Russischer Einmarsch in die Ukraine - Bluff oder Ernst?

An diesem Dienstag sprechen Wladimir Putin und Joe Biden wegen des russischen Truppenaufmarschs an der Grenze zur Ukraine. Aber wie plausibel ist das Szenario einer russischen Invasion? Fakt ist: Moskau hat existentielle strategische Interessen. Womöglich stellt der Kreml aber auch nur die Entschlossenheit des US-Präsidenten auf die Probe.

Ein ukrainischer Soldat in einem Graben an der Trennlinie zu prorussischen Rebellen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

So erreichen Sie George Friedman:

Anzeige

Vor zwei Wochen analysierte ich an dieser Stelle die russische Militärstrategie unter dem Titel „Das russische Trauma“. Hier eine kurze Zusammenfassung: Als die Sowjetunion kollabierte, verlor sie die Kontrolle über die westlichen Grenzgebiete, die jahrhundertelang das Fundament ihrer Sicherheit gewesen waren. Diese Grenzgebiete schufen eine strategische Tiefe, die potentielle Invasoren zu einem langen und anstrengenden Feldzug zwang, dem Russland widerstehen konnte. Russland war im 18. Jahrhundert von den Schweden, im 19. Jahrhundert von Frankreich und im 20. Jahrhundert zweimal von Deutschland angegriffen worden. Im 18. und 19. Jahrhundert hatte es auch Kriege mit der Türkei gegeben. 

1991 wurden diese Grenzregionen unabhängig, und aus russischer Sicht versuchten der Westen im Allgemeinen und die Vereinigten Staaten im Besonderen, die neu entstandenen Staaten zu kontrollieren. Dies stellte für Russland nichts Geringeres als eine existenzielle Bedrohung dar.

Einige Tage nach „Das russische Trauma“ verfasste ich einen weiteren Artikel, in dem ich argumentierte, dass man, um einen Feind zu besiegen, objektiv verstehen muss, wie dieser sich selbst sieht. Und Russland sieht sich als verwundbar an – vor allem vom Westen aus, von dem in der Vergangenheit die gefährlichsten Bedrohungen ausgingen. Weißrussland und die Ukraine bilden den Kern der russischen Ängste. Die ukrainische Grenze ist nur wenige hundert Kilometer von Moskau entfernt und stellt daher eine große Gefahr dar, sollte sie in die Hände von Feinden geraten. Die relativ kurze Entfernung wird einen Feind, der von dort aus angreift, nicht zermürben.

Tief sitzende Ängste

Aus russischer Sicht deutet die mangelnde Bereitschaft der Vereinigten Staaten, diese tief sitzenden Ängste anzuerkennen, auf aggressive und gefährliche Pläne der USA hin: Der einzige vorstellbare Wert, den Belarus und die Ukraine für die Amerikaner demnach haben kann, besteht darin, Russland in eine Lage zu versetzen, in der es sich den Vereinigten Staaten in allen kritischen Fragen beugen muss – oder eine regelrechte Invasion zu riskieren. Wo die Vereinigten Staaten keine übergeordneten Interessen haben, hat Russland hingegen existenzielle Interessen.

Russland muss deswegen handeln. In Belarus hat es das bereits getan. Voriges Jahr gewann Präsident Alexander Lukaschenko eine zweifelhafte und stark kritisierte Wahl. Die Russen griffen ein, um Lukaschenko zu retten, und üben nun die effektive Kontrolle über Weißrussland aus, wodurch die nordeuropäische Tiefebene, die wichtigste Invasionsroute von Europa nach Moskau, gesichert ist. Damit bleibt die Ukraine, ein viel größerer und wichtigerer Staat, im Fadenkreuz Russlands.

Russland scheint seine Streitkräfte entlang der ukrainischen Grenze zusammengezogen zu haben. Es wird vermutet, dass es sich um ein beträchtliches Kontingent handelt. Wenn das Ziel darin bestehen sollte, die Ukraine zu besetzen, reicht die Kraft zwar nicht aus, um die ukrainische Armee zu besiegen – aber Russland könnte zumindest ukrainische Schlüsselgebiete besetzen. Bei der Invasion eines Landes kann die Notwendigkeit, ständig Truppen abzuziehen, um verschiedene Gebiete zu besetzen und zu befrieden, die eigenen Kräfte schnell überfordern. Wenn die Berichte stimmen, ist dies also ein riskantes Unterfangen.

Der russische Kriegsplan ist natürlich geheim, aber die ukrainische Regierung hat eben erst ihre Vorstellungen über den Ablauf einer russischen Invasion veröffentlicht. Er besteht demgemäß aus drei Vorstößen, die darauf abzielen, Kiew zu isolieren und zu besetzen: von der Halbinsel Krim, von Weißrussland und von Wolgograd aus. Gemeinsam würden russische Verbände Kiew umzingeln und einen großen Teil der Ukraine durchqueren, was den Russen maximale Möglichkeiten für eine kostengünstige Befriedung bieten würde.

Drei große Probleme

Bei dieser Strategie gibt es aber drei Probleme. Das erste Problem ist logistischer Natur: Diese Kräfte mit mehreren Divisionen würden in hochintensive Manöver und Gefechte verwickelt sein. Alle drei Divisionen müssten versorgt werden und würden bei der Annäherung an Kiew eine kreisförmige Formation einnehmen. Da davon auszugehen ist, dass die Gefechte mit abnehmender Bewegung zunehmen, würden in der ersten Phase große Mengen an Erdöl, Öl und Schmiermitteln benötigt. Die zweite Phase würde große Mengen an Munition aller Art erfordern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es zu unkoordinierten Pausen beim Vormarsch käme und die russischen Flanken offen blieben.

Das zweite Problem besteht darin, dass ein komplizierter Mehrfrontenkrieg entstünde, der von unerfahrenen Truppen geführt werden müsste. Die Russen haben seit dem Zweiten Weltkrieg keine derartige Mehrfrontenschlacht mehr geführt. Ihr Militär ist kompetent, aber keiner ihrer Befehlshaber hat diese Art von Schlacht je befehligt. Kriegsspiele und Manöver sind sicherlich wichtig, aber eine unerprobte Truppe, die zum ersten Mal unter Beschuss steht, braucht eine sehr ausgefeilte Kommandostruktur. Die Russen dürften kaum wissen, ob sie eine solche haben – bis sie es ausprobieren.

Das dritte Problem sind die Amerikaner, die wahrscheinlich nicht versuchen werden, den Vormarsch mit ihren eigenen Truppen abzublocken. Die Zeit drängt, aber einem Feind Reibungsverluste aufzuerlegen, ist an sich schon wertvoll. Die USA sind in der Lage, zum Beispiel polnische Truppen zu transportieren, um diese Reibung zu erzeugen (vorausgesetzt, die Polen sind dazu bereit). Würden sie jedoch ihre eigenen Truppen entsenden, würden sie Russland in einen vollumfänglichen Kampf zwingen – und das zu einem Zeitpunkt, auf den es nicht vorbereitet ist.

Die wichtigste Bedrohung durch die Amerikaner wären jedoch die Luft- und Raketenstreitkräfte. Ihre Ziele wären die logistischen Knotenpunkte. In der gepanzerten Kriegsführung, die anscheinend geplant ist, ist die Zerstörung von Erdöl, Öl und Schmiermitteln sowie von Munition gleichbedeutend mit der Zerstörung von Panzern. Die Russen müssten dem zuvorkommen, indem sie US-Luft- und Raketenanlagen ausschalten, und zwar höchstwahrscheinlich in globalem Maßstab. Dadurch würde der Krieg zum Weltkrieg eskalieren, und in dieser Situation würde das Risiko für Russland enorm steigen.

Die Vereinigten Staaten anerkennen die russische Bedrohung – oder wollen zumindest, dass Russland glaubt, man habe sie erkannt. Die Äußerungen von US-Präsident Joe Biden zu diesem Thema lassen ein Ausmaß an Besorgnis erkennen, das auf ein Eingreifen der Vereinigten Staaten im Falle eines russischen Angriffs schließen lässt. Zumindest müssen die Russen diese Möglichkeit in ihre Kriegsplanung einbeziehen. Die militärischen und politischen Auswirkungen einer amerikanischen Intervention verringern wiederum die Dringlichkeit, die Ukraine als Pufferzone zu beanspruchen.

Antesten als sowjetische Routine

Natürlich ist die Drohung mit einer Invasion nicht der einzige Aspekt bei dieser Strategie. Wenn Russland beabsichtigt, die Ukraine zu besetzen, wird irgendeine Variante notwendig sein. Eine Invasion könnte aber auch einfach darin bestehen, ein Stück der Ukraine im Osten oder Norden einzunehmen. Die USA, die einen Krieg in dieser Region vermeiden wollen, falls das Bedrohungspotential überschaubar bleibt, würden wahrscheinlich nur mit Sanktionen reagieren. Russland kann das offenbar verkraften, denn es droht mit weiterem Vordringen, ohne eine echte Einnahme in Aussicht zu stellen. Dies ändert die politische Dynamik, wenn Europa (das nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen) sich entscheidet, Russland entgegenzukommen.

Allerdings könnte die ganze Drohung auch nur ein Versuch sein, Bidens Entschlossenheit zu testen. Während des Kalten Krieges gehörte das „Testen“ eines neuen US-Präsidenten zur sowjetischen Routine. Ein solcher Test könnte als risikoarmes und lukratives Unterfangen angesehen werden.

Tatsächlich gibt es viele Gegenargumente zu meiner Ansicht, dass eine vollständige Invasion in der Ukraine zu komplex und zu riskant ist, um sie zu unternehmen. Die Russen können sich in der gegenwärtigen geopolitischen Realität keine Niederlage leisten bei ihrem Versuch, die Ukraine zu sichern. Sie stehen nicht unter Zeitdruck – es sei denn, Putin, der unbedingt die ehemaligen sowjetischen Grenzverläufe wiederherstellen will, sieht jetzt einen günstigen Moment und ist bereit, um des Ruhmes willen ein Risiko einzugehen. Allerdings sind KGB-Männer wie Putin zur Vorsicht erzogen worden. 

Kurzum: Ich wette, dass es sich beim gegenwärtigen Angriffsszenario um einen Bluff handelt. Mein ganzes Haus würde ich aber nicht darauf verwetten.

In Kooperation mit

Anzeige