Russlands Zurückhaltung im Gaza-Konflikt - Moskaus Angst vor Destabilisierung

Normalerweise ist Russland ein wichtiger Akteur im Nahost-Konflikt. Doch bei der aktuellen Eskalation zwischen Israel und den Palästinensern hält sich Moskau auffällig zurück. Denn der Kreml befürchtet einen Aufruhr der muslimischen Bevölkerung im eigenen Land und an dessen südlichen Grenzen.

Raketen werden aus dem Gazastreifen auf Israel abgeschossen / dpa
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Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Israel und die palästinensischen Gebiete sind in die heftigsten Kämpfe seit Jahren verwickelt – und es gibt eine Großmacht, die nicht allzu weit entfernt liegt und die in letzter Zeit eine Reihe von Erfolgen bei der Friedensvermittlung vorweisen konnte: Russland.

Der Kreml ist politisch und militärisch in Syrien und Libyen engagiert; er vermittelte Ende letzten Jahres Frieden im Berg-Karabach-Konflikt, ist an Gesprächen über die Zukunft Afghanistans beteiligt und unterhält freundschaftliche diplomatische Beziehungen zu Israel sowie einen Dialog mit der Hamas, die von Moskau (im Gegensatz zu den USA und der Europäischen Union) nicht als Terrororganisation eingestuft wird.

Aber Russland hat sich ungewöhnlich zurückhaltend in den israelisch-palästinensischen Konflikt eingemischt, und die Gründe dafür verraten viel über Russlands innenpolitische Situation.

Russland hat traditionell einen bedeutenden Einfluss auf den Nahostkonflikt ausgeübt. Die Sowjetunion war maßgeblich am Entwurf der Landkarte des Nahen Ostens nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt. Im Jahr 1947 unterstützte die UdSSR die U.N.-Resolution 181, mit der Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat aufgeteilt wurde. Und im Mai 1948, nach der Ausrufung des Staates Israel, war die Sowjetunion das erste Land, das dessen Unabhängigkeit anerkannte und diplomatische Beziehungen zu ihm aufnahm.

Jahre später lieferte Moskau mit Hilfe der Tschechoslowakei Waffen im ersten arabisch-israelischen Konflikt, aber die Unterstützung schwand bis zum endgültigen Abbruch der diplomatischen Beziehungen nach dem Sechs-Tage-Krieg.

Moskau hat nur begrenzte Ressourcen

Heute vertritt Russland die Position, dass Ost-Jerusalem die Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates sein sollte, während West-Jerusalem die Hauptstadt Israels ist. Anstatt jedoch zu versuchen, Israel und die Hamas an den Verhandlungstisch zu bringen, hat der Kreml zu einem Treffen der Außenminister des Nahost-Quartetts (Russland, die USA, die UN und die EU) aufgerufen. Hierfür gibt es mehrere Gründe.

Zum einen hat Moskau nur begrenzte Ressourcen, um sich in einen so brisanten Konflikt wie den israelisch-palästinensischen einzumischen. Ein falscher Schritt könnte Russland Probleme mit dem Westen bereiten, wo die Unterstützung Israels hohe politische Bedeutung hat. Die russische Wirtschaft hängt stark von Exporten und Devisenzuflüssen ab, so dass der Kreml unbedingt vermeiden will, dem Westen einen weiteren Grund für Sanktionen zu geben. 

Moskau will auch keine Spannungen mit der Regionalmacht Türkei riskieren, die wegen ihrer aufkeimenden Beziehungen zu Russland in diesen Tagen zunehmend mit ihren Nato-Verbündeten in Streit gerät. Außerdem könnte die Instabilität im Nahen Osten die Ölpreise in die Höhe treiben; sie ist zudem ein Segen für Waffenexporteure – was beides der russischen Bilanz zugutekommt.

Zweitens hat es etliche frühere Versuche gegeben, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen, und alle sind gescheitert. Russland ist ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates und Mitglied des Nahost-Quartetts. Es will eine nachhaltige und umfassende Zweistaatenlösung, in der Israel und Palästina friedlich koexistieren können. Aber die russische Führung weiß auch, dass sie wahrscheinlich nicht der Vermittler sein wird, der dieses spezielle Problem löst.

Anstatt sein Image weiter zu beschädigen und politisches Kapital für einen gescheiterten Vermittlungsversuch zu verschwenden, zieht Russland es also vor, die anderen betroffenen Hauptakteure über das Quartett und den Sicherheitsrat einzubeziehen. Zumindest trägt Moskau auf diese Weise die Last des Scheiterns nicht allein.

Schließlich nannte der russische Präsident Wladimir Putin den wichtigsten Grund für Moskaus diplomatisches Zögern, indem er den Konflikt als in unmittelbarer Nähe zu Russlands Grenzen liegend bezeichnete und hinzufügte, er berühre direkt russische Sicherheitsinteressen. Um es klar zu sagen: Israel und die palästinensischen Gebiete liegen fast 1600 Kilometer von Russlands Grenzen entfernt.

Kaukasus ist muslimisch geprägt

In Wahrheit sind es vielmehr die Gegebenheiten in den Gebieten an den südlichen Grenzen Russlands, die Putin beunruhigen. Die Grenzregionen des Kaukasus sind überwiegend muslimisch geprägt, so dass man dort Israels militärisches Einschreiten im Gazastreifen während des heiligen Monats Ramadan als einen provokativen Akt betrachtet. Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt der Tschetschenischen Republik, forderte Israel auf, sich bei den Palästinensern für die Gewalt zu entschuldigen und sagte, Israels Aktionen seien eine Provokation, die darauf abziele, Muslime zum Gesetzesbruch zu zwingen.

Die Zahl der Muslime in Russland, besonders im Nordkaukasus, wächst weiter, nämlich aufgrund höherer Geburtenraten und Einwanderung hauptsächlich aus Zentralasien. In sieben Entitäten der Russischen Föderation stellen ethnische Muslime die Mehrheit der Bevölkerung: Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan, Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Baschkortostan und Tatarstan. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Bewohner dieser Republiken zur Unterstützung der Palästinenser auf die Straße gehen werden; 2017 zogen Demonstrationen zur Unterstützung der Rohingya-Gemeinschaft in Myanmar durch Grosny, Machatschkala und andere Städte im Nordkaukasus.

Jede positive Geste des Kremls gegenüber Israel könnte von den kaukasischen Republiken negativ aufgenommen werden und zu Protesten nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen Moskau führen.

Angst vor Destabilisierung

Angesichts der starken ethnischen Zersplitterung der Kaukasus-Republiken will der Kreml jegliche Art von Unzufriedenheit und Aufruhr dort vermeiden. Daher auch Moskaus Versuche, im jüngsten Streit zwischen Aserbaidschan und Armenien zu vermitteln, bei dem es um die Behauptung Eriwans ging, aserbaidschanische Truppen hätten unlängst die armenische Grenze in der Nähe des Schwarzen Sees überschritten. 

Russland kann auch nicht die Destabilisierung einer strategisch derart wichtigen Region zulassen, die zwischen Europa und Asien liegt und ein Sprungbrett für Russland tief in den Mittleren und Nahen Osten sowie in die Becken des Kaspischen-, des Schwarzen- und des Mittelmeers darstellt. Daher muss der Kreml, bevor er seine Bemühungen auf die Lösung eines weit entfernten Konflikts richtet, sicherstellen, dass die Kaukasusregion nicht durch die Kämpfe destabilisiert wird.

Normalerweise ein entscheidender Akteur im Nahen Osten, will Moskau ausdrücklich nicht in den israelisch-palästinensischen Konflikt eingreifen. Es will die guten Kontakte zu Israel und der arabischen Welt aufrechterhalten und vor allem die Beziehungen zu den eigenen, meist muslimischen Republiken nicht verderben. 

Ein Treffen des Nahost-Quartetts könnte eine Lösung vorantreiben, ohne dass Russland das ganze Risiko übernimmt. Und der Kreml hätte nichts dagegen, wenn am Rande eines solchen Treffens auch Gespräche über die Ukraine, das Schwarze Meer und über die Sanktionen gegen Russland geführt werden könnten.

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