den inhaftierten Regimekritiker zeigen, werden in Russland einfach innerhalb weniger Stunden übermalt. Vorige Woche kam dann der Todesstoß für Nawalnys Organisation: Ein Moskauer Stadtgericht hat diese, wie den „Fonds im Kampf gegen die Korruption“ (FBK) oder seine Wahlkampfstäbe in mehr als 80 russischen Städten, als „extremistisch“ verboten.

Auf einer Stufe mit Al-Qaida

Die Geschichte der Nawalny-Organisationen ist eine Geschichte der Repressionen gegen sie: Razzien, Festnahmen, gesperrte Konten, die Einstufung als „ausländischer Agent“. Doch das Urteil ist der härteste Schlag in der Geschichte der Nawalny-Bewegung. Damit werden die Institutionen der größten russischen Oppositionsbewegung liquidiert – und auf eine Stufe mit Al-Qaida oder der Taliban gestellt. Das Verbot tritt 30 Tage nach der Urteilsverkündung in Kraft.

Dennoch – die Einstufung als „extremistisch“ war eigentlich nur noch eine Frage der Zeit gewesen. Bereits im April hatte die Moskauer Staatsanwaltschaft dazu einen Antrag gestellt. Zur Erinnerung: Nawalny war im August des Vorjahres von einem Todeskommando des Geheimdienstes FSB in Sibirien mit Nowitschok vergiftet worden, wurde aber an die Berliner Charité zur Behandlung ausgeflogen. Als er im Januar nach Moskau zurückkehrte, wurde er an der Passkontrolle festgenommen und später zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.

„Unterstützung“ bleibt diffus

Der Extremismus-Paragraf kriminalisiert alle Mitarbeiter, Spender oder einfach nur Sympathisanten des Nawalny-Netzwerkes, die in der einen oder anderen Weise Nawalnys Organisationen unterstützt haben. Wie weit der Begriff „Unterstützung“ gefasst wird, bleibt indes diffus. Reicht schon ein Kommentar in den sozialen Medien? Oder die Teilnahme an einer verbotenen Demonstration? Eine Spende?

Ein neues Gesetz regelt zudem, dass alle Personen, die in den vergangenen zwölf Monaten direkt in den Nawalny-Organisationen aktiv waren, für drei bis fünf Jahre vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind. Ein schwerer Schlag, denn gerade auf lokaler Ebene, wie in Nowosibirsk oder Tomsk, hatten zuletzt Nawalny-Leute den Sprung in die Verwaltungen geschafft. Symbole der Nawalny-Organisationen stehen nun ebenso unter Strafe. Der Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow gab an, die FBK-Stiftung und die Büros seien allesamt aufgelöst worden. Wer Nawalnys Organisationen weiter finanziert, dem sollen empfindliche Geldstrafen oder sogar bis zu acht Jahre Haft drohen.

Kreml-Partei schwächelt

Das Urteil strahlt aber über den Fall Nawalny hinaus: „Jetzt ist es offiziell: Der politische Kampf gegen Wladimir Putin ist heute schon Extremismus“, resümiert Michail Fischmann, der Moderator des Online-Fernsehsenders Doschd/TV Rain in seiner Wochensendung. Das Extremismus-Urteil bringe möglicherweise eine neuen „modus operandi“ in die russische Politik, schreibt auch der Politologe Wladimir Postuchow in einem Beitrag: Inzwischen ginge es nicht mehr nur darum, Aktivisten, die gegen das Regime kämpfen, zum Schweigen zu bringen. Sondern jede Art von Kritik oder Pluralismus zu verfolgen.

Im Herbst finden in Russland Parlamentswahlen statt. Die Kreml-Partei „Einiges Russland“ schwächelt in den Umfragen. Fürchtet sich Russland vor einem Belarus-Szenario, wo sich Präsident Alexander Lukaschenko offensichtlich eine Zustimmung von 80 Prozent erfälschen musste und Massenproteste ausbrachen? Wahlen sind auch in Russland weder frei noch fair, sie dienen lediglich als „Ritual der politischen Teilnahme“, um den Schein von Legitimation zu wahren, wie es die beiden russischen Politologen Andrej Kolesnikow und Boris Makarenko ausdrücken.

Wahlen sind ein Stresstest

Doch Wahlen sind auch in der russischen Autokratie ein Stresstest, an dem sich auch Proteste entzünden können, wie nach der Dokumentation von Wahlfälschungen in Folge der russischen Parlamentswahlen 2011/12. Nawalnys Team zieht mit der Strategie des „umnoe glosowoanie“ (smart voting) in den Wahlkampf: eine App, um im jeweiligen Wahlkreis den aussichtsreichsten Gegenkandidaten zur Kreml-Partei zu ermitteln und so ihr Machtmonopol aufzuweichen. Ein Stachel im Fleisch der Staatsmacht.

Es ist wohl kein Zufall, dass gerade jetzt eine Repressionswelle das Land trifft, um kritische Stimmen zu marginalisieren. Im Mai ist die in Riga ansässige russische Nachrichtenseite „Meduza“ als „ausländischer Agent“ eingestuft worden, was das regimekritische Portal an den Rand des Ruins bringt. Vorige Woche ist der bekannte Oppositionspolitiker Dmitrij Gudkow, der bei den Parlamentswahlen antreten wollte, in die Ukraine geflohen.

„Wir werden nicht verschwinden“

Gudkow, der von 2011 bis 2016 für die systemtreue Partei „Gerechtes Russland“ in der Staatsduma saß, sich aber immer mehr zum Putin-Gegner wandelte, gilt in der Elite als gut vernetzt. Auf Facebook wählte er dramatische Worte: „Man kann sagen, dass die öffentliche Politik in Russland zu Ende gegangen ist, weil Politiker zu einer Zielscheibe geworden sind. Es macht keinen Sinn mehr, im Land zu bleiben, wenn jede politische Aktivität zu Gefängnisstrafen nicht nur für die Politiker, sondern auch für Verwandte führen kann.“ Zuvor war nicht nur er, sondern auch seine Tante kurzzeitig festgenommen worden.

Kritischer Journalismus, Aktivismus und Oppositionspolitik wird in Russland zunehmen verunmöglicht, aus dem Land oder in den Untergrund gedrängt. Dieser Tage meldete sich aber auch Nawalny aus dem Gefängnis über Instagram zu Wort – und gab sich kämpferisch: „Wir sind eine Gruppe von Menschen, die sich aus jenen russischen Bürgern zusammensetzt, die gegen Korruption, für ehrliche Gerichte und die Gleichheit aller vor dem Gesetz sind.“ Und weiter: „Wir sind Millionen und werden nicht einfach so verschwinden.“

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